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Wie das in der Praxis aussehen könnte, habe ich einige Zeit vor der Pandemie in einem Theaterschauspiel zu untersuchen begonnen. In Le Lavabo. wollte ich herausfinden, wie weit der Wert des Lebens, je einzeln interpretiert, vom absoluten Ideal entfernt ist.[1] Ich wollte herausfinden, was in der Praxis zu erwarten wäre. Als Ausgangspunkt dieser Studie in Form des Texts eines Theaterschauspiels nahm ich eine Untersuchung im Economist darüber, wie sich die Befolgung von Hygieneregeln in Spitälern statistisch in den Zahlen der Toten durch Spitalsviren niederschlägt. Die Annahme ist, dass die Zahl der Toten die Einhaltung der Hygienevorschriften widerspiegelt. Damit wiederum gibt die Einhaltung der Hygienevorschriften wieder, wie hoch der Wert des Lebens der Patientinnen und Patienten veranschlagt wird. In der Statistik gab es ein Nord-Süd-Gefälle. In den Niederlanden waren die Zahlen am besten. In Griechenland und in Süditalien starben fast dreimal so viele Patientinnen und Patienten an Infektionen durch multiresistente Erreger.
Der Bericht im Economist war mit dem Hinweis auf Ignaz Semmelweis eingeleitet worden. Wie so oft. Ich wusste natürlich von Ignaz Semmelweis und seiner Einführung des Händewaschens mit Bleichmittel und wie das zu Hygiene überhaupt führte. Was ich nicht wusste: Ignaz Semmelweis war Ungar und studierte in Budapest und Wien Medizin. Seine Forderung, die Hände vor der Behandlung von Patientinnen zu waschen, wurde von seinen Wiener Kollegen bekämpft, obwohl Semmelweis die Sterblichkeit mit dieser Maßnahme um 90 Prozent senken konnte. Die Kollegen fühlten sich durch die Behauptung angegriffen, ihre Hände seien nicht sauber genug. »Die Hände eines Herren sind immer sauber.«, war die Antwort. Sauberkeit. Die herrschende Hegemonie definierte, was das war. Semmelweis starb 1865 zwei Wochen nach Einlieferung ins »Irrenhaus«. Er war von den Aufsehern erschlagen worden. Die Deutungsmacht des Singulars von Sauberkeit war bei den Kollegen geblieben. Sie hatte zum Ausschluss des Störenfrieds geführt. Und. Die Leben der gebärenden Frauen waren weniger wert gewesen als die Berufsehre der Kollegen von Semmelweis.
In Le Lavabo., wie in jedem anderen Theaterschauspiel. Die Schauspielerin. Der Schauspieler. In einer inversen Transformation wird der fiktionale Sprechertext im Auftritt zur Behauptung eines Texts, wie er außerhalb des Theaters gesprochen werden könnte. Wie in allen Kunstmitteln ist das Gegenteil gleich gültig. Der Text in hohem Ton von einer natürlichen Person performt, bezieht sich in gleicher Gültigkeit auf außerhalb des Auftritts liegende Wahrheiten. Die Aufführung verweist uns immer auf die Welt außerhalb des Auftritts, weil wir wissen, dass der Körper der Schauspielerin oder des Schauspielers nach der Aufführung weiterleben wird. In unserer Kulturgeschichte. Christlicherweise. Dass Personen damit begannen, den Tod auf die Bühne zu bringen und damit gegen das Gesetz Gottes zu handeln, dem das Urteil über Leben und Tod vorenthalten ist und der, im Herrscher verkörpert, im Gericht das Urteil stellvertretend fällen darf. Das Spielen des Tods bedeutet eine Inbesitznahme auch wieder dieses Singulars. Im Spielen werden die steinernen Gesichter der Darstellung des letzten Gerichts lebendig. Der Tod als spielbare Sache einer individuellen Person und nicht nur die Nachstellung des Tods von Märtyrern und vor allem Jesus. Jedenfalls ist diese Spielbarkeit des Sterbens und des Tods die Voraussetzung, das Leben auf die Bühne bringen zu können. Die Opernbühne war da einer der Anfänge, sich des Lebens als autonome Person zu bemächtigen.
Diese Welt spielbaren Tods. Für die Dauer der Aufführung ist sie für die Personen des Publikums »Leben anstatt«. Unsere Leben ruhen in der Zeit, wenn wir dem Geschehen der Theateraufführung folgen. In der inversen Transformation der Schauspielerinnen und Schauspieler von der natürlichen Person zur performenden Person wird der Text zu einer der möglichen Realitäten. Der Text wird zu einer der möglichen Wahrheiten. Und. Ich teile die Figuren meiner Dramentexte nicht mehr in Hauptdarstellerinnen und Nebendarstellerinnen ein. Das, was kleine Rollen genannt wird, gibt es für mich nicht. Jede auftretende Person ist in dieser inversen Transformation begriffen. Jede auftretende Person muss diesen Vorgang vollziehen. Selbst der Papageiensucher in Elysian Park., der alle 7 Minuten die Bühne von rechts vorne nach links hinten überquert. Und. Der Papageiensucher folgt nicht einmal dem Gang der Handlung, sondern schneidet alle 7 Minuten in absoluter Zeit in die Zeit der Aufführung. Der Papageiensucher mag also in jeder Aufführung an einer anderen Stelle mit seinen Lockrufen nach dem Papagei über die Bühne gehen. Aber selbst für den Auftritt als textexterne Theaterfigur muss die inverse Transformation für die quasi-natürlichen Rufe nach dem Papagei erfolgen. Meine Stücke sind Dia-Shows in einer Abfolge von Bildern, von denen ich mich eigentlich nicht trennen möchte.
