Schweitzer Fachinformationen
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Lea Streisand
In dem Advent, als mir nicht weihnachtlich werden wollte, bin ich in die Synagoge gegangen. Das erste Mal seit vierzig Jahren ungefähr. Ich wusste gerade noch, wie man das Gebetsbuch hält, aus meinen zwei Semestern Judaistikstudium ein halbes Leben zuvor.
Ich hatte nie verstanden, was Israel mit mir zu tun haben soll. Die Geschwister meines Urgroßvaters hießen Wilhelm, Margarete und Bianka, echte Berliner laut Kurt Tucholsky: »Der Berliner ist meist aus Posen oder Breslau und hat keine Zeit. Er hat immer etwas vor, er telefoniert und verabredet sich, kommt abgehetzt zu einer Verabredung und etwas zu spät - und hat sehr viel zu tun.«*
Mein Urgroßvater Hugo kam mit Geschwistern und früh verwitweter Mutter um 1900 als Buchhändlerlehrling aus Grätz. Sein Onkel Emil unterhielt eine Druckerei in der Friedrichstraße, schon der Großvater war Bibliothekar gewesen. Hugo war guten Mutes. Das antisemitische »Geschrei der Herren vom >Alldeutschen Verband< brauchte man nicht ernst zu nehmen«.**
Hugo eröffnete ein Antiquariat in Berlin-Charlottenburg, spezialisierte sich auf »wissenschaftlichen Sozialismus«, heiratete seine Angestellte, die Mitglied der Bekennenden Kirche war, und zeugte zwei Kinder, die später die DDR mitaufbauen sollten, nachdem sie - wie er - den NS überlebt hatten, als einzige Streisands in ganz Deutschland. Alle anderen waren emigriert oder ermordet worden.
Hugo schreibt:
»Ein großer Teil meiner jüdischen Verwandten und Bekannten verließ Deutschland sofort bei der >Machtergreifung<. Ich dachte nicht daran. Einmal fühlte ich, dessen Vorfahren seit Generationen um das deutsche Buch verknüpft waren, mit völliger Selbstverständlichkeit als Deutscher und hatte keinesfalls die Absicht, diesen Anspruch gegenüber einer randalierenden Rotte einfach aufzugeben; andererseits erschien mir diese Mischung von Gangster- und Banditentum, wie sie sich beim Reichstagsbrand, im Benehmen der SA, bei den Ereignissen des Juni 1934 zeigte, so untergangsreif und lebensunfähig, dass ich völlig von ihrem schnellen Abwirtschaften überzeugt war. Und so wie ich dachte ein großer Kreis; bei jedem neuen Gewaltakt trösteten wir uns: >Umso schneller geht es mit ihnen zu Ende.< Die folgenden Jahre haben gezeigt, dass die Voraussage an sich nicht falsch war, denn zwölf Jahre sind wohl, historisch gesehen, keine lange Zeit. Unvorstellbar war uns nur das grauenvolle Ergebnis dieser Jahre.«*
Hugo nannte sich selbst »Nicht-Jude«, er sei lediglich »jüdischer Abstammung«. Noch in den Dreißigern ließ er sich und seine Kinder taufen - zur Unbill jener Verwandten, denen Tradition wichtiger war als das eigene Überleben. In der Pogromnacht wurde das Antiquariat Hugo Streisand trotzdem zerstört. Hugo schreibt:
»Inmitten von Glasscherben und Bücherfetzen stellten wir eine notdürftige Ordnung her, und so im Halbdunkel, hinter herabgelassenen Jalousien, fristete ich ein halb verborgenes Dasein.«*
Fast auf den Tag genau 85 Jahre später erlebte ich zum ersten Mal Hass auf der Bühne.
Seit ich Studentin war, mache ich Bühnenliteratur. Seit zehn Jahren bespiele ich eine wöchentliche Kolumne im Radio. Im echten Leben bin ich oft orientierungslos, voller Schuldgefühle. Auf der Bühne aber ist nichts peinlich. Es ist Theater. Radio, sagt man, versendet sich. Ich schreibe immer bis kurz vor dem Auftritt, noch am Veranstaltungsort. Ich ändere Texte während der Tonaufnahme.
Von der Bühne, aus dem Radio stoße ich den Text in die Gegenwart. Morgen wird er von gestern sein.
Als meine Welt kippte, schlief und aß ich wenig, schrieb und las dagegen viel. Das Publikum war berührt, beschämt, verärgert; lachte oder weinte; aber nie hätte ich mit Anfeindungen gerechnet für das Sprechen über Antisemitismus.
Also im Internet, ja. Aber im Theater?
Buh-Rufe, lautes Stöhnen und Zischen hallten aus dem Dunkel des Zuschauerraumes bei Sätzen wie: »Die Geschichte des jüdischen Volkes ist eine seit 2.000 Jahren andauernde Aneinanderreihung von Demütigung, Vertreibung und Mord, die schließlich im Zivilisationsbruch Auschwitz mündete.«
»Schwachsinn!«, rief eine Stimme aus dem Dunkel.
