Schweitzer Fachinformationen
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ZWEI
Zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens passierte nie etwas Gutes. Davon war Florence nicht nur überzeugt, es war bewiesen. Niemand, der einen um diese Uhrzeit aufweckt, hat etwas Anständiges anzubieten oder möchte irgendwelche guten Nachrichten mit einem teilen. Die Mitte der Nacht ist der Zeitpunkt, an dem einem Dinge genommen werden.
»Florence, Florence«, flüsterte ihre Mutter Betty ihr ins Ohr und schüttelte sie.
Florence wachte auf, öffnete aber nicht die Augen.
»Bist du wach?«, fragte ihre Mutter. »Ich habe diesen Ort satt, lass uns einen anderen suchen.«
»Schon wieder?«, fragte Florence. Ihre Mutter hatte in letzter Zeit eine Menge Orte satt, in der Regel zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens. »Irgendwie gefällt es mir hier.«
Tat es wirklich. Außerdem hatte sie sich ihr Leben lang einen Garten gewünscht, und dieses Haus hatte hinten ein kleines Fleckchen Erde, wo sie eine einzelne Rhabarberstaude gepflanzt hatte. Das war nicht viel, aber sie gehörte ihr.
»Nein, tut es nicht«, sagte ihre Mutter. »Hier, zieh deine Jacke an.«
»Kann ich mich nicht noch umziehen?«
»Ich habe deine Sachen bereits gepackt. Du kannst dich umziehen, wenn wir irgendwo angekommen sind.«
»Wohin gehen wir?«
»Lass uns das herausfinden«, sagte ihre Mutter und lächelte.
Die häufigen, frühmorgendlichen Fluchten waren für Florence stets beängstigend gewesen. Mit zunehmendem Alter jedoch wurde ihr klar, dass ihre Angst weder jemandem half noch die Entscheidungen ihrer Mutter beeinflusste und dass es härter und weltläufiger war, genervt zu sein. Diesmal nervte es Florence ganz besonders, dass ihre Mutter entschieden hatte, in einer so kalten Nacht zu fliehen. Schließlich gab es Wettervorhersagen, die die Leute in ihre Planung mit einbeziehen konnten, doch manchmal schien ihre Mutter gegen gesunden Menschenverstand immun zu sein. Vor zwei Tagen, an ihrem zwölf?ten Geburtstag, war es zehn Grad wärmer gewesen, und selbst wenn es ein lausiges Geburtstagsgeschenk gewesen wäre, wieder auf der Straße zu sein, ohne einen Platz zum Schlafen, wäre ihr das lieber gewesen als zu erfrieren.
Als wäre Florence noch nicht ausreichend beunruhigt, musste sie sich an diesem Morgen schon wieder einen von Betty Millers Lieblingssprüchen anhören: »Ablehnen kann man immer.« Seit ihre Mutter vor vielen Jahren ihr Auto verkauft hatte, hatte sie eine Menge Mitfahrgelegenheiten abgelehnt. Aber um drei Uhr morgens schien es nicht so, als gäbe es genug Autos und Lastwagen auf den Straßen von Lake City, Minnesota, um besonders wählerisch sein zu können. Doch ihre Mutter war es und sagte es den verschmähten Fahrern auf eine Art ins Gesicht, bei der sie sich geschmeichelt fühlen konnten.
»Oh, wir können nicht mit Ihnen mitfahren«, erklärte sie einem deutlich betrunkenen Mann in einem zigarrenverqualmten Studebaker. »Wir müssen auf jemand weniger Attraktiven warten.«
Als der Mann verwirrt davonfuhr, funkelte Florence ihre Mutter böse an. »Der Mann sah überhaupt nicht gut aus. Warum lügst du die so an?«
»Männer sind empfindlich, Liebling«, sagte Betty. »Wenn ich einem Mann sage, dass er zu viel getrunken hat und sich womöglich selbst umbringt, könnte er das als eine Beleidigung auf?fassen. Und Männer verlieren oft Anstand und Beherrschung, wenn sie sich beleidigt fühlen.«
»Warum müssen wir ausgerechnet jetzt gehen? Was stimmte denn mit dem Haus nicht?«
Mit dem Haus, in dem sie gelebt hatten, stimmten natürlich eine Menge Dinge nicht. Weswegen ihre Mutter, aus Prinzip, dem Eigentümer, einem Mann namens Maylone, keine Miete gezahlt hatte. Er war schmierig und gemein, hatte einen kleinen, dünnen Schnurrbart und sah ihre Mutter auf eine verstörende Weise an. Dennoch war es besser gewesen als an den meisten Orten, an denen sie geschlafen hatten. Sie hatten fast noch nie irgendwo gewohnt, wo es eine Toilette im Haus sowie fließend warmes Wasser gab. Und nur gelegentlich hatten sie mal Strom. Florence hatte ihrer Mutter sogar gesagt, sie würde ihr freiwillig helfen, ein komplettes Haus zu putzen, wenn sie nie wieder eine Nacht in einem Elendsviertel verbringen müssten. Doch selbst wenn sie an einem halbwegs anständigen Ort gelandet waren, fand Betty immer einen Grund, wieder zu gehen.
»Es verletzt die Ehre deiner Großmutter Julia, wenn wir unseren Lebensstandard weiter zurückschrauben«, sagte Betty. Julia war eine Winthrop, erinnerte ihre Mutter sie gern.
Florence hatte sich immer begeistert beteiligt, wenn ihre Mutter darüber fantasierte, wo sie heutzutage wären, wenn Henry Winthrops Vermögen nicht nur unter seinen vier Söhnen aufgeteilt worden wäre, sondern er auch Florences Großmutter Julia miteinbezogen hätte. Was immer in Julias Richtung gekleckert wäre, hätte jedoch inzwischen längst die Erde verlassen, gemeinsam mit Julia. Dass Betty und Florence nichts Greifbares aus der verschwundenen Welt der Winthrops mit ihren Frühlingsgalas, Großindustriellen, privaten Chefköchen, Hausmädchen und Butlern besaßen, machte den Traum nicht weniger berauschend. Über ein Jahr lang erzählte Florence jedem, den sie kennenlernte, sie hieße Florence Winthrop, bis sie eines Tages mitbekam, wie jemand sagte: Schau, selbst bei den Winthrops geht es bergab.
»Julia Winthrop würde vermutlich mit uns auf der Straße sitzen«, sagte Florence