»Als ich mich über die Leiche beugte, wurde mir übel. Ich bin eine Mörderin, dachte ich, während ich mich auf eine Obstkiste setzte. Warum ist sie nicht weggelaufen? Sie wusste doch, dass ich sie nicht leiden kann! Ich schrie sie oft an, fand die Vorstellung, mit ihr unter einem Dach zu leben, unerträglich. Ich drohte ihr des Öfteren, aber sie nahm mich nicht ernst. Ich musste sie vergiften, mich aus dieser Zwangsgemeinschaft befreien. Eine andere Wahl hatte ich nicht.
Ich stand langsam auf, zog Gummihandschuhe an und legte das leblose Vieh in die Mülltonne. Mir ging es richtig schlecht.«
Meine Nachbarin schüttelte sich, als sie mir den Vorfall mit der Ratte in ihrer Küche erzählte. Lorena hatte gestern Abend, als wir uns im Garten begegnet waren, völlig verzweifelt ausgesehen.
»Wie schaffen Sie es nur, mörderische Geschichten zu schreiben?«, fragte sie mich stirnrunzelnd. »Sie sehen so harmlos aus!«
»Ich finde Krimis einfach faszinierend«, antwortete ich. »Agatha Christies Bücher inspirieren mich. Wenn ich könnte, würde ich Poirot und Miss Marple adoptieren. Die beiden sind doch genial, finden Sie nicht?«, fragte ich mit funkelnden Augen.
»Ich weiß nicht.« Meine Nachbarin schüttelte skeptisch den Kopf. »Ich lese lieber zuckersüße Liebesromane. Wenn ich mich in den Bücherläden umschaue, sehe ich überall Cover mit Blutstropfen und Messern. Wer bitte schön liest denn so etwas?«
»Es gibt viele Menschen, die es regelrecht genießen, sich beim Lesen zu gruseln und Gänsehaut zu bekommen«, schmunzelte ich. »Es gibt aber auch genug harmlose Geschichten zu kaufen.«
»Die Märchen von den Grimm-Brüdern habe ich als Kind auch nicht gemocht«, erinnerte sich Lorena. »Besonders schlimm fand ich die Erzählung von Schneewittchen. Ich stelle mir heute noch vor, was wohl passiert wäre, wenn der Jäger nicht so einen guten Charakter gehabt hätte. Ich male mir aus, wie er seinen Auftrag letztendlich doch erfüllt, das Herz des Mädchens herausschneidet und es der Königin auf einem Silbertablett präsentiert. Diese öffnet eine Flasche Chianti und genießt den Abend in vollen Zügen.«
»Sie haben eine lebhafte Fantasie«, lachte ich. »Sie könnten doch wunderbare Horrorgeschichten schreiben!«
Nach meiner Unterhaltung mit Lorena war die Nacht alles andere als erholsam. Ich träumte von Hänsel und Gretel, zwei süßen Kindern mit Kulleraugen, und davon, wie die beiden, ein Liedchen pfeifend, die Hexe in den Ofen schoben. Kurz bevor der Braten fertig war, erschienen einige Zwerge, diesmal ohne weibliche Begleitung. Die gut gelaunten Minenarbeiter versammelten sich rasch um einen hübsch gedeckten Gartentisch herum. Die kleinen Männer begrüßten einen Koch, der plötzlich aus dem Knusperhäuschen zum Vorschein kam, die Kinder zum Händewaschen schickte und wie mein Ex, Giovanni, aussah, mit einem lauten »Hi ho, hi ho!«. Alle freuten sich auf die leckere Mahlzeit. Der Koch erklärte seinen Gästen kurz, dass Kochen Männerarbeit sei, und holte die dampfende Hexe aus der Röhre. Es roch unangenehm nach verbranntem Fleisch, aber die gute Frau schien den Backprozess fast unbeschadet überstanden zu haben. Sie kreischte laut, während sie aufgekratzt hin und her hüpfte und schließlich meinen Exfreund in den Ofen schubsen wollte. Ich hörte, wie Giovanni mich laut um Hilfe anflehte, stand aber wie angewurzelt in der Küchentür.
Schweißgebadet wachte ich auf. Mein Herz klopfte so laut, dass ich mir ernsthaft überlegte, an die Tür zu gehen. Im Halbschlaf wanderten meine Gedanken zu all meinen Protagonisten, zu den Helden der Verbrecherbekämpfung, und ich dachte an die Recherchen, die ich einst für meine Bücher betrieben hatte. Ich spürte, dass ich von Morden und Mördern erst einmal genug hatte. Wenn ich schon von einem Kindermärchen Alpträume bekam, sollte ich wohl besser die Finger von der dunklen Seite des Lebens lassen. Ich brauchte eine neue Herausforderung, neue Inspirationen. Obwohl sich meine vorherigen Bücher (ich hatte bis jetzt ausschließlich Krimis geschrieben) gut verkauft hatten, fühlte ich mich plötzlich leer und vollkommen unfähig, meine Gedanken zu ordnen, geschweige denn literarische Spuren in der Welt zu hinterlassen .
Vielleicht sollte ich mich eine Zeit lang ausschließlich den schönen Dingen des Lebens widmen, überlegte ich, nachdem ich mich aus dem Bett gequält hatte. Ich entschloss mich, eine Auszeit zu nehmen und die nächsten Wochen mit Gartenarbeit, langen Spaziergängen und Museumsbesuchen zu verbringen, und hoffte darauf, dass mir neue Ideen wie von allein »zufliegen« würden. Mein Plan gefiel mir, und ich dachte im Traum nicht daran, dass mir das Leben einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Natürlich kam alles anders als geplant .
