Schweitzer Fachinformationen
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Dienstag, 18. Oktober 1960
Betty sitzt im Bett und tippt mit ihren Zeigefingern abwechselnd die Tasten der . Neben ihr auf der Decke liegt das Silbertablett mit dem Frühstück. Die Buchstaben schlagen dumpf auf die Walze. Tock, tock-tock. «Omami und ihr Adlersystem», hört sie in Gedanken ihre Enkelinnen und schmunzelt.
Oft tätigt Betty Anrufe bereits vor dem Aufstehen und jeden Tag schreibt sie Briefe, mit der Maschine oder von Hand, im Bett oder am Sekretär im Fumoir; jedes Jahr über dreihundert Weihnachtskarten. Betty formuliert gerne in Reimen, bisweilen kreiert sie noch immer Gedichte.
Die Flammen im Kamin züngeln in die Höhe. Die Typenhebel hämmern rhythmisch, sie schiebt den Wagen am Zeilenende wieder nach links. Zwischendurch hört sie ihre Zofe nebenan, wie sie vom Ankleidezimmer ins Bad und wieder zurück geht.
Im Peristyl wartet Betty auf Max, ihren Chauffeur und Gutsverwalter. Sie hört ihn den Topolino aus der Garage und durch den separaten Zugang auf die Straße fahren. Gleich darauf beobachtet sie, wie er den Wagen in den Ehrenhof einlenkt und vor ihr parkt. Mit gewohnt süffisantem Grinsen, das in seinen Augen zum Gruß aufblitzt, steigt er aus und hält ihr die Tür auf.
«Scrumpi, viens», ruft Betty und setzt sich auf den Fahrerplatz. «Merci.»
Als Max den Wagenschlag zugestoßen hat, steuert Betty das Auto auf die Straße. Sie klopft mit den Fingerkuppen im Rhythmus der Hits aus dem Radiolautsprecher aufs Lenkrad. Connie Francis singt , Brian Hyland trällert , während sie dem See entlangfährt.
Vergnügt summt sie ihrem Treffen entgegen. Seit den Vorkriegsjahren teilt sie dann und wann Stunden mit Kostia. Der Grieche, der wie andere Freundinnen und Freunde in der Diaspora in Paris lebt, heißt mit vollem Namen Constantine George Anthony Dimitros Vlastos. Sein Vater präsidierte einst die Bank von Konstantinopel.
Zügig kurvt sie durchs Kandertal. Die Bäume im bunten Herbstkleid ziehen an ihr vorbei, auf den Bergspitzen liegt bereits der erste Schnee. Auf der Höhe des Blausees biegt sie rechts in den Parkplatz des Ausflugsortes ein.
Über knorrige Wurzeln hinweg schreitet sie neben Scrumpi durch den Wald bis zum Bergsee. Als sie zwischen den Bäumen auf die Lichtung tritt, sieht sie Kostia auf der Terrasse des Restaurants stehen.
Sofort winkt er ihr zu.
Sie spürt seinen Blick auf sich, steigt die Treppe nach oben und bleibt vor ihm stehen. Für eine magische Sekunde treffen sich ihre Augen. Doch seine vertraute Nähe lässt sie heute erstarren.
«Bonjour, quelle beauté!», raunt er ihr entgegen.
Ein voller Schnurrbart, weiß und grau, Schalk in den Augen, genau so, wie damals, als er sie vor 22 Jahren zum ersten Mal in der Campagne aufsuchte. Da war er 55 und hatte acht Jahre zuvor in Lausanne Ludmilla, eine baltische Russin, geheiratet. Die beiden reisten regelmäßig, und er brauchte in Nazizeiten Beratung. Kostia wusste um ihr Netzwerk in diplomatischen Kreisen. Er traf sich bei ihr im mit Paul Baechtold, damals Leiter der Eidgenössischen Fremdenpolizei, dessen Frau Colette und anderen Gästen, die ebenfalls nützliche Kontakte benötigten.
Kostia zupft sie am Arm. «Schön hier! Und wir sind ungestört.» Er zwinkert ihr zu, als würde er kein Alter kennen.
Sie ignoriert seine Anspielung. «Wie geht es dir?»
«Ich bin ein Greis und träume jede Nacht von dir und meinen starken Zeiten.»
Sie quittiert die Annäherung mit einem Schritt zurück. «Erinnerst du dich an Jacquette Hamilton, die sich gleichzeitig mit dir damals bei mir aufhielt? Die Schwedin, Quettan war ihr Übername. Ihr Mann ist der italienische Diplomat Bartolomeo Migone.»
Er nickt, hält ihr den Stuhl hin und setzt sich auch an den Tisch.
Schweigend studieren sie die Speisekarten.
Als der Kellner herantritt, bestellt Betty ein Glas Champagner und eine kleine Forelle aus dem Blausee mit Toastbrot.
Still lässt sie ihren Blick über den See wandern, bis sie Kostia antwortet. «Wie könnte ich den gemeinsamen Besuch des Concours hippique im heißen Sommer vor dem Krieg vergessen.»
Er nickt. «Du hattest viele Leute, oft US-Offiziere und Diplomaten, eingeladen.»
