Der Erste
Da war nichts Ungewöhnliches beim Blick in den Spiegel. Anfangs. Ein wenig Schlaf in den Augenwinkeln, die rötlichen Haare wie jeden Morgen kaum zu bändigen, ein paar Sommersprossen auf der Nase. Nichts deutete darauf hin, dass sich von nun an alles ändern würde. Früher hatte er sich seiner irisch-chinesischen Wurzeln geschämt. John Zhu! Promenadenmischung! Schlitzauge! Tomatenschopf! Mehr als ein Mal war er heulend nach Hause gerannt, wenn ihn die anderen Kinder gehänselt hatten. Die Erinnerung daran schien ein ganzes Leben zurückzuliegen.
Erst als er den Rasierer ansetzte, entdeckte er die drei konfettigroßen Flecken am Hals. Wobei Flecken nicht der richtige Ausdruck zu sein schien. Das Ganze sah eher nach einer Abwesenheit aus. Drei winzige Bestandteile seines Körpers waren einfach nicht mehr vorhanden. Als hätte sie jemand ausgestanzt und eine merkwürdige Leere zurückgelassen. Ein Fehlen von etwas. Keine Wunde, keine Haut, einfach - nichts. Er war sicher, dass die Stellen am Abend zuvor noch nicht dagewesen waren . weggewesen waren? Er hätte sie beim Zähneputzen bemerkt.
Stirnrunzelnd ließ John den Rasierer sinken und berührte die Stellen mit den Fingerspitzen. Sie fühlten sich an wie gewöhnliche Haut, weder erhaben noch schmerzhaft. Er drückte auf eine von ihnen und ließ wieder los; als das Blut zurückfloss, verschwand der konfettigroße Punkt. Für einen Moment trat auf der Stelle eine leichte Rötung ein, und er war wieder vollständig. Erleichtert atmete er auf. Doch als sich der Blutstrom normalisierte, kam das kreisrunde Stück Nichts wieder zum Vorschein. Vielleicht ein dermatologisches Problem, eine Art Pigmentstörung? Aber er hatte noch nie von einer Hauterkrankung gehört, bei der die befallenen Stellen einfach verschwanden, unsichtbar wurden. Vielleicht war er der Erste, der sie entwickelt hatte? Ein Gedanke, der ihn beunruhigte.
Er sah auf die Uhr und bemerkte, dass er Gefahr lief, zu spät zur Arbeit zu kommen. Er war froh über seinen Job, auch wenn es eine unterfordernde und schlecht bezahlte Tätigkeit war. Früher hatte er studiert, hatte gelernt, Computerprogramme zu entwickeln, komplizierte Algorithmen zu schreiben, Datenstrukturen zu erstellen. Jetzt war er damit beschäftigt, banale Webseiten zu pflegen, Dinge, die im Zweifelsfall ein mittelmäßig begabter Vierzehnjähriger bewerkstelligen konnte. Aber in seiner Situation konnte man nicht wählerisch sein. Statt eines T-Shirts nahm er ein Hemd aus dem Schrank, damit der Kragen die Stellen überdeckte.
Sein Freund und er waren erst vor wenigen Wochen in die neue Stadt geflohen, gerade außerhalb des Einflusses von Elysium. Er wusste nicht, wie es sein Freund bewerkstelligt hatte, ihn dort herauszuholen, was er dafür hatte tun müssen, und er wollte es auch nicht wissen. Stopp. Natürlich wusste er es, er wollte nur nicht darüber nachdenken. Noch immer betäubt vor Entsetzen wollte John eigentlich gar nicht mehr an das Vergangene erinnert werden. Es hatte lange genug gedauert, bis die Verletzungen geheilt waren. Die Panikattacken würden ihn wohl für den Rest seines Lebens begleiten. Genauso wie die Furcht, die ihm die Brust zuschnürte, wenn er schnelle Schritte hinter sich hörte.
Schwindelig vor Angst und Erleichterung hatten sie die Grenze passiert, später Jobs gefunden, eine Wohnung bezogen - eigentlich zu klein für sie beide, aber sie waren froh, dass man ihnen überhaupt etwas zugewiesen hatte. Der Strom der Menschen, die vor dem Letzten Gesandten und dessen Schergen aus Elysium flohen, schwoll stetig an. Es gab Berichte über Hausdurchsuchungen, Verschleppungen, über willkürliche Verhaftungen und tödliche Unfälle. Noch nahm das Nachbarland im Süden Asylsuchende auf, zähneknirschend und mit einer gewissen Schadenfreude, aber die Diskussionen nahmen zu.
Die Straßen der neuen Stadt waren ungewohnt; schon mehrmals hatte sich John auf dem Weg zur Arbeit verirrt. Gerade noch rechtzeitig kam er ins Büro, in dem die Hitze des Sommers mit Ventilatoren und einer scheppernden Klimaanlage bekämpft wurde. Unter all den fremden Menschen fühlte er sich einsam, gestrandet, wie ein Schiffbrüchiger, der im letzten Moment das rettende Ufer erreicht hatte. Die Charaktere der Kollegen waren noch nicht abschließend beurteilt, ein Freundeskreis noch nicht aufgebaut. Ihn verunsicherten die Blicke, die er aus den Augenwinkeln wahrnahm, das Getuschel, das abrupt verstummte, sobald er in Hörweite kam. Seinem Freund fiel die Umstellung leichter, er war extrovertierter, vielleicht kam ihm auch sein hispanisches Erbe zugute. Er stürzte sich in das neue Leben mit einer Verbissenheit, als hätte er etwas gutzumachen, organisierte Protestmärsche und Demonstrationen, unterschrieb Petitionen, koordinierte Boykottmaßnahmen. John dagegen wollte nur in Ruhe gelassen werden. Er vermisste seine Trompete. Wie so viele andere Dinge hatte er sie zurücklassen müssen.
