Schweitzer Fachinformationen
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„Ich bin es“, sagte die noch immer vertraute Stimme. „Hella. Ich brauche deine Hilfe. Als Anwältin. Kannst du gleich zu mir kommen?“
Kristina schluckte. Sie spürte, wie Ärger in ihr aufstieg. Wie lange hatten sie sich nicht gesprochen? Fünf Jahre oder mehr? Ging Hella davon aus, dass sie gute Freundinnen waren? Gab es keine anderen Anwälte in dieser Stadt? Und konnte sie sich nicht wenigstens einen Termin geben lassen?
„Bitte“, setzte die Frau am anderen Ende der Leitung nach und klang für einen Augenblick ziemlich kläglich. „Es ist wirklich sehr dringend.“
„In Ordnung. Ich wollte sowieso gerade los. Ich komm dann mal kurz bei euch vorbei.“
Mit dem Fahrrad war Kristina in weniger als zehn Minuten dort. Sie hatte den Weg, der durch die etwas schäbig wirkende Parkanlage am Elbhang führte, in den letzten Jahren eher gemieden. Der Grünstreifen trennte die Stadt vom Fischereihafen. Eigentlich schade, dass sie in letzter Zeit so selten dort unten gewesen war, dachte Kristina. Sie mochte diesen Teil des Elbufers mit seinen Kühlhäusern, Räuchereien, Großhändlern und improvisierten Fischbratküchen. Früher hatten sie dort manchmal einen ganzen gefrorenen Lachs erstanden. Oder sie waren sonntags frühmorgens über den Fischmarkt gezogen und hatten fürs Frühstück eingekauft.
Und dann war sie auch schon angekommen. Das Haus, das auf halber Höhe über dem Fluss klebte, hatte sich ganz schön herausgemacht.
Auf dem lehmigen Vorplatz hatten sie damals stundenlang auf Bierbänken gesessen und diskutiert. Jetzt war dort ein liebevoll gestalteter Garten entstanden. Natursteine fassten Beete ein, in denen Sommerblumen blühten. Es gab mehrere kleine Sitzplätze mit Gartenmöbeln in bunten Farben.
Das Gebäude war vor über hundert Jahren erbaut worden, damals vermutlich als einfache Unterkunft für die Männer und Frauen, die im Fischereihafen arbeiteten. Jetzt hatte es an der Vorderfront großzügige Balkons bekommen, neue Holzfenster und einen Anstrich in einem Farbton, den man in letzter Zeit überall sah. Apricot, dachte Kristina. Das hätte uns damals jemand erzählen sollen. Aus dem autonomen Hausprojekt am Elbhang war eine stilvolle Wohnanlage geworden. Es gab sogar richtige Namensschilder mit Klingeln. „Karl Polaske“ stand auf einem Schild und auf einem anderen „Hella, Martin und Anton Stehr“.
Sie klingelte. Hella machte sofort auf. Mit ihrem langen roten Haar und den leuchtend grünen Augen war sie noch immer eine beeindruckende Erscheinung. Sie trug auch noch dieselbe Art Kleidung: wallend, vielschichtig und irgendwie raffiniert. Kein Wunder, dass die Männer damals reihenweise in sie verknallt waren, dachte Kristina. Hella hatte sich eben schon immer getraut, bunt und schillernd herumzulaufen. Während Kristina und ihre anderen Mitbewohnerinnen sich damals meist in verwaschenen blaugrauen oder grauschwarzen Kapuzenpullis und Jeans versteckten. Auch daran, so stellte Kristina mit einem kurzen selbstkritischen Blick auf ihre abgewetzte, schlammfarbene Cordjacke fest, hatte sich seitdem nicht viel geändert. Sie nahm sich vor, sich noch was zum Anziehen zu kaufen, bevor Michel kam. Endlich mal wieder etwas richtig Buntes.
„Komm rein“, sagte Hella. Wie selbstverständlich folgte die Anwältin ihr in die Küche. Seit ihrem Auszug war sie kein einziges Mal mehr hier gewesen.
Der Raum war kaum wiederzuerkennen. Die ausgemusterten Haushaltsgeräte, die sie damals vom Sperrmüll organisiert hatten, waren ebenso verschwunden wie die übrigen Möbelstücke, an die sie sich plötzlich leicht angeekelt erinnerte. Dort an der Wand hatten sie drei alte Oberschränke übereinandergestapelt, deren Plastikfurniere sich von den aufquellenden Spanplatten abhoben.
Jetzt gab es hier geschmackvolle Schrankelemente aus Vollholz. Der sechsflammige Gasherd signalisierte, dass man gern und gut kochte. An einer schlichten Metallstange hing professionell wirkendes Kochwerkzeug. In großen Gläsern wurden verschiedene Sorten Nudeln aufbewahrt. Keine Frage, in den Elbhang war Lebensart eingezogen.
Nur der große Tisch, den sie damals von Hellas Oma geerbt hatten, war immer noch da. Er stand wie eh und je in der Mitte des Raumes. Und auch Hella schien ihren Stammplatz über zwei Jahrzehnte hinweg erfolgreich verteidigt zu haben. Früher hatte sie stets neben dem Fenster gesessen, das einen weiten Blick auf die Elbe eröffnete. Inzwischen gab es an derselben Stelle eine zweiflügelige Balkontür.
Auf dem Tisch stand eine Kanne Tee, vor Hella eine große blaue Tasse. Sie könnte mir auch etwas davon anbieten, dachte Kristina. Aber sie wird es wahrscheinlich nicht tun.