Sie überlegt lange. Dann sagt sie: «Quettan besucht mich fast jeden Sommer und schwärmt noch heute von dir.» Sie kräuselt die Lippen, als sie ihm über die neusten Erkenntnisse informiert: «Sie hat übrigens dabei geholfen, dass es nach einem Zusammenstoß 1956 vor New York zwischen einem italienischen und einem schwedischen Passagierschiff - der und der - zur außergerichtlichen Einigung kam.»
«Oui, ich habe davon gelesen. Frauen ziehen immer mehr die Fäden.»
Wie zwei alte Freunde, die sich alles und doch nichts gesagt haben oder einander nichts mehr sagen wollen, essen sie. Betty nippt am Glas und schaut zwei jungen Veliebten zu, die händehaltend dem See entlang schlendern.
Nach einer Weile schiebt sie den Teller von sich weg. « Es wird langsam Zeit.» Als Kostia gedanklich abwesend bleibt, fordert sie seine Aufmerksamkeit. «Du weißt, jetzt ersetzen auf dieser Distanz Flugzeuge die Schiffe.»
Er verzieht den Mund. «Oh, die alten Zeiten. Weißt du noch, wie ich, der im Ersten Weltkrieg ein griechischer Pilot und Korrespondent von war, mit dem französischen Pass Heißluftballon flog? Tja, auch ich werde alt, chère Betty.»
«So ist das Leben, cher Kostia.»
Sie schaut ein letztes Mal über den Blausee und steht auf. «Folgst du meiner Einladung zum griechischen Abend heute?»
«Oui, naturellement!»
«Du wirst dich heimisch fühlen - mit Ouzo und gefüllten Weinblättern, jedoch ohne Knoblauch.»
Kostia grinst Betty zu, nimmt einen Schluck und packt sein Zigarettenpäckchen. «Wie immer: Es wird perfekt sein bei dir. Kenne ich die anderen Gäste?»
«Sie teilen sich eine Verbindung zu deinem Ursprungsland. Daniel Gagnebin, bis eben noch Gesandtschaftssekretär in der Schweizer Botschaft in Athen, und der Kunstsammler Jürg Stuker.»
«Jürg Stuker?»
«Monsieur Stuker ist der Stiefsohn von Baron Robert de Stuker, der einst Prinzenerzieher am griechischen Hof war. Er verkauft Kunstwerke.»
Er schüttelt den Kopf.
«Jürg Stuker hat mit seinem Erbe 1938 in Thun ein Antiquariat eröffnet und ist mit diesem später nach Bern gezogen. Das Stuker-Auktionshaus kennst du doch!»
Auf dem unebenen Weg zurück zum Parkplatz grübelt Betty über Kostias Furchengesicht nach. Hinter seinem spitzbübischen Lächeln sah sie einen müden Mann. Wie bei Rudolf, wie früher bei Vater. Die Erinnerung an ihn weckt in ihr eine unerwartete Sehnsucht nach ihm und seinen jüdischen Bräuchen und Freunden in der Synagoge in Brüssel.
Eine Kindheit mit jüdischen Wurzeln
Bettys Vater stand zwar als Präsident dem repräsentativen Organ der Juden, dem Israelitischen Zentralkonsistorium von Belgien als jüdischer Dachorganisation des Landes, und der jüdischen Gemeinde in Brüssel vor, trug einen Bart und legte Wert auf jüdische Traditionen. Doch nie hätte Léon Lambert ausschließlich koscher essen wollen, sich gar ultraorthodoxe Schläfenlocken wachsen lassen oder stets die Kippa getragen. Die belgischen Juden, insbesondere in Brüssel, wie die Rothschild-Familie ihrer Mutter Lucie in Paris, galten als tolerant und offen, auch gegenüber Nicht-Juden.
Das Judentum war seit der Gründung des Königreichs Belgien 1830 eine anerkannte Religionsgemeinschaft. In Brüssel hatten sich sechs jüdische Gemeinden gebildet, und diejenige in Antwerpen entwickelte sich gar zu einer der größten jüdischen Gemeinden Europas. Die Grande Synagogue an der Rue de la Régence in Brüssel war ein wichtiges Zentrum der reformierten liberalen Gemeinde. Das prunkvolle Gebäude inmitten der Stadt war 1878 erbaut und von Bettys Eltern mitfinanziert worden.
Trotz allem hatte sich Betty der gebieterischen Erziehung hochadliger Kreise unterzuordnen genauso wie jener der Rothschild'schen und jüdischen. Die Familie fastete an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, aß an Feiern koscher und zelebrierte weitere hohe Feiertage. Dazu gehörte Rosch Haschana, das jüdische Neujahr, oder das Fest Pessach, welches an den Auszug aus Ägypten und die Befreiung aus der Sklaverei erinnern sollte. Ihre jüdische Identität erfüllte Betty mit Stolz, doch sie legte nie Wert auf religiöse Bräuche. Zudem war sie Gruppierungen und Glaubensgemeinschaften abgeneigt. Zu sehr erlebte sie innerhalb ihrer Familie diese Traditionen als...
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