Schweitzer Fachinformationen
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Mütterchen war höchstens zwölf, als sie mit dem Rauchen anfing, wahrscheinlich sogar jünger, und sie klaute auch keine einzelnen Zigaretten aus den herumliegenden Schachteln ihrer Eltern, wie ich es als Teenager getan hatte, sie klaute die Kippen gleich stangenweise.
Ihre Mutter Marie war eine von vier Millionen »Kriegerfrauen« im Deutschen Reich gewesen, die eine staatliche Stütze bekamen, solange ihre Männer an der Front waren. Mit einem Kind erhielt eine Kriegerfrau je nach Region, in der sie lebte, Zuschüsse von zusammengerechnet etwa 45 Mark. Männer verdienten in Friedenszeiten aber pro Monat mindestens 120 Mark. Marie und Mütterchen verfügten zwischen 1915, als der Vater Max eingezogen wurde, und 1921, als er aus der französischen Kriegsgefangenschaft wieder nach Hause kam, also über lediglich ein Drittel dessen, was sie sonst zum Leben hatten. Das Geld reichte vorn und hinten nicht. Deshalb beschloss die kluge Marie, »in Vaters guter Stube« einen Tabakladen zu eröffnen - er sei ja nicht da gewesen und habe das Zimmer eh nicht nutzen können, meinte meine Großmutter. Sie selbst musste helfen, die Zigarettenlieferungen vom Grossisten abzuholen.
»Na ja«, sagte Mütterchen, »was soll sein. Da hab ich eben mal eine probiert.«
Zigaretten zu rauchen galt damals noch nicht als gesundheitsschädigend, im Vergleich zu den bislang üblichen Pfeifen und Zigarren sogar als geradezu verantwortungsbewusst. Außerdem war es billig und betäubte den Hunger in Zeiten des Krieges. Und nachdem Asta Nielsen 1912 rauchend in einem Film zu sehen gewesen war, galt die Zigarette auch als wichtiges Insignium der Neuen Frau: selbständig, mondän, weltoffen und ein bisschen unanständig. Insofern ein Pflichtaccessoire für meine Großmutter, die schon damals, als ganz junges Mädchen, nur den einen Wunsch hatte: Sie wollte Schauspielerin werden.
Mit sechzig hörte Mütterchen auf zu rauchen, nachdem ein Arzt ihr gesagt hatte, es sei ungesund. Bei der Familienfeier zu ihrem neunzigsten Geburtstag allerdings griff sie plötzlich wie selbstverständlich nach dem roten Päckchen, das vor mir auf dem Tisch lag.
»Wem gehören denn die Kippen hier?«, fragte sie und schüttelte prüfend die Schachtel. Ein paar Zigaretten waren noch drin.
»Das sind meine«, sagte ich. »Warum?«
»Aha«, sagte Mütterchen, »dann nehme ich mir mal eine.«
»Omi!«, rief ich. »Bist du sicher? Seit wann rauchst du denn wieder?«
»Wieso wieder? Ich habe immer geraucht.«
»Echt?« Ich war ehrlich erstaunt. Andererseits traute ich meiner Großmutter so einiges zu, deshalb ließ ich sie gewähren und wollte ihr gerade Feuer geben, als die Stimme meiner Tante über den Tisch schallte: »Was macht ihr denn da?«
»Mütterchen will eine rauchen«, sagte ich.
»Kinder, nun habt euch mal nicht so!«, rief meine Oma genervt. »Zu Hause habe ich immer Zigaretten!«
Ich nickte meiner Tante triumphierend zu.