Ich stand auf der Bühne wie angewurzelt, festgewachsen in meiner »jüdischen Abstammung«, als hätte mir jemand die Krone weggepustet. Der Zuschauer ist die wichtigste Person im Theater, der lachende Dritte erst macht eine Geschichte zum Witz. Schreiben ist Sprechen ist Dialog vor dem Spiegel. Woher kam der Hass?
Die Antwort las ich aus den Schriften meines Urgroßvaters. Mit Salven bedeutungsloser Buchstaben hatte er für die Sprache und das Land, die seine Heimat waren, gekämpft, hatte versucht, seine mörderischen Nachbarn in Nachbarn zurückzuverwandeln:
»Wenn man die unmittelbare Schuld gerade an den in den Lagern verübten Gräueln so häufig dem gesamten deutschen Volke zuschiebt und sagt, dass es unmöglich wäre, dass nicht jeder davon gewusst haben müsste .« Ich konnte ihn sich winden sehen zwischen den endlosen Sätzen, über Kommas stolpernd, die schmerzenden Begriffe »Schuld«, »Lager«, »Gräuel«, »Volk« unter Füllwörtern begrabend, das Unfassbare relativierend - die Ermordung seiner Schwestern. Margarete war im Konzentrationslager Chelmno ermordet worden, Bianka war in Theresienstadt an Entkräftung gestorben, zwei Monate nach Kriegsende. Sie hatte schon eine Sitzplatzreservierung für den Zug nach Berlin. Ihre Koffer kamen allein zurück nach Hause.*
Hugo schrieb 1947 siebzigjährig seine Erinnerungen nieder und erwähnte die Schwestern mit keinem Wort. Verdrängung ist Knochenarbeit, die keine Verschnaufpause duldet und von Vater zu Sohn, Mutter zu Tochter vermacht wird. Die Schuld muss verdrängt werden, um Raum zu schaffen für den Spiegel, auf dessen Oberfläche wir unsere Glaubenssätze schreiben. Der Antisemitismus war eine Erfindung von Adolf Hitler und mit ihm ist er gestorben.
Mein Spiegel zerbrach, als die Jugend von heute vor dem Auswärtigen Amt schrie: »Free Palestine from German guilt!«
Seit fünfzehn Jahren war ich in Therapie. Seit die Panikattacken losgingen, wenn ich Menora sah oder Davidsterne. Oder authentische Bilder von Auschwitz. Die Symbole des Judentums waren in meinem Kopf verschmolzen mit den Zeugnissen der versuchten Auslöschung des jüdischen Volkes durch die Nationalsozialisten. Ich schämte mich dafür. Meine Angst kam mir anmaßend vor, eine Marotte, die nichts mit der Realität zu tun hatte. Ich war keine Jüdin. Nicht einmal mein jüdischer Urgroßvater war Jude gewesen, nur deshalb hatte er überlebt. Das Jüdische war der Tod, nichts Lebendiges. Ironische Begrüßungen wie »Schalömchen, Lea!« konnte ich nur gequält belächeln, die Israelbegeisterung von Freunden bewundern. Was die sich trauten!
Fünfzehn Jahre lang war mir erzählt worden, die Bedrohung existiere lediglich in meinem Kopf, ich könne die Angst überwinden, die Scham abstreifen, wenn ich nur wollte. Dabei hatte mein Wille schon meine Gehbehinderung nicht verschwinden lassen, sondern nur meinen Selbsthass genährt. Hass von außen kannte ich nicht.
Meine Mutter sah mich traurig an, als ich ihr von den Rufen erzählte. Sie zuckte die Achseln und sprach: »Wenn du dich so enthüllst .«
Sie kannte den Hass der anderen auf das Jüdische, der sich gegen unsere Körper richten konnte, wenn wir darüber sprachen. Weil das Sprechen unsere Körper zu lebenden Juden machte, jenseits der Shoa, zu Golems der Schuld.
Meine Mutter schwieg und behielt ihre Angst für sich. Schon bei ihrer Einschulung Ende der 1950er in Ost-Berlin hatte sie ihre Mitschüler angesehen mit dem Wissen: Wenn deren Eltern gewonnen hätten, säße ick jetzt nicht hier.
Selbstverständlich erzählte ich die Geschichte im Radio. Das einzige Mittel gegen Sprachlosigkeit ist Weiterschreiben.
Danach gab es ein Gespräch mit den Veranstaltern der Lesung. Alles täte allen wahnsinnig leid, man hätte auch gleich im Team gefragt: »Sind hier Antisemitisten?« Habe sich niemand gemeldet.
In meinem Kopf formierte sich ein Stuhlkreis aus Männern mit gelben »Ungeimpft«-Sternen am Revers. »Hallo, mein Name ist Dieter, ick bin Antisemit«, sagt einer. Alle antworten: »Hallo, Dieter!« Darauf erhebt sich eine jüngere Person mit Kufiya um den Hals: »Ich bin Antisemitista!«
Ich musste mir das Lachen verkneifen.
Es gab Empörung darüber, dass ich »diese Sache« »an die große...
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