Lieber Giovanni,
wie versprochen habe ich Deine Sachen in eine Kiste gepackt. Leider bin ich in meinem Eifer ungünstig gestolpert, die wertvolle Plattensammlung ist hin. Deine weiße Lieblingsjeans habe ich aus Versehen mit meinem roten BH gewaschen. Hoffentlich findest Du die Hose, die jetzt einen pinken Touch hat, immer noch hübsch. Dein Laptop funktioniert womöglich nicht mehr, die blöde Kaffeetasse ist schon wieder umgekippt, als ich das Gerät aufgeklappt habe. Mein Computer arbeitet inzwischen einwandfrei, Du kannst Deinen elektrischen Schatz wiederhaben. Deine alten Socken und die Unterhosen sind in Ordnung, die habe ich natürlich mit eingepackt. Nachdem Du Deine Sachen abgeholt hast, wirf bitte den Schlüssel in meinen Briefkasten!
Ich wünsche Dir viel Glück mit Deiner neuen Flamme. Hoffentlich ist sie nicht so tollpatschig wie ich!
Viele liebe Grüße
Francesca
Bevor ich es mir noch anders überlegte, drückte ich auf Enter. Meine Nachricht würde meinen Exfreund wahrscheinlich kurz nach dem Aufstehen erreichen, er schlief oft bis zum Mittag. Seine Sachen warteten in einwandfreiem Zustand auf ihn, den Kellerschlüssel hatte ich ihm noch nicht abgenommen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie er nachher schweißgebadet seine Kisten durchwühlen würde. Ich gönnte ihm den Spaß.
Ich schaltete den Computer aus, meine E-Mails wollte ich später beantworten, und rief meine Verlegerin Allegra an, die schon seit einiger Zeit eng mit mir zusammenarbeitete. Ich erzählte ihr von meiner Schaffenskrise, aber sie schien mein Dilemma überhaupt nicht ernst zu nehmen.
»Natürlich schaffst du es, ein neues Buch zu schreiben!«, sagte Allegra. »Ich helfe dir auch dabei.«
»Ich bin völlig ausgebrannt«, stöhnte ich. »Von Krimis habe ich die Nase voll und für etwas anderes fällt mir nichts ein!«
»Wie wäre es, wenn deine Protagonistin mal eine Untote wäre und Liebeskummer hätte?«, fragte mich Allegra. »Schreib doch eine gefühlvolle Erzählung, die zum Beispiel im Mittelalter spielt. Solche Geschichten nehmen wir immer wieder gerne, und du kennst dich mit dem Thema bestens aus. Ein bisschen Herzschmerz, Tränen, eine neue Liebe, Konflikt mit dem Neuen, Versöhnung und Happy End. Du inszenierst die Geschichte in einer romantischen Umgebung, viel mehr brauchst du nicht. Diesmal müsstest du auch keinen unter die Erde bringen. Lass dich einfach von deinem Trennungsschmerz inspirieren!«
»Du hast mir nicht zugehört«, sagte ich vorwurfsvoll. »Ich bin momentan keineswegs in der Lage, eine Liebesgeschichte zu schreiben.« Ich fragte mich, woher Allegra von meiner Trennung wusste. Ich hatte ihr bis jetzt nichts davon erzählt. »Obwohl, wenn ich es mir überlege: einen Krimi würde ich vielleicht noch hinkriegen, zum Beispiel mit dem Titel Die Rache der Frau. Ein bisschen Gift oder ein Messer im Rücken, eine schöne Geschichte, in der am Ende die Frau ungestraft davonkommt. Sie begeht den perfekten Mord und erbt das Haus, den Porsche und die Jacht des Mannes. Das nenne ich doch ein Happy End ? was meinst du?«
Allegra lachte laut auf.
»Francesca, ruf mich an, wenn du wieder klar denken kannst, und putze dir endlich die Nase! Ach, und noch was: Ich habe dich damals gewarnt!«
Während ich mir überlegte, wie ich den Tag verbringen sollte, wühlte ich in meiner Schreibtischschublade. Vor einigen Wochen hatte mir meine Tante Sofia einen Gutschein für einen Kosmetikbesuch geschenkt - mit den Worten »Kind, in deinem Alter sollte man regelmäßig etwas für seine Haut tun«. Den endlich einzulösen, schien mir angesichts meiner Lage eine gute Idee. Die Trennung von Giovanni, den ich vor einem Jahr in einem Bücherladen kennengelernt hatte und der sich plötzlich für junges Gemüse um die zwanzig interessierte, hinterließ deutliche Spuren an mir: dunkle Augenringe und überall rote Flecken im Gesicht ? da konnten eine ausgiebige Massage und eine fachgerechte Behandlung bestimmt nicht schaden. Ich suchte vergeblich nach dem Gutschein . vielleicht war er immer noch in meiner Handtasche . und stieß stattdessen auf einen gefüllten Briefumschlag von meinem Onkel Pepe.
Mein Onkel schrieb kurzweilige Geschichten, seit ich mich an ihn erinnern konnte: inspiriert von seinem eigenen Leben, Geschichten, die ihm jemand erzählt hatte, oder einfach geleitet von seiner regen Fantasie. Seine schönsten Texte schenkte er mir, und ich hatte die handbeschriebenen Karten alle behutsam aufgehoben.
Die Suppe war versalzen und roch stark nach Spülwasser. Die Brühe hatte eine undefinierbare Farbe, einige Haare blieben an dem Suppenlöffel hängen. Das Fleisch war zäh, ich machte mir Sorgen um Opas Gebiss. Das Kartoffelpüree hatte eine...