»Aber Mütterchen«, schaltete sich meine Mutter ein. »Das stimmt doch gar nicht. Du hast vor dreißig Jahren mit dem Rauchen aufgehört!«
Mütterchen sah ihre Tochter an, dann sah sie ihre Enkelin an, dann die Zigarette, dann die andere Tochter. Schließlich fing sie an zu kichern und sagte: »Ach ja. Hatte ich vergessen.«
*
Ich habe in der Lungenklinik im Alten Krankenhaus mit dem Rauchen aufgehört, obwohl - das möchte ich ausdrücklich betonen - meine Erkrankung nichts damit zu tun hatte, das wurde nachgewiesen. Ich war nie eine von denen, die ständig ein schlechtes Gewissen haben und bei jeder Zigarette, die sie anzünden, verkünden: »Das ist jetzt aber wirklich die letzte!«
Doch in meiner stetigen körperlichen Erschöpfung und mit dem Verdacht auf Lungenkrebs verlor ich jegliche Lust auf Zigaretten. Dabei habe ich wirklich gern geraucht - und konsequent Kette, seit ich siebzehn war.
Das Alte Krankenhaus ist eine über hundertjährige Anlage freundlicher Backsteinbauten, umgeben von großzügigen Grünflächen mit Bäumen mittendrin. Im Januar 2011, als ich dort mit Verdacht auf Lungenkrebs eingeliefert wurde, waren die Bäume kahl und die Wiesen verschneit, still lagen die Backsteinbauten da, die Luft war kalt und schneidend klar. Am Rande des Geländes stand ein verfallenes Pförtnerhäuschen. Ich stellte mir vor, Paul und ich seien ein Graf und eine Gräfin, die Gräfin sei schwindsüchtig und deshalb zum Kuraufenthalt im Sanatorium.
»Denkst du, ich sollte noch mal versuchen, den Zauberberg zu lesen?«, fragte ich Paul auf einem unserer Spaziergänge. Es war so schön, seine Hand in meiner zu spüren. Es war so schön, neben ihm herzulaufen. Es war so normal.
»Mach doch«, sagte Paul, »vielleicht lenkt dich das ab.«
Eine Frau kreuzte unseren Weg. Sie schob einen Rollstuhl vor sich her, in dem ein Mensch saß, der buchstäblich nur aus Haut und Knochen bestand. Selbst durch die gefütterte Winterjacke zeichneten sich seine Schulterblätter ab. Der Rollstuhl war nicht groß, aber der Mensch hätte locker zweimal hineingepasst. Über seinen Knien lag eine Wolldecke gegen die Kälte, die Beine darunter waren so dünn, dass sie zusammen als eines hätten durchgehen können. Am gruseligsten jedoch war der Anblick seines Gesichts. Edvard Munch, dachte ich, oder Auschwitz.
Paul zog mich fort. Am nächsten Tag brachte er das Buch mit.
Sprechen Sie mir nicht von »Vergeistigung«, die durch Krankheit hervorgebracht werden kann, um Gottes willen, tun Sie es nicht!, schrieb Thomas Mann. Eine Seele ohne Körper ist so unmenschlich und entsetzlich wie ein Körper ohne Seele, und übrigens ist das erstere die seltene Ausnahme und das zweite die Regel. In der Regel ist es der Körper, der überwuchert, der alle Wichtigkeit, alles Leben an sich reißt und sich aufs widerwärtigste emanzipiert. Ein Mensch, der als Kranker lebt, ist nur Körper, das ist das Widermenschliche und Erniedrigende - er ist in den meisten Fällen nichts Besseres als ein Kadaver .
Ich legte ihn schnell wieder beiseite, den Thomas Mann. Ich konnte mich ohnehin nicht konzentrieren. Mechanisch griff ich nach dem Minicomputer auf meinem Nachttisch, den ich mir kurz zuvor gekauft hatte, um die Zeit im Krankenhaus zum Arbeiten zu nutzen. Um Geschichten zu schreiben, Mütterchens Geschichten aufzuschreiben. Stattdessen spielte ich nun Tetris, stapelte virtuelle Klötzchen und sortierte Karten. Es beruhigte mich. Es gab mir ein Gefühl von Kontrolle, und es erinnerte mich an meine Kindheit.
