Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
II
B. wurde von lautem Gebetsgesang aus dem Schlaf geschreckt. Er musste gegen Morgen doch eingenickt sein, vielleicht aus Erschöpfung, nachdem er immer wieder aufgestanden war und die drei Meter Länge seiner Zelle abgeschritten hatte, wenn ihn die Härte des Bodens zu sehr geplagt hatte. Aber jetzt war die Nacht vorbei, durch die Zellenöffnung schimmerte fahles Tageslicht. B. war gewohnt, früh aufzustehen, das störte ihn nicht. Die Koransuren dröhnten aus dem Lautsprecher, aber auch das machte ihm nichts aus. Er war Fremder hier und hatte die Gebräuche dieser Kultur zu akzeptieren.
Wie gerädert machte B. ein paar Dehn- und Streckübungen, legte die Wolldecken zusammen und wartete. Die Zelle war wieder exakt so, wie er sie betreten hatte. Bald würden sie an seine Türe klopfen, B. hatte die Augenbinde schon bereitgelegt. Er würde möglichst rasch das Missverständnis zu klären suchen, notfalls auch darauf bestehen, dass die schweizerische Botschaft eingeschaltet würde, damit die Angehörigen kontaktiert werden konnten. Alle würden sie das morgige Rückflugdatum bestätigen können. Die Firma würde auf ihre jahrelangen Geschäftsbeziehungen mit dem Iran und die Kontakte mit höchsten Regierungs- und Armeestellen verweisen können.
Nun wurde das Guckloch geöffnet. B. sah eine Hand, die ihm Brot und ein Stück Käse hereinreichte. Kurz danach ging das Guckloch wieder auf. «Tschai», hörte B. unter der Augenbinde, das musste Tee sein. B. hielt den Trinkbecher hin. Draussen herrschte seit Ende der Gebete eine gespenstische Stille, nur hin und wieder waren Schritte über den Gang zu hören. Eine Türe wurde geöffnet, ging wieder zu, danach wieder Schritte, das musste Gefängnispersonal sein. Nach vielleicht einer Stunde ging das Guckloch erneut auf. Kaum hatte B. die Augenbinde wieder hoch, wurde er hinausgeführt. Über den Hof ging es zurück in die Richtung, wo er gestern seine Kleider und persönlichen Gegenstände abgegeben hatte. Womöglich hatte sich alles schon geklärt, und sie würden ihm gleich die Sachen zurückgeben. Sein Betreuer war uniformiert, den braunen Hosen und Schuhen nach zu schliessen, vielleicht Militärpolizei. Als B. den Kopf allzu stark hob, um unter der Augenbinde hervorzusehen, drückte ihm der Begleiter kräftig den Kopf nach unten. Er wollte auf keinen Fall erkannt werden, das wäre ja auch über Besonderheiten an Hosen und Schuhen möglich gewesen.
B. wurde in ein anderes Gebäude geführt und dort in einem Verhörraum auf einen zur Wand gekehrten Stuhl gesetzt. Seitlich am Stuhl war eine Schreibunterlage befestigt, ähnlich wie sie Studierende in Hörsälen haben. Eine Stimme begrüsste ihn in einwandfreiem Englisch, den Formulierungen nach in den USA erlernt. Sie stellte sich als «Investigator» vor. Was sollte das bedeuten: Polizeiverhörer? Ermittler? Untersuchungsrichter?
«How are you?» fragte die Stimme.
«Thank you for asking me», antwortete B. freundlich und unverbindlich.
Dann wurde B.s Lesebrille gebracht, die erst im Depot hatte geholt werden müssen. B. durfte unter der Augenbinde die Brille aufsetzen und direkt nach unten auf die Schreibunterlage sehen. Vor ihm lag ein Schriftstück. Was B. las, traf ihn wie ein Schlag: «Strafrechtliche Tatbestände: Spionage, Bestechung, Teilnahme an einem illegalen Treffen und Alkoholkonsum.»
«Wir wissen, Sie sind ein Spion der Schweizer Polizei. Was haben Sie dazu zu sagen?» fragte die Stimme.
B. sackte zusammen, diesen Vorwurf hatte er nicht erwartet! Gut fünfzig Jahre seines Lebens rasten im Schnellgang an ihm vorbei, wie ein auf Hochtouren zurückgespulter Film. Die dreizehn Jahre bei der Firma in Steinhausen, die zahllosen Reisen mit den zähen Verhandlungen in Europa, Lateinamerika, Afrika und Mittelost, die Berichterstattungen und technischen Erklärungen in Hotelzimmern und auf Flugreisen, die Missionen fürs Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Nigeria und Jemen, die Arbeit als Fernmeldetechniker in Kuwait, Papua-Neuguinea und Senegal, die Jahre als Funker auf Hochseeschiffen, als Fleet Manager in der Hochseefischerei im südchinesischen Meer, die Managementschule und technische Ausbildung in England, die Lehre als Fernmeldebeamter bei den PTT, die Handelsschule in Neuenburg, die ersten Funkerlebnisse mit zwölf Jahren, die Kindheit in Uster. Alle tauchten sie kurz auf und verschwanden wieder, die ihm Eindruck gemacht hatten: der deutsche Kaufmann, der ihn auf der Luxusjacht als Schiffsfunker angestellt hatte, sein Chef bei den PTT, die Frau mit der kleinen Tochter, die er vor dreizehn Jahren kennengelernt hatte, das Mädchen, das ihn Vater nannte und für ihn wie eine eigene Tochter war, die Geschwister mit ihren Familien, die Mutter, die schon über achtzig war und den Lieblingssohn behütete wie einen kleinen Jungen, wenn er jeweils in die Schweiz zurückkehrte, und immer gesagt hatte, er solle auf sich schauen, wenn er auf Reisen ging. Und jetzt war der Film aufgerollt, die Leinwand flimmerte unter B.s Augenbinde wie am Ende einer Vorführung.
