Schweitzer Fachinformationen
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Die Welt ist klein geworden in den letzten Jahren seines Lebens. Er humpelt durch die drei Stockwerke des Jugendstilhauses im Zürcher Quartier Hottingen, meist barfuß oder in den Filzpantoffeln mit dem Schweizer Kreuz. Alle Etagen beherbergen Kunst, die Klingelschilder beim Hauseingang haben die Dadaisten auferstehen lassen: Arp, Schwitters und N., ihr Erbe. Das Haus zeigt seine Kunst über sechs Jahrzehnte, aber auch viel anderes, das eine Spannung zu seinem Werk schafft: afrikanische Masken, Werke von Hans Arp, dem deutschen Surrealisten Wols, dem Plakatkünstler Klaus Staeck, Antoni Tàpies, Joseph Beuys, dem Basken Eduardo Chillida und anderen. Die letzten vier waren auch Bewunderer seines Werks.
Gleich beim Eingang in seine Wohnetage hängt das Bild eines deutschen Expressionisten ungerahmt an einem Nagel. »Was sehen Sie darin?«, pflegt er seine Besucher zu fragen und ist überrascht, wenn einer etwas Neues sieht. Er selbst sieht ein Pferd, das in die Freiheit auszubrechen versucht. Das Gegenbild zu jener angeschirrten, vom Kutscher geschundenen Kreatur, der Friedrich Nietzsche kurz vor seiner Umnachtung in Genua um den Hals fiel. Und eine Erinnerung an sein eigenes Nietzsche-Erlebnis in Norwegen, als ein Kalb in einem Stall bis zu den Knien im Dreck stand und ihn mit unendlicher Trauer ansah. »Es ist bestialisch, wie Menschen mit Tieren umgehen«, sagt er.
Der geschundenen Natur galt zeitlebens seine größte Sorge, dazu interessierten ihn neben den Dadaisten besonders jene Geistesverwandten, die einen Bezug zu seiner eigenen Biografie haben: Friedrich Hölderlin, der die zweite Lebenshälfte in einem Turm in Tübingen verdämmerte, wo sein Großvater Otto Naegeli während des Ersten Weltkriegs eine Klinik leitete. Rainer Maria Rilke, der den Großvater später in Zürich aufsuchte, als die seltene Form seiner Leukämie noch unbekannt war. Und Paul Klee, der den Großonkel Oskar in Bern aufsuchte, als sich seine Hautkrankheit verschlimmerte. Mit Klee verbindet ihn ohnehin viel: die Fähigkeit zum einfachen genialen Strich, die Liebe zur Musik, die Abscheu vor den Kleingeistern - den »Hasenfüßen«, wie er sie nennt.
Nietzsche, Rilke und Hölderlin zitiert er noch mit über achtzig Jahren auswendig, wenn auch nicht mehr ganz so fließend wie früher. Hölderlins Hyperion dichtete er eigenhändig zu Ende, um das unvollendete Werk abzurunden: »Wo das Land . der Griechen / mit Schritten der Sonne erscheint.« Schließlich ist auch sein einziges amtlich bewilligtes Werk Fragment geblieben: der Totentanz in den beiden Türmen des Zürcher Grossmünsters. Er hat sich beim Sprayen nicht an die begrenzte Fläche gehalten, die ihm die Behörden vertraglich gesetzt und mit einem Schutzlack haben vorbehandeln lassen. Seine Figuren greifen um Zentimeter darüber hinaus, die Urfrau im Karlsturm hält das Licht aus dem Fenster bis zum Rahmen fest, das tanzende Skelett im Glockenturm setzt seine Fußknochen auf den Holzboden. Das ist zu widerspenstig. Die dritte Figur im Karlsturm blieb zur Strafe einbeinig, die Behörde zog ihre Bewilligung zurück, noch bevor das Werk vollendet war. Dabei dürften die Figuren seit 2022 - vertraglich zugesichert - ohnehin weggeputzt werden. Den Abbruch der Arbeit hat der kurz vor der Pensionierung stehende bürgerliche Zürcher Baudirektor Markus Kägi veranlasst. Der Sprayer rekurrierte an dessen jungen grünen Nachfolger Martin Neukom, aber der trug den behördlichen Entscheid mit. »Ein Hasenfuß!«
Als die Stadt Zürich diesem Meister des unvollendeten Werks 2020 überraschend ihren wichtigsten Kunstpreis verleiht, erscheint ihm dies anfänglich nur als Bagatelle und hübsche Dekoration seines Werkes. Erst mit der Zeit beginnt er, sich darüber zu freuen, als ihn die Stadtpräsidentin Corine Mauch und der Kulturverantwortliche Peter Haerle eines Nachmittags gemeinsam besuchen und ihre Wertschätzung bekunden. Er führt sie gleich ans Fenster, um ihnen das ausgelassen tanzende Skelett an der Nachbarfassade zu zeigen. Aber das Skelett tanzt nicht mehr, die neuapostolische Kirche hat es am Tag zuvor wegputzen lassen. »Zerstören« nennt er diesen kleingeistigen Akt, »Vandalen« die Auftraggeber der Zerstörung. Es ist neben den Strafanzeigen wegen Sachbeschädigung eine der letzten persönlich erfahrenen Gemeinheiten, über die er sich aufregen kann. Jetzt ist er seiner früh verstorbenen norwegischen Mutter dankbar, dass sie ihm die Fähigkeit zur Empörung vererbt hat: »Empörung ist die Voraussetzung zur politischen Tat.«
Seit er mit dem Kunstpreis geehrt wurde, wollen alle etwas von ihm. »Ich bin ein Mythos«, sagt er von sich selbst. Dabei liebt er es nicht sonderlich, wenn statt seiner Kunst seine Person Thema ist. Bei der Premiere des Dokumentarfilms der französischen Autorin Nathalie David über ihn am Zurich Filmfestival 2021 mochte er persönlich nicht anwesend sein. Er schickte seinen Bruder Adrian, selber hat er den Film gerade einmal knapp gesehen. Und auch gegenüber dem Vorhaben einer Biografie ist er wankelmütig, wiewohl er den Autor seit Jahrzehnten kennt und weiß, dass der im wohlgesinnt ist: Mal redet er stundenlang über sein Leben und entpuppt sich dabei als hervorragender Erzähler und Komödiant in eigener Sache, dann wiederum wischt er persönliche Fragen als uninteressant vom Tisch. Die seien gänzlich nebensächlich für sein Werk. Über die Sachbeschädigung solle man schreiben - diesen »Straftatbestand«, mit dem ihn die Gerichte jahrzehntelang verfolgten, büßten und ins Gefängnis schickten! Das ist die größte Kränkung, die man seinem Werk angetan hat.
