Schweitzer Fachinformationen
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II
»Und du glaubst wirklich, dass er damit Geld verdient?«, fragte Oma Ziggan, während sie den orangefarbenen Marzipanblock auf eine Größe von sechzig mal sechzig Zentimetern ausrollte. Das massive Nudelholz, das sie benutzte, befand sich schon seit Menschengedenken im Besitz derer von und zu Ciggan, einem alten ungarischen Adelsgeschlecht, dessen Reichtum sich auf die Zucht von schneeweißen Rassepferden gründete, welche Lipizzanern angeblich in nichts nachstanden. »Waren die österreichischen Konkurrenten Warmblüter, so waren die Cigganer Heißblüter«, wurde Cäcilia nicht müde zu betonen. Sie stützte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf die zähe Masse, wobei sie ein ums andere Mal wenig elegant aufstöhnte. Dies war keine Arbeit für eine Dame, die mit Absätzen gerade mal einsfünfzig maß.
»Was weiß denn ich?«, erwiderte Oma Fina leichthin. »Du kennst ihn doch. Fängt was an, knoddelt ein bisschen 'rum, dann kommt was Neues. Frag mich nicht, ob es dieses Mal was taugt! Kohlköpfe und Würstchen! Das mit der Wurst ist mir ja klar: Er ist nun mal ein echter Saarländer. Aber der Kohl? Vielleicht, weil er in der Pfalz geboren wurde. Und offenbar gelten Würstchen und Kohlköpfe in Schweden als typisch deutsch. So hat er es mir wenigstens erklärt. Jedenfalls haben wir Beschäftigung. Und verdienen was dabei. Das ist die Hauptsache.«
»Ach ja?« Zweifelnd ließ Oma Ziggan ihre Blicke über die orangefarbenen und giftgrünen Blöcke wandern, die sich auf jeder freien Ablagefläche stapelten. Mit etwas Fantasie, und sie besaß viel davon, hätte man meinen können, die Wände der winzigen Küche bestünden aus zuckrigen Backsteinen. Selbst Finas verstorbener Ehemann wurde von einem der Kolosse zur Hälfte verdeckt. Bei ihren einsamen Mahlzeiten unterhielt sich Fina rege mit seinem Konterfei. Das schwarze Trauerbändchen am rechten oberen Rand schien sie bei ihrer Konversation nicht zu stören. »So ein festgezurrtes Band passt zu ihm. Er hatte ja auch immer Hosenträger an. Brauchte etwas, woran er sich festhalten konnte«, hatte sie Cäcilia erklärt. Entgegen einer gewissen Unnachgiebigkeit sich selbst und anderen gegenüber spitzte er momentan wie ein Lausbub über den samtigen Marzipanrand, als hoffe er, etwas von der süßen Pracht stibitzen zu können. Gut, dass er sich in seinem jetzigen Zustand nicht sehen kann, dachte Oma Fina, die Cäcilias Blick gefolgt war. Sonst hätte er sich augenblicklich mit seinem Trauerbändchen stranguliert. Ob dieses blasphemischen Gedankens versetzte sie ihrer feingeschnittenen Nase mit den stolz geblähten Nasenflügeln - um welche sie Oma Ziggan ernsthaft beneidete - einen kräftigen Stüber. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Josefine klatschte in die Hände, sodass Cäcilia erschrocken einen kleinen Hüpfer tat, und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