«Nein», sagte B. abrupt in die eingetretene Stille, «das ist eine Verwechslung. Ich bin Verkaufsingenieur!»
«Was geschieht, wenn die Schweizer Grenzpolizei Pässe von Einreisenden auf eine Glasscheibe legt?» fragte der Verhörer unbeirrt.
«Ich weiss nicht, womöglich werden die Pässe kopiert.»
Was sollte diese Frage? Wollten die Befrager von ihm erkunden, wie man mit gefälschten Papieren in die Schweiz einreisen konnte? Warum ausgerechnet von ihm? Oder wollten sie testen, was er über solche Details wusste?
«Welche Grenzübergänge in die Schweiz werden am besten bewacht?»
«Ich kann das nicht beurteilen», antwortete B., «vielleicht Genf oder die Südschweiz.»
«Als Polizist müssen Sie das wissen!»
«Ich bin nicht Polizist!»
«Sie lügen!»
«Hören Sie!» antwortete B. erregt, «ich bin Verkaufsingenieur, technical salesman. Seit dreizehn Jahren besuche ich den Iran. Selbst während des Kriegs mit dem Irak, als der Teheraner Flughafen zeitweilig geschlossen war, bin ich unter schwierigsten Umständen ins Land eingereist. Ich habe Kontakte in die höchsten Amtsstellen des Aussenministeriums, zu Militär, Polizei und Gendarmerie. Noch vor meiner letzten Abreise in den Iran war ich anlässlich der Jubiläumsfeier zum Jahrestag der Revolution von der iranischen Botschaft in Bern eingeladen, habe dort mit dem Botschafter und dem Militärattaché gesprochen. Einige Tage später kam der Attaché in unsere Firma. Der Direktor und ich haben ihn betreut. Es gibt an meiner Tätigkeit nichts, das den Vertretern des iranischen Staates hätte verborgen sein können. Ich bin am 6. März zusammen mit einem Kollegen und rund 250 Kilogramm technischem Material, verschiedenen Modellen von Chiffriergeräten samt Zubehör, in Teheran angekommen. Wir sind am Flugplatz durch einen Kunden abgeholt worden. Seither haben wir verschiedene Kunden besucht, unter anderem die Einkaufsstelle der Armee. Konkrete Aufträge wurden bearbeitet und Bestellungen lagen vor, waren aber auf Anweisung des Parlaments pendent zu halten, solange Spannungen zwischen der Schweiz und dem Iran bestanden. Diese Vertragsabschlüsse sind für Ihr Land von grösster Bedeutung!»
«Schreiben Sie alle Kontakte auf, die Sie je zu Iranern gehabt haben», befahl der Verhörer.
Gehorsam schrieb B. auf dem ihm gereichten Papier alle Kontakte zu Iranern auf, an die er sich in den dreizehn Jahren seiner Geschäftstätigkeit erinnerte. Es lag in seinem Interesse, möglichst lückenlos über seine Kontakte Bericht zu erstatten! Wenn er keinen Namen verschwieg, würden sie merken, dass er aufrichtig war. Gleichzeitig würden Sie erkennen, wie wichtig seine Tätigkeit für das Land war. Armee, Innenministerium, Aussenministerium und selbst parastaatliche Organisationen wie die Revolutionswächter waren auf die Geräte der Firma angewiesen. Die abhörsichere Übermittlung sensitiver Meldungen war von höchstem Interesse für die verschiedensten Amtsstellen. B. beschrieb unter der Augenbinde Seite um Seite auf dem Schreibbrett am Stuhl, der Randabstand links nahm gegen unten zu, weil er sonst zu nahe am Körper hätte schreiben müssen.
Am Mittag wurde er in die Zelle zurückgeführt. Ein Mann mit freundlicher Stimme und einem Suchempfangsgerät besuchte ihn, das musste der Gefängnisdirektor sein. Dem Mann schien daran gelegen, dass sich B. wohl fühlte. B. eröffnete ihm, dass sein Flug für die kommende Nacht, Abflugzeit 02 Uhr, gebucht sei und dass er dieses Flugzeug unbedingt erwischen müsse. Der Gefängnisdirektor schien davon Kenntnis zu haben und sah keinerlei Problem.
«Machen Sie sich keine Sorgen, das geht schon in Ordnung!»
Am Nachmittag aber stellte sich rasch heraus, dass es mit dem geplanten Rückflug nichts werden würde. B. sprach die Verhörer gar nicht mehr darauf an, es wäre zwecklos gewesen. Das Verhör war gleich zu Beginn härter geworden. Der Chefverhörer hatte einen Zacken zugelegt, einzig sein Assistent, ein der Stimme nach jüngerer Ermittlungsbeamter, war freundlich geblieben. Der Assistent sprach ein sehr gepflegtes Englisch, brauchte nicht die saloppen Wendungen «sure» oder «come on» aus dem Amerikanischen wie der Verhörer, dafür hatte er B. aufgefordert, alles «very succinctly» niederzuschreiben - das hiess sinngemäss «aufs Tüpfchen genau» und zeugte von einem Aufenthalt an einer englischen Sprachschule.
Vielleicht war der Ältere auch schlecht gelaunt, weil sie ihn am iranischen Neujahr, einem hohen Feiertag im islamischen Kalender, verhören mussten. Oder hatten sie ganz einfach ihre Rollen gemäss professioneller Verhörtechnik verteilt? Der Jüngere, kollegial, verständnisvoll und lieb, sollte von B. ins Vertrauen...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.