Alpha
In dem Augenblick hätte es mich nicht gewundert, wenn ich vor Sehnsucht und Verzweiflung in die Luft aufsteigen und fliegen hätte können und so doch nach Athen gekommen wäre. Ich kann mich sehen, wie ich der Fähre nachschaue und wie die Enttäuschung, nun nicht nach Athen zu kommen und deshalb Marios nicht zu sehen, ins Unermessliche steigt. Wenn Gefühle etwas bedeuten würden, dann hätte ich über der Fähre schweben müssen, aber ich stand da und sah zu, wie dieses riesige Schiff davonfuhr.
Ich war in Fassungslosigkeit versteinert und konnte nicht begreifen, dass nun alles nicht so sein sollte, wie wir es uns gedacht hatten. Ich starrte auf die davonsegelnde Fähre, hörte das Tuten. Ich konnte die Leute sehen, die an der Reling lehnten und zurückschauten. Ich hasste Evangelos und hätte ihn morden können. Evangelos war schuld an meinem Unglück. Er war an Bord, und ich stand am Hafen. Ich konnte ihn aber nicht unter den Leuten da sehen, und dann war das Schiff auch schon zu weit weg, jemanden erkennen zu können.
Das Schiff war schon fast am Horizont angelangt, als ich mich erst wieder bewegen konnte. Das war die letzte Fähre des Tages nach Athen gewesen. Es gab keine Flüge mehr. Ich war auf dieser Insel gefangen. Vor dem nächsten Tag gab es keine Möglichkeit, von dieser Insel wegzukommen, und ich würde Marios nicht sehen.
Ich setzte mich auf eine dieser Betonbänke, die entlang der Straße zum Fährenhafen standen. Es war das Ende eines sehr heißen Tages. Alles war staubig, die Oleanderblüten hingen nach dem langen Sommer schon halbvertrocknet und dürr herunter. Auf der Straße fuhren keine Autos, und ich war fast alleine da. Die Geschäfte des Tags waren ja erledigt. Die letzte Fähre nach Athen war ausgelaufen. Ich saß da und schaute auf die Festung gegenüber. Die hochaufragende Fähre verdeckte die Aussicht ja nicht mehr.
Auf der Bank musste ich dann doch weinen. Eigentlich weine ich nicht mehr so viel. Aber ich habe in den schlimmen Zeiten gelernt, dass Weinen eine Art von Sprechen ist. Mein Weinen ist zu einer Art Selbstgespräch geworden, und ich weiß aus meinem Weinen am besten, wie es mir geht. Ich verstehe deshalb nicht, warum das Lachen so akzeptiert sein kann, wenn das Weinen doch viel wichtiger ist. Aber ich habe mich in diesen Sachen unabhängig machen müssen, es hat mich nämlich nie jemand dafür gemocht, dass ich nicht geweint habe und alles unterdrückte. Mit dem Weinen bin ich zwar allen Leuten schrecklich auf die Nerven gegangen, und besonders die Familie meiner Mutter in Kaiserbad fand das übertrieben und neurotisch. Aber so habe ich wenigstens nie aufgehört, mit mir selbst zu reden. Es ist doch die größte Angst, nach so einem Ereignis wie dem Tod der Mutter, dass eine nie wieder sprechen kann. Das können wiederum nur die wissen, die es erlebt haben, und deshalb hat es keinen Sinn, sich nach denen zu richten, die es lieber nicht wissen wollen.
Auf der Betonbank im Hafen von Heraklion war ich aber ganz allein, und es konnte niemanden stören, dass ich weinte. Ich saß da. Der Stoff meiner Bluse blieb an dem rauen Beton der Bank hängen, und ich spürte, wie bei jeder Bewegung ein neuer Faden aus dem Batist am Beton hängenblieb und wie meine Bluse immer hässlicher wurde. Ich blieb sitzen. Es war ja ohnehin alles zu Ende.
Marios war da schon nicht mehr zu erreichen. Wir hätten einander so gegen Mitternacht an der Metrostation Monastiraki treffen sollen. Marios hatte immer Prepaids, und ich hatte seine neue Nummer nicht. Alle in Marios' Gruppe haben keine Vertragshandys wegen der Überwachung, und vor Demonstrationen waren alle besonders vorsichtig. Marios hatte mich knapp vor der Abfahrt von der Sidi in Churio noch einmal angerufen und mir gesagt, ich müsste einen Baumwollschal für die Demonstration mitbringen. Der Schal müsse aber unbedingt aus Baumwolle sein und dürfe auf keinen Fall eine Kunstfaser enthalten, weil nur die Baumwolle beim Tränengas schützen könne. Die Sidi hat mir dann einen von ihren Batikschals geborgt und so skeptisch geschaut, als wüsste sie, wofür ich den Baumwollschal bräuchte. Die Sidi war ohnehin gegen diese Reise nach Athen. Sie hat aber gewusst, dass ich entschlossen war, dahin zu reisen, und sie hatte ja auch kein Recht, mir etwas zu verbieten. Die Sidi ist nur meine Halbschwester, und ich bin seit fast einem Jahr volljährig, also hätte sie nichts dagegen tun können. Die Sidi hat manchmal das Gefühl, sie muss mir die Mami ersetzen, weil sie ein schlechtes Gewissen hat. Die Sidi war schon zweiunddreißig Jahre alt gewesen, wie die Mami gestorben ist, und sie hat die Mami viel länger gehabt als ich.
Aber Sidis Baumwollschal war im Rucksack geblieben und der Rucksack im Auto von dem Evangelos und das Auto mit dem Evangelos auf der Fähre. Der Rucksack war auf dem Weg nach Athen.
