Schweitzer Fachinformationen
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I
Merkte denn keiner, was für eine saublöde Musik das war? Massenware, mieser, nachgespielter Dreck. Unzufrieden mit der miserablen Auftrittslage blätterte Régis Schweitzer in seinem Terminkalender. Tiefe Falten hatten sich in seine Stirn gegraben, seit zu jedem Volksfest die verdammten Fredis engagiert wurden. Früher, ja, da hatten er und Antoine so richtig abgeräumt. Kein Holterdiepolter, nein, sie zählten noch zur alten Schule. Beherrschten mehrere Instrumente. Konnten alles spielen, wollten aber nicht alles spielen. Beschwingte französische und elsässische Weisen, hie und da ein Chanson, das die Damen zu Tränen rührte. Dann betupften sie sich mit ihren blendend weißen Spitzentaschentüchern die feuchten Äuglein. Und heute, was taten sie heute? Schnäuzten sich in Papierservietten. Perlen vor die Säue. Régis lächelte beim Gedanken an die beseelten Augen ihrer Zuhörer - damals. Selbst das lahmste Männlein, das dürrste Weiblein, die feinen Fräuleins aus der Stadt, die Kavaliere in ihren Knickerbockern . alle hatten sie mit ihrer Kunst auf den Tanzboden gelockt. Leute mit Gold im Mund und solche, denen nur noch ein paar Zahnstummel im Kiefer herumwackelten.
Von der Pike auf hatte er, Régis Schweitzer, das Musikerhandwerk gelernt. Dann, als sein alter Freund und Mitmusiker Jean, d'Schangala, so plötzlich verstorben war, hatte er sich den Antoine herangezogen. Wie einen jungen Hund. Eher noch wie einen jungen Fuchs, dachte man an seinen Nachnamen: Renard. Dass dem die Musik im Blut lag, hatte Régis gleich gemerkt. Beim Vorsingen in der Dorfschule. Als er noch Monsieur le Professeur gewesen war. Ja, sie waren ein gutes Team. In mehr als einer Hinsicht.
Seufzend blickte er auf die Uhr. Schon viertel vor sieben. Er schlüpfte in seine ausgetretenen Filzpantoffel. Zeit für die Probe.
In der alten Scheune wartete Antoine auf ihn. Seit neunzehn Jahren, jeden Donnerstag, auf die Minute genau, probten sie - in letzter Zeit mehr ein Trockenschwimmen. Aber für Régis bedeutete Nachlassen Feigheit vor dem Feind. Und der hatte einen Namen: Die Fredis.
»Du könntest ruhig etwas freundlicher zu mir sein!« Unwirsch versetzte Svea Andersson-Guzzo der druckfrischen Straßenkarte einen derben Handkantenschlag. Hatten sich eben noch blaue Bäche durch smaragdgrüne Wälder geschlängelt, wuselten jetzt jäh endende Wasserwege auf fahlem Grund herum. Ein solches Gewirr von Adern hatte sie zuletzt gesehen, als Tante Bodil ihre altersschwachen Beine entblößt hatte, um ein Tänzchen um den Maibaum zu wagen. Prüfend hielt Svea die Karte hoch, blinzelte durch ein Loch, dort, wo eben noch ein Dörfchen in flammendem Rot geleuchtet hatte. »Harg«, las sie. Das kam ihrem körperlichen und geistigen Befinden erheblich näher als das klangvolle Haselbourg. Mitleidig blickte sie auf das zerknüllte Etwas in ihren Händen - ein genaues Ebenbild ihrer selbst: zerknautscht, zerknickt, schlaff. Neben ihr reckte Philipp sein mürrisches Gesicht der Windschutzscheibe entgegen. Längst hatte sich die Straße in einen reißenden Fluss verwandelt, in dem der alte Ford Transit haltlos wie eine Nussschale von einer Seite zur anderen schlingerte. Gleißend gelbe Sonnenstrahlen brachen durch das samtige Anthrazit des Himmels, so dass Svea geblendet den Kopf abwenden musste.
Ein letztes erfolgloses Mal strich sie über das runzlige Papier. Drei Finger breit unter Philipps rechtem Ohr pochte es unmerklich. Das bläuliche Weiß des eben noch sichtbaren Stückchens Haut im Ausschnitt des Hemdes, die rosigen Flecken auf den Wangen, das Purpur der Stirn erinnerten Svea an jene unguten Abbildungen masern- oder scharlachgeplagter Kinder aus medizinischen Wälzern. Kränklich bleiche Illustrationen, auf denen Pusteln und Geschwüre wie surreale Berggipfel ins Auge des Betrachters ragten. Krater und Kegel des Schreckens, gekrönt von eitrigen Häubchen. Mit einiger Faszination hatte sie als Kind in dem leinengebundenen Werk geblättert, das ihre Mutter gerne zur Illustration drohender Strafen heranzog, wenn Svea - in Nachahmung und als Resultat genauer Beobachtung eines übernervösen Erwachsenen - ihre Grimassen schnitt. »Wenn du nicht damit aufhörst«, hatte Pia sie gewarnt und dabei wahllos in den Seiten geblättert, bis sie eine besonders scheußliche Abbildung gefunden hatte, »wirst du bald«, sie hatte mit einem manikürten Finger auf eine garstige Eiterbeule gewiesen, »so aussehen!«
Svea schüttelte sich. Tauchte aus den Tiefen ihrer Erinnerung auf wie ein Plastiklöffel aus sämigem Kinderbrei. Irgendetwas, ein Plakat vielleicht, hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. »Halt an!«
»Ich hab Hunger«, knurrte Philipp.