Tagsüber vergaß John die Flecken, beantwortete die Post, nahm an einem Meeting teil, verbrachte die Mittagspause in einem kleinen Restaurant bei einem Teller chiles en nogada mit einem Kollegen, der vom Besuch des Fußballspiels Monterrey gegen América am Wochenende erzählte. John lächelte an den richtigen Stellen und nickte seine Zustimmung, obwohl er sich noch nie für Fußball interessiert hatte. Am späten Nachmittag kaufte er in einem Supermarkt Fleisch und Gemüse, weil er seinem Freund versprochen hatte, am Abend zu kochen. Sie öffneten eine Flasche Wein, redeten über die Anschaffung eines Bettes anstelle der Matratzen, die ihnen gespendet worden waren, und wuschen nach dem Essen das Geschirr mit der Hand ab. Zu Hause hatte er die Spülmaschine im Studentenwohnheim nutzen können, hatte einen Flachbildschirm besessen, all die Annehmlichkeiten, die man erst zu schätzen weiß, wenn man sie aufgeben muss. Jetzt besaßen sie nicht einmal mehr ihr Zuhause.
"Wir sind mit dem Leben davongekommen", rief ihm sein Freund ins Gedächtnis.
"Wir?", erwiderte John. "Ich. Ich bin mit dem Leben davongekommen. Dein Überleben stand niemals infrage." In letzter Zeit hatte er immer öfter das Bedürfnis, seinen Freund zu verletzen.
"Wir haben uns", murmelte sein Freund. "Wir sollten dankbar sein." Aber John empfand keine Dankbarkeit.
Erst als er wieder vor dem Spiegel im Badezimmer stand, erinnerte er sich an die merkwürdigen Stellen an seinem Hals und schlug den Kragen zurück. Die drei Flecken waren zu einem großen verschmolzen, er war auch nicht mehr kreisrund, sondern hatte eine amöbenartige Form angenommen. John schloss die Tür ab, zog sich vor dem Spiegel aus und kontrollierte den Rest seines Körpers. Da war eine Stelle, wo vorher sein linker Fußknöchel gewesen war, und eine an seiner Hüfte, so groß wie ein Taschentuch. Wieder drückte er die Stellen mit dem Finger ein, wieder wurden sie einen Augenblick lang durch die Rötung der betroffenen Haut sichtbar, und wieder verschwanden sie, sobald sich der Blutfluss normalisiert hatte. Er fühlte, wie sein Herz schneller schlug. Als er ins Schlafzimmer ging, schaltete er das Licht aus, bevor er sich auszog und auf die Matratze legte, damit sein Freund sein Verschwinden nicht bemerkte. Am nächsten Morgen versteckte er seinen Hals unter einem Rollkragenpullover, obwohl draußen die Sonne schien, und als ihn seine Arbeitskollegen darauf ansprachen, entschuldigte er den Rollkragen mit Halsschmerzen: "Tengo resfriado." Die schmunzelnden Gesichter verstand er nicht, bis ihn jemand berichtigte: "Estoy resfriado."
In den nächsten Wochen kamen immer mehr Stellen hinzu: am linken Oberschenkel, an der Wirbelsäule, unter dem rechten Fußballen. Er bemerkte, dass sich das Nichts wie ein Geschwür ausbreitete, sobald es an einer Stelle seines Körpers aufgetaucht war, dass es sich zu größeren Inseln des Verschwindens zusammenschloss. Er fragte sich, ob er an einer seltenen Krankheit litt, aber er fühlte sich nicht krank, litt weder unter Fieber noch Erschöpfung. Er wurde nur jeden Tag ein Stück weniger, als hätte er die befallenen Teile seines Körpers wie ein Paar Handschuhe irgendwo versehentlich liegenlassen, als wären sie ihm einfach abhandengekommen. Im Büro konnte er sich kaum noch auf seine Arbeit konzentrieren, dachte nur noch über seine Abwesenheit, die verschwundenen Teile seines Körpers nach. Mehrmals am Tag lief er zur Toilette, schloss sich in einer Kabine ein und überprüfte seine Flecken.
Aus Angst, jemand könnte ihn darauf ansprechen, ging er nicht mehr zum Sport und trug nur noch lange Hosen und Hemden mit langen Ärmeln, auch in seiner Freizeit. Zum Schlafen streifte er Socken über. Sein Freund zog ihn damit auf, hielt sein ungewöhnliches Verhalten für einen neuen Spleen. Er fragte: "Ist dir nicht zu warm?", und John antwortete mit einem unwirschen Gesichtsausdruck: "Es geht mir gut", obwohl er sich furchtbar fühlte. Er kämpfte mit sich, ob er seinem Freund die Wahrheit sagen sollte, aber er konnte sich nicht dazu überwinden. Er hatte Angst, dass er ihn verlassen würde, vielleicht würde er den Kopf schütteln und grußlos die Tür hinter sich zuziehen. Wer wollte schon einen unvollständigen, lückenhaften Mann an seiner Seite? Außerdem hoffte er noch immer, entgegen allem Anschein, dass diese Flecken des Nicht-Vorhandenseins ihrerseits genauso überraschend verschwinden würden, wie sie gekommen waren. Dass er eines Tages plötzlich wieder...