Mütterchen war nach der Wende die Einzige gewesen, bei der ich Gameboy mit eingeschaltetem Ton spielen durfte. Meine Mutter sagte, das Gepiepse mache sie wahnsinnig. Mütterchen hingegen war so taub, dass sie das Piepsen gar nicht hörte. Das war ein weiterer der vielen Vorteile, bei Mütterchen zu übernachten - neben Eierkuchen bis zum Atemstillstand und Fernsehgucken bis Sendeschluss: Tetris mit Musik.
Mit mir im Krankenzimmer lag eine alte Dame, Frau Zierlaub, die ebenfalls schon ziemlich taub war.
»Tach, Zierlaub heiß ick«, sagte sie bei unserer ersten Begegnung.
»Tach, Streisand«, antwortete ich.
»Wie? Kaiser?«, brüllte Frau Zierlaub.
»Nee, Streisand«, rief ich.
»Na, sag ick ja, Kaiser«, schnaubte Frau Zierlaub, und dabei blieb es. Sie war dreiundachtzig Jahre alt, sah aus wie dreiundsechzig, war Friseurhelferin gewesen und hatte vier Kinder großgezogen. »Ick hab mich immer alleine frisiert«, sagte sie stolz zwischen schlimmen Hustenanfällen, die ihr ganzes Bett erbeben ließen. »Wissen Sie denn, wie ditt jetz hier weitergeht, Frau Kaiser?«, fragte sie mich, während sie an ihrer blondgefärbten Ponyfrisur herumnestelte.
Ich hatte keine Ahnung. Wir waren beide Krankenhausneulinge, und keiner von den Schwestern, Pflegern oder Ärzten hatte die Zeit, uns irgendetwas zu erklären. Frau Zierlaub fand das nicht so schlimm. Sie gehörte einer Generation von Patientinnen an, für die Ärzte Halbgötter in Weiß waren.
»Machen Se ma, Herr Dokter!«, sagte Frau Zierlaub. »Sie wern schon wissen, watt zu tun ist.«
Ich beneidete die alte Dame um ihr Gottvertrauen. Meine beste Freundin arbeitete als Ärztin, ich wusste, es war nur ein Beruf wie alle anderen.
Frau Zierlaub und mir wurde das Blut literweise abgenommen. Immer wieder das blaue Band um den Oberarm, das kratzende Wischen der mit Alkohol getränkten Watte über die dünne Haut in der Armbeuge, der suchende Blick der Schwester, das Klopfen auf die Vene, Nadeln und Röhrchen vorbereiten, noch mal die Armbeuge desinfizieren, Nadel waagerecht an der Haut ansetzen, zielen, stechen. Wenn sie gut waren, trafen sie gleich, ansonsten konnte es schmerzhaft werden.
»Bald ist keen Blut mehr drinne«, sagte Frau Zierlaub.
Am dritten Tag wurde jeder von uns ein kleiner Gummischlauch in die Vene geschoben, der sollte nun drinbleiben. Auf der Haut darüber wurde ein kleiner Plastikkasten befestigt, ungefähr so groß wie ein Legostein. Das war der »Zugang«. Ich stellte mir vor, wie ein Team von winzig kleinen Ärzten und Entdeckern durch den Zugang in meinen Körper marschierte, um ihn zu erforschen, zu begutachten, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Vielleicht fanden sie wertvolle Erze oder unbekannte Lebensformen.
Der Blick aus unserem Fenster ging auf den Innenhof des Krankenhauses. Die Lungenklinik war einer von zwei identischen einander gegenüberliegenden Gebäudekomplexen, die eine eckige Klammer um eine von Kieswegen durchzogene Rasenfläche bildeten, in deren Zentrum die »Cafeteria« stand. Die Cafeteria war eigentlich nur ein stinknormaler Kiosk, wo man...
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