„Es geht um Anton“, erklärte Hella, ohne sich um irgendeine Einleitung zu bemühen. „Er ist verschwunden.“
An der Pinnwand hinter ihr waren Fotos von einem lachenden jungen Mann mit halblangem rotblondem Haar zu sehen. Die Bilder waren irgendwo an einem Strand aufgenommen, der Junge hatte nur eine Badehose an.
„Wie alt ist er?“, fragte Kristina erstaunt.
„18. Nächstes Jahr macht er Abi.“
Anton. Das erste Baby, das am Elbhang zur Welt gekommen war. Kristina hatte dieses Kind von Anfang an geliebt. Hella war froh gewesen, wenn ihre Mitbewohnerin den quengelnden Säugling durch die Wohnung schleppte, bis er endlich einschlief. Und Kristina hatte es genossen, diesen kleinen, warmen Menschen auf dem Arm zu halten. Einen, der nicht mit ihr über politische Notwendigkeiten diskutierte und sie auch nicht an ihr juristisches Staatsexamen erinnerte. Sondern lachte oder heulte und Aufmerksamkeit forderte, in die Windel schiss oder seinen Löffel voll Brei quer durch die Küche warf, wenn ihm danach war. Dieser kleine Junge hatte für sie eine Verbindung zu Hella geschaffen, auch dann noch, als alles andere zwischen ihnen schon ziemlich verquer war.
„Meine Güte, er ist ja so gut wie erwachsen. Seit wann vermisst du ihn denn?“
„Seit gestern. Aber du brauchst mir jetzt nicht zu erzählen, dass man in diesem Alter mal frisch verknallt ist oder mit seinen Freunden um die Häuser zieht. Denn vorhin kam diese Mail. Von ihm. Oder wahrscheinlich nicht von ihm.“
Hella schob ihr einen Computerausdruck zu, der auf dem Küchentisch lag.
YahAnton@gmx.de
MEZ 22. 06., 15.27
Wir haben Anton.
Sie besorgen 100.000.
Bis Übermorgen.
Schicken Sie seinen Vater.
Keine Polizei. Keine Presse. Keine Tricks.
Es geht um eine gerechte Sache.
Ein harmloses Stück Papier. Eine E-Mail, wie sie millionenfach jeden Tag verschickt wurde. Und doch war der Anwältin der Ernst der Lage sofort klar. Entführer mochten dumm und naiv sein, das wusste man. Aber das machte sie nicht weniger gefährlich.
„Hast du schon überlegt, ob du die Polizei …?“
Hella schüttelte entschieden den Kopf. „Auf keinen Fall. Das ist zu riskant. Wenn wirklich Kriminelle dahinterstecken …“
„Was denkst du denn, was es sonst sein könnte?“
„Na ja, es könnte auch sein, dass er selbst … Du kannst dir ja nicht vorstellen, was die in diesem Alter so veranstalten.“
Nein, kann ich nicht, dachte Kristina, und spürte wieder diesen kleinen eifersüchtigen Stich im Herzen.
„Du meinst, es könnte ein blöder Scherz sein, den er sich selbst mit ein paar Kumpels ausgedacht hat?“
„Eigentlich traue ich meinem Sohn so etwas selbstverständlich nicht zu“, stellte Hella klar. „Aber wenn er doch … wenn das rauskommt und die Polizei schon einen großen Einsatz gestartet hat, hat er eine Anzeige wegen Vortäuschung einer Straftat am Hals. Und ich eine Menge Kosten.“
„Stimmt“, sagte Kristina. „Wer mutwillig einen Polizeieinsatz auslöst, muss dafür zahlen. Und das kann sehr teuer werden.“ Es überraschte sie, dass Hella ihren Sohn einer solchen Herzlosigkeit für fähig hielt.
„Wo ist eigentlich sein Vater, wo ist Martin?“
Hella umklammerte ihre Teetasse mit beiden Händen, so fest, dass ihre Knöchel spitz hervortraten. Eine kurze Irritation huschte über ihr Gesicht. Dann fing sie sich wieder. „Der ist auf einer Trekkingtour in Nepal. Er ist gerade erst losgefahren und wahrscheinlich wochenlang nicht zu erreichen“, erklärte sie und klang dabei etwas vorwurfsvoll. Sie schwieg für einen Moment. Dann setzte sie hinzu: „Wir leben nicht mehr zusammen.“
„Ach so. Tut mir leid. Gibt es jemand anderen, der dich jetzt unterstützen kann?“
„Hier aus dem Haus sind fast alle verreist. Aber Kalle … ich hab ihn gleich angerufen. Er ist in seinem Haus in der Toskana, aber er kommt so schnell wie möglich. Heute noch, wenn er den letzten Flieger in Florenz erwischt. Sonst morgen ganz früh. Er kann auch das Geld besorgen. Hat er jedenfalls am Telefon gesagt.“
Natürlich Kalle. Wer denn sonst.
Im Grunde hatten sie sich alle doch immer ein wenig darüber gewundert, dass Hellas Wahl auf den eher farblosen, soliden Martin gefallen war. Und nicht auf Karl, den sie früher alle nur Kalle genannt hatten. Denn Kalle und Hella waren jahrelang die ungekrönten Regenten des Elbhangs gewesen.
Seine Position als Kopf der Gruppe war Kalle scheinbar ganz natürlich zugefallen. Er war der Älteste, der Erfahrenste und ohne Zweifel auch der Klügste von ihnen. Karl hatte sein Studium damals schon lange abgeschlossen und sogar promoviert. Und war trotzdem ein radikaler Systemkritiker geblieben. Er war es auch, der das Gebäude am Elbhang für sie ausfindig gemacht hatte: ein Wohnhaus, das seit Jahren leer stand. Ein typisches Spekulationsobjekt in attraktiver Lage. Eigentümer war eine dubiose...
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