Dieser Vorgang ist für alle gleich. Dann könnte es noch um die Länge des jeweiligen Sprecherinnentexts gehen, eine Figurenhierarchie zu konstruieren. Das aber stellt auch keine Hierarchisierung her, wenn davon ausgegangen wird, dass der gesamte Sprecherinnentext jeder vorgesehenen Sprecherin oder jedem Sprecher bekannt sein sollte. Meine Theatertexte sollten als Chor mit Soli aufgeführt werden. Es bedarf keiner Regie mehr. Also keines Regisseurs. Der Theaterregisseur ist ja in der Nachstellung der sentimentalen Familie immer der Herrscher. Daraus ergibt sich ein professionelles Geschlecht, das dem Hegemonialen zuzurechnen ist. Deshalb. Die gelungensten Aufführungen meiner Dramentexte habe ich von LaienschauspielerInnen gesehen. Die Verschiebung des Werkbegriffs im deutschsprachigen Theater vom Text zur Regie lässt sich mit meinen Stücken nicht machen. Sie sind demokratisch gedacht. Das bedeutet, die Sprecherinnen und ihre Texte sind jeweils in demokratischer Autonomie zu sehen. Jede Sprecherin, jeder Sprecher stellt ein personales Wahrnehmungszentrum mit der je eigenen Wahrheit dar. Die Verwendung minimaler Alltagssprache führt zu einer wiederum minimalen dramatischen Verknüpfung. Jeder Eingriff in diese kleinteiligen Strukturen führte zu Sinnentleerung. Es müssten die Sprecherinnen und Sprecher, im Sinnbereich ihrer Texte agierend, miteinander demokratisch über die Auftritte verhandeln. Dafür muss der Gesamttext gewusst werden, um Einsätze und Valenzen einbringen zu können. Die Schauspielerin. Der Schauspieler. Sie nähmen an einem Versuch teil, die undemokratische Realität demokratisch zu durchdringen. Das wäre an sich schon ein Vorgang der Kritik. Und ja. »Das epische Theater soll zum Denken zwingen, das ist der wahre Genuß.«[2] Die Schauspielerin. Der Schauspieler. Sie dürfen sich an diesen Vorgang der inversen Transformation von der natürlichen Person in die auftretende Person erinnern und ihn vorführen. Wie kann von einer Person demokratischerweise verlangt werden, sich allen Ernstes in irgendeine andere Person zu verwandeln. Diese Form psychischer Selbstentfremdung ist mittlerweile viel zu sehr der Alltag jeder in unseren Kulturen lebenden Person. Identifikatorisches Verwandlungstheater wird ja dann nur zur Blaupause der herrschenden inneren Machtverhältnisse jeder Person. Theater wird unter diesen Voraussetzungen zu einer weiteren unbewussten Trainingseinheit neoliberaler Selbstzurichtung. Und darin ist dieses Theater dann antidemokratisch.
Warum habe ich aber nun nicht gelacht. An diesem Frühlingsabend 2005 in New York. Und was war das überhaupt für ein Lachen. Es ging doch um Leben und Tod. Minos, gesungen von Kevin Burdette, hatte gerade erklärt, was dieses eben gezogene Los bedeutet. Nun. Lachen gehört zu den anthropologischen Invarianten. Aber. Wir können nur erkennen, dass gelacht wird. Wie und wann gelacht werden darf, das wird jeweils kulturell entschieden. Es war wohl die Bezugnahme auf das Bingo, worüber in der Opernaufführung gelacht worden war. Es war dieses kurze, anerkennende Lachen gewesen, wie es Fernsehserien und Comedy Shows unterlegt wurde. Die Pandemie hat dieses Lachen ja verschwinden gemacht, wenn die Late Night Shows, in Garagen und Wohnzimmer aufgenommen, ohne Publikum auskommen mussten. 2005 aber. »To be funny« war da längst eine der wichtigen Eigenschaften, eine Person sympathisch erscheinen zu lassen. Daran hat sich nichts geändert. In der Aufzählung, was an einer Partnerin oder einem Partner an wichtigen Eigenschaften verlangt würde, ist »funny« an vorderster Stelle. Vertrauenerweckend kommt erst viel später in dieser Liste. Gleich nach dem guten Aussehen muss eine Person funny sein und die andere Person zum Lachen bringen. Immer noch ist die Beschreibung »he is a very funny guy« eine Qualitätsangabe für Partyeinladungen oder in der Unterhaltungsindustrie. Die US-amerikanischen Personen im Publikum von Arianna in Creta lachten aus anerkennender Höflichkeit über den Gag mit der Bingomaschine. Es war wichtiger nachzuweisen, diesen Gag verstanden zu haben, als, dem Gang der Handlung folgend, in Entsetzen zu verfallen, dass ein derartiges Los überhaupt gezogen werden musste und darüber entschied, wer nun zum Tod verurteilt war. Oder. Es war wichtiger, sich auf das Jetzt des Publikums in der Aufführung zu beziehen und sich über jene Autonomie des Texts hinwegzusetzen, in der in der ersten Aufführung alle diese Aufführung bedingenden Sinneinheiten zusammengefasst sind. Das ist jener Augenblick...
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