Wenn der Verblichene wüsste, dass sich seine Witwe auf ihre alten Tage noch mit Marzipanrohmasse abplagen musste, er hätte sicherlich so einiges dagegen gehabt. Oma Ziggan runzelte missbilligend die Stirn. Gekannt hatte sie ihn ja nicht. Und Josefine hatte sie erst nach dem Ableben des Gatten kennen gelernt. Genauer gesagt, als Oma Fina nach angemessener Trauerzeit gezwungen war, sich wieder alleine durchs Leben zu schlagen. Selbst hatte sie das schon geraume Zeit getan, denn Oberstleutnant Freiherr von und zu Ciggan hatte nur die ersten Wochen des Zweiten Weltkriegs überlebt. Von einer feindlichen Kugel getroffen, war er von Esterházy, seinem Lieblingshengst, gestürzt. Dieser hatte daraufhin augenrollend das Weite gesucht und alsbald eine ausgemergelte Mauleselin gefunden, die er mit seinem ausgesuchten Samen beglückte. Wie dem auch sei: Im Geiste sah Cäcilia ihren Gatten stets samt Ross auf einem sturmumtosten Hügel auftauchen. Gerade noch hatte er spähend die behandschuhte Hand über die blitzenden Augen gelegt, da ereilte ihn auch schon der Tod. Plagten Oma Ziggan Herzrhythmusstörungen, ließ sie diesen Teil weg. Man musste realistisch bleiben. An dieser Stelle stellte sich für sie gemeinhin die Frage nach Morgengrauen oder Abenddämmerung. Tatsächlich war Freiherr von Ciggan so unvermittelt und zugleich tot aus dem Leben getreten, dass ihm für poetische Ausblicke gänzlich die Zeit gefehlt hatte. Sie wischte sich mit klebrigen Fingern eine Träne aus dem Auge. Josefine jedenfalls, in ihrer praktischen Art, hatte sie nach der samstäglichen Vorabendmesse einfach untergehakt. »Kommen Sie, Oma Ziggan, halten Sie sich an mir fest. Zu zweit geht es leichter.« Oma Ziggan - wie sie es hasste, so genannt zu werden. Sie kannte die Frau doch überhaupt nicht. Widerstandslos hatte sie sich von der kleinen, molligen Frau mitziehen lassen. Erst, als sie von der anderen bis fast vor ihre Haustür geschleift worden war, hatte sie freundlich, aber bestimmt, gefragt: »Und mit wem habe ich die Ehre?«
»Ob es eine Ehre ist, weiß ich nicht«, hatte ihre selbsternannte Freundin unbekümmert geantwortet. »Aber ich bin die Josefine Reuther, die Oma Fina.« Mit diesen Worten hatte sie ihr die Hand hingestreckt. Nun, dem Benehmen nach entsprach diese Frau nicht ganz ihrem Umgang. Aber, wenn sie es sich recht überlegte . Mit einem noch unsicheren schiefen Lächeln hatte Cäcilia endlich die dargebotene Hand ergriffen, die sich erstaunlich zart und feingliedrig anfühlte. »Cäcilia, Cäcilia Amalia von und zu Ciggan, angenehm.«
»Wenn's recht ist, lassen wir die Formalitäten. Jeder hier nennt Sie Oma Ziggan, und ich finde, das passt am besten zu Ihnen.« Sie kniff Cäcilia verschwörerisch in den Arm. »Das andere klingt irgendwie so gestelzt, so nach Csardasfürstin. Hoi, hoi, hoppa!«
In diesem Augenblick musste Cäcilia, ob sie wollte oder nicht, erkennen, dass ihre Umgebung offenbar ein anderes Bild von ihr hatte als das von ihr autorisierte. Sie öffnete den zartrosa geschminkten Mund, wollte protestieren, doch da hatte ihre neue Bekanntschaft schon das Thema gewechselt: »Sagen Sie, wollen wir ab jetzt nicht gemeinsam zur Kirche gehen? Ich meine, wo man heutzutage doch mit allem Möglichen rechnen muss.«
Und jetzt stand sie hier, walzte mit Fina eklig klebrige Marzipanblöcke platt. Dafür hatte Fürst Ciggan sicher nicht sein Leben gegeben. Cäcilia versetzte dem hauchdünn ausgerollten Teig ein paar derbe Schläge mit der Handkante. Frenetisch drückte sie daraufhin hie und da ein paar Dellen in die schimmernde Masse.