Im Übrigen ist er in den letzten Jahren seines Lebens von einer gelassenen Heiterkeit, die seine Besucher ansteckt. Er ist zufrieden mit seinem Leben, würde nicht ein Jota ändern, wenn ihn ein Zauberer in die Jugend zurückversetzte. Dass er eine schwierige Kindheit hatte mit Eltern, deren Beziehung sich früh zerrüttete? Er war glücklich in seiner eigenen Welt und selbst gewählten Einsamkeit, dankbar, dass ihn die Mutter, selbst Künstlerin, früh zum subversiven Zeichnen anstiftete. Auch gegen den Vater sagt er kein böses Wort, einzig, dass er angepasst war bis zum Gehtnichtmehr, und für ihn nie Autorität, die Mutter stets wichtiger. Stolz wäre sie gewesen auf seine Pionierrolle in der Graffitikunst und seinen dadaistischen Geist, wenn sie nicht früh verstorben wäre! Dass ihn dieser Vater, Mediziner wie die Vaterlinie seit Generationen, und in Abgrenzung zu ihr überzeugter Parapsychologe, schon frühkindlich mit seiner Vorstellung vom Teufel und von bösen Dämonen erschreckt haben muss? Vergessen und vergeben. Er hat selber den einen oder anderen Dämon erlebt, der sich schwer auf ihn legte, aber vielleicht gibt es solcherlei ja tatsächlich. Er jedenfalls ist davon überzeugt.
Verstörender als die Vorstellungswelt des Vaters, die er als Erwachsener nicht mehr ganz so ernst nahm, sind die Bilder des kriegszerstörten Deutschlands in seinem Kopf. Als er 1945 mit der Mutter und den beiden jüngeren Brüdern nach Norwegen fuhr, wie jeden Sommer danach, sah er an den Bahnhöfen beinamputierte Soldaten auf einen Sanitätskonvoi warten. Hamburg lag in Schutt und Asche, ein Arbeiter rannte dem Bus hinterher, um den Brüdern eine Süßigkeit zuzustecken. Jahrelang hat der Knabe danach Bilder vom Krieg gezeichnet. Die Mutter gab ihm und dem jüngeren Bruder dafür jeweils die Rückseiten von Reklamezetteln für Medikamente. Wenn der Bruder und er ihre Werke abgaben, urteilte sie streng, wer besser war. Meist war dies der jüngere Bruder, was den Erstgeborenen aber nicht grämte. Irgendwann war seine Zeichnung im Urteil der Mutter besser. Der Bruder hat daraufhin nie mehr gezeichnet. Harry begann danach auch damit, Papierschnipsel hin- und herzuschieben und sie aufzukleben - ein Anfang zu seinen Collagen.
1 Collage, 1957 Zeitungsschnipsel und verschiedene Papiere auf Karton
Die Mutter war Malerin. Ihre Welt war eine ganz andere als jene des Vaters: sie Anarchistin, er Großbürger, sie Wikingerin, er Thurgauer, sie misstrauisch beäugte Ausländerin in der Limmatstadt, er Sohn eines anerkannten Medizinprofessors, sie depressiv und zeitweilig aufbrausend, er Spezialist für Depressionen, stets überlegt, aber unfähig, ihr zu helfen. Sein Großvater, ein international geehrter Wissenschaftler, Mitbegründer der modernen Blutanalyse, wurde zum hundertsten Geburtstag postum mit einer Büste in der Aula der Universität Zürich geehrt. Ihr Vater, der die erste Fahrradhandlung in Stavanger eröffnet hatte, ist früh verstorben und in der Öffentlichkeit vergessen. Die beiden Welten kamen sich in der Familie...
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