Ich hatte den Schal schnell in den Rucksack oben hineingestopft, weil der Evangelos vor dem Haus draußen schon gehupt hatte, da wir längst abfahren hätten sollen. Der Evangelos musste nach Athen und nahm mich zur Fähre mit. Die Sidi hat ihm noch etwas zugerufen, aber das war auf Griechisch, und ich kann das nicht. Aber es war zu hören, dass er auf mich achtgeben sollte. Der Evangelos ist aus Churio, er ist ein Freund von Sidis Mann Angelos und ein Verwandter von Marios. Und als mir das einfiel, wurde mir schrecklich elend, denn ich stellte mir vor, dass der Evangelos den Marios in Athen treffen würde und ihm sagen könnte, dass er mich geküsst hätte. Dass ich auch nur so eine von diesen geilen Touristinnen sei und der Marios sich in mir getäuscht hätte.
Natürlich war das eine reine Opferreaktion. Es war ja der Evangelos gewesen, der sich im Auto zu mir herübergebeugt hatte und mich küsste. Es ist nicht schön, dass es keine Bezeichnung für einen erzwungenen Kuss gibt. Und dass ich dazu, dass der Evangelos seine Lippen auf meine gepresst und mir seine Zunge in den Mund gezwängt hat, auch Kuss sagen muss, das ist traurig. Das mit dem Kuss, das war knapp vor der Auffahrt auf die Fähre gewesen. Das Auto vom Evangelos war in so einem langsamen Schleichgang auf die Rampe zur Fähre zugefahren, und ich hatte mich nur auf die Ankunft gefreut und dass ich Marios sehen würde, und plötzlich hat sich der Evangelos so über mich geworfen. Er hat sich vom Fahrersitz zu mir herübergewälzt und hat meinen Kopf mit seinem Kopf gegen die Kopfstütze gedrängt und hat mich zu küssen versucht. Ich hatte noch nicht begriffen, was da passierte, da war ich schon aus dem Auto draußen. Ich weiß gar nicht, wie ich das gemacht habe. Ich habe keine Erinnerung an eine Autotür in der Hand oder wie ich beim Aussteigen aus dem langsam rollenden Auto gezwungen bin, ein Stück mitzulaufen. Ich weiß nur mehr, wie mein Kopf gegen die Kopfstütze gezwängt wird und die Zunge von Evangelos sich in meinen Mund bohrt, und dann laufe ich schon vom Auto davon in die andere Richtung, von der Fähre weg. Ich lief die Autoschlange hinter uns entlang und wollte nur weg. Dann hörte ich das Abfahrtssignal und lief ein Stück zurück. Ich wollte zum Büro von den Minoan Lines, dann war das aber sehr weit weg, und ich drehte wieder um. Dann war ich davon besessen, ein Ticket kaufen zu müssen, und lief wieder zum Büro. Da war aber niemand. Ich wollte zur Fähre zurück, und da lief die gerade aus. Es geht ja dann immer sehr schnell mit dem Beladen dieser Fähren. Ich konnte nur mehr zusehen, wie die Klappe hinten hinaufgezogen wurde. Das Wasser brodelte unter dem Schiff, und dann rauschte es davon. Das Schiff war bald auf dem Meer draußen und weit weg, und ich war zurückgeblieben. Nur mein Rucksack war an Bord. Der lag im Kofferraum von Evangelos' dunkelgrünem Ford Fiesta.
Ich musste dann von der Betonbank zu den Toiletten beim Büro der Minoan Lines zurückgehen. Die Toiletten waren in einem rosaroten Betonhäuschen, und ich überlegte, ob ich da irgendwo bleiben konnte, um am nächsten Tag so schnell wie möglich nach Athen zu kommen. Aber in dem Häuschen war alles sehr eng, und es lag mit der leeren Bürobaracke von allem weit weg da, und ich wusste nicht, was in dieser Gegend in der Nacht ablief. Es gab viele Glassplitter von zerbrochenen Flaschen auf dem Parkplatz, und die Papierkörbe gingen über von zerdrückten Bierdosen.
Ich wusch mir noch das Gesicht und spülte den Mund aus, aber der Geschmack von dem Kuss ging nicht weg. Es war so etwas Scharfes, das gleich wieder zurückkam. Ich musste mir etwas zu trinken besorgen, um diesen Geschmack wegzubekommen. Wodka. Whisky. Gin. Aber weil das Ganze so ungerecht war und mir schon wieder die Tränen über die Wangen liefen, musste ich das Gesicht noch einmal waschen. Während ich mir das Gesicht mit einem Papierhandtuch trocknete und in den Spiegel schaute, fiel mir ein, wie ich in Churio gehört hatte, dass Evangelos nach Chania ins Puff fährt, und dann ekelte mir noch mehr. Ich hätte ewig in diesem Clohäuschen bleiben können und mir noch lange und immer wieder das Gesicht waschen und den Mund ausspülen, aber dann ekelte mich auch dieser Waschraum an.
Draußen war noch immer diese staubige Hitze und die Sonne noch im Sinken so stark, als wäre Mittag. Ich ging an der Betonbank vorbei und setzte mich auf die nächste.
Es war schrecklich ironisch, dass ich mir den Mund ausspülte, weil mich ein Mann geküsst hatte, der zu Prostituierten ging, und ich nach Athen hätte fahren wollen, um zu einer Demonstration für die Rechte von Prostituierten zu gehen, und ich hasste diesen Evangelos noch mehr.
Die Demonstration war für die HIV-Frauen und gegen die Polizei und den Innenminister. Die Polizei hatte die Frauen festgenommen, weil man behauptete, sie wären HIV-kranke Prostituierte, die aus dem Ausland nach Griechenland gekommen...