»Pass auf«, Oma Fina warf ihr einen verärgerten Blick zu, »dass du keine Löcher in das Marzipan machst. Er sagte, das Zeug wär' verdammt teuer und die Kunden würden auf exakt gearbeitete Stücke bestehen.
»Auf exakt gearbeitete Stücke«, näselte Cäcilia in affektiertem Tonfall. »Warum dein Enkel diese Dinger da aus Schweden herschaffen muss, ist mir schleierhaft. Als ob es hier nicht auch Marzipan gäbe. Wahrscheinlich sogar besseres. Ich sage nur: Lüneburg.«
»Du meinst Lübeck. Aber, wie ich dir bereits erklärt habe«, Josefine sprach nachsichtig wie zu einem begriffsstutzigen Kind, »handelt es sich hierbei um besonderes Marzipan. Die Schweden haben eine spezielle Art es herzustellen. Und die Hauptsache ist doch, dass wir es veredeln.« Josefine nahm eine der dunkelgrünen Flaschen aus dem Regal zu ihrer Rechten und träufelte den Inhalt auf die fertigen Teigplatten. »So«, beschied sie, »kommt Opa Brenners Reineclaudenschnaps auch noch zu Ehren. Jetzt verkneten wir das Ganze gut, und dann rollen wir es wieder aus.«
Cäcilia beobachtete die spiegelnde Oberfläche mit skeptischem Blick, die zierlichen Hände in die Seiten gestemmt. »Mir kommt das komisch vor«, murmelte sie trotzig. »Marzipan aus Schweden! Davon hat doch noch kein Mensch was gehört! Ich meine, wir haben früher viel Marzipan gegessen. Und damit meine ich: echtes Marzipan. Süße kleine Schweinchen .« Sie formte mit den Händen ein imaginäres Gebilde von gut fünfzig Zentimetern Durchmesser. »Aber meine Mutter wäre doch nie - nie! - auf die Idee gekommen, das Marzipan aus Schweden kommen zu lassen. Aus Lüneburg vielleicht, aber doch nicht aus Schweden.«
Sicherheitshalber rückte sie jetzt ein wenig zur Seite. Denn die Freundin war ihr bedrohlich nahe auf die Pelle gerückt. Am liebsten hätte sie sich über ihre verunstaltete Marzipankugel geworfen. So allerdings konnte sie gerade noch versuchen, sie unter ihrem verflucht kleinen Schatten zu verbergen. Zu spät: Josefines gestrenger Blick fiel auf die grauen Fingerabdrücke im hügeligen Giftgrün. »Was ist das?«, fragte sie mit jenem gefährlichen Unterton, der Cäcilia von jeher das Fürchten gelehrt hatte.
»Gar nichts!«, erwiderte Cäcilia, riss ein Geschirrtuch von einem verschnörkelten Metallhaken und warf es über die Kugel. Mit schnellem Griff hatte Josefine es wieder weggezogen.
»Da soll mich doch .«
»Dann muss man eben ein Schälchen mit Zitronensaft hinstellen«, verteidigte sich Cäcilia mit weinerlicher Stimme. »Dann kann man sich auch ab und zu die Finger säubern.«
»Marsch, ins Bad, Händewaschen!«, kommandierte Josefine.
Ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, riss sich Cäcilia die enzianblaue Leinenschürze vom Leib. Sie feuerte sie auf den nächstbesten Stuhl und stürmte erhobenen Hauptes durch die Tür. Mit zitternden Fingern schnappte sie sich ihren Mantel, setzte ihren Hut auf die weißen Löckchen und verließ laut schluchzend das Haus. Als sie bereits auf der Straße stand, drehte sie sich noch einmal um. »Du siehst mich nie, nie wieder!«, heulte sie gegen die geschlossene Haustür, fasste sich dann aber wieder, weil Apotheker Rittersporn, zierlich seinen Spazierstock schwingend,...
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