»Halt an!«
Mit quietschenden Reifen setzte Philipp zurück, landete schräg auf einem matschigen Randstreifen. Svea kletterte fluchend vom Beifahrersitz.
Philipp Guzzo begutachtete derweil übellaunig die Entdeckung seiner Frau. Vor ihm stieg eine lange schmutziggrüne Fläche gemächlich bergan, deren Ende nicht abzusehen war. Er kniff die Augen zusammen. Das waren mindestens dreihundert Meter. Der beißende Geruch von Kuhdung nahm ihm den Atem. Ein stinknormaler Acker. Und direkt vor ihm ein mickriges, handgemaltes Schild, von dem in trauriggrauen Tränen die Farbe herunterlief: À vendre.
Commissaire Armand Eschenbrenner schleckte sich die schaumigen Reste seines café au lait von den gezwirbelten Schnurrbartspitzen. Mit ausgestreckten Beinen hatte er es sich vor der Hultehouser Winstub bequem gemacht, gut geschützt durch einen riesigen gelben Sonnenschirm, auf dem sich zwei dralle Babys zuprosteten. Schillernde Blasen stiegen aus ihren giftgrünen Erfrischungsgetränken auf. Eschenbrenner betrachtete ein wenig schläfrig das geschäftige Treiben auf der rue. Ah, da kam la petite. »Monique, alors, noch a mirabelle!«
»Oui, monsieur le Commissaire!« Auf halsbrecherischen Plateausohlen trippelte sie davon.
Eine Augenweide. Er schloss die Augen, reduzierte seine einundsechzig Lenze generös auf achtundfünfzig, stellte sich vor, was Monique ihm sonst noch geben könnte - in dieser warmen, goldenen Herbstsonne. Bald würde es mit dem süßen Müßiggang vorbei sein. Irgendein imbécile, ein Hornochse, auf der Metzer Préfecture hatte ein schwachsinniges Austauschprogramm angeleiert. Deutsche Polizisten aus der Grenzregion. Na danke, non merci. Auf deutsches Zack-Zack konnte er verzichten. Mit einem Überbeamten auf engstem Raum, und das kurz vor der Pension. Police sans frontières. Hatte nicht erst kürzlich ein deutscher Polizeibeamter den Slogan wörtlich genommen und fünf lothringische Tierschützer mit dem Wasserwerfer krankenhausreif gespritzt, um danach diskret in ein kleines Dorf in den Pyrenäen versetzt zu werden? Wo er vermutlich verstockte Bergbewohner drangsalierte. Wenn man ihn nicht schon längst auf einen Esel gebunden und in die Wüste geschickt hatte, wo er versuchte, aus dornigem Gestrüpp Trinkbares herauszuzuzeln.
Eschenbrenner gründelte noch ein wenig in der bereits ziemlich leeren bol, der eigens für ihn reservierten Trinkschale. Austausch. Neumodischer Kram. Ein Sonnenstrahl kitzelte ihn an der rot geäderten Wange, ließ sein Milchbärtchen trocknen. Obwohl . Vielleicht schickten sie ja eine Polizistin. Armand gab sich einer Vision vollbusiger Blondheit in praller Uniform hin, tat einen tiefen Seufzer, nahm Haltung an. Er kannte seine Pflichten - auch wenn er sich in der Mittagspause befand. »Monique, wo bleibt mein mirabelle? A bissle tout de suite, alors!«
Während seine Frau voller Tatendrang in grünbraunem Morast umherstakte, verharrte Philipps Blick eigensinnig fünf Zentimeter vor dem Ende seiner ruinierten Schuhe. Er hatte das begeisterte Aufblitzen in ihren Augen gesehen. Kein Wunder, dachte er verdrossen, diese karge Scholle erinnerte original an Schweden.
»Der ideale Bauplatz!«, erscholl es von weiter oben. »Das hast du davon, dass du mich einfach so nach Frankreich verfrachtest! Jetzt darf ich auch mal was entscheiden!«
Philipp seufzte. Waren sie also wieder auf Kindergartenniveau angelangt. Nur, dass Svea diesmal offenbar die Position der Kindergärtnerin einzunehmen gedachte. Er wusste: In diesem verschlammten Elend, umgeben von finster dreinblickenden Vogesenkämmen, würde er seine Zelte aufschlagen müssen. Wie nah er damit Sveas Vorstellung von ihrer gemeinsamen Zukunft kam, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Betreten hob er den Blick. Die zerlaufende Telefonnummer auf dem Schild, das außerdem zunehmend den Gesetzen der Schwerkraft Folge leistete, mahnte zur Eile.
»Handy!«, kommandierte Svea.
Warum nur hatte er sich selbst in diese missliche Lage versetzt? Als Kriminalhauptkommissar hatte er doch eine ruhige Kugel geschoben. Denn im Saarland wurde eher bescheiden gemordet. Lag es daran, dass man im Falle einer Verurteilung für Jahre auf die geliebten Schwenker - kräftig gewürzte, öltriefende Schweineschnitzel - verzichten musste, die jeden Sommer auf den eigens dafür konstruierten Rosten aus »organisiertem« rostfreiem Edelstahl sachte über der Glut hin und her schwangen? Philipp jedenfalls war seinen Landsleuten für diese friedfertige Umsicht dankbar. Gerade aber war ihm, als würde er von seiner eigenen ruhigen Kugel überrollt.
»Philipp! Sie hat gesagt, sie will nicht viel für das Land haben. War schon dreimal verheiratet. Hat genug Geld. Nur dreizehntausend!«
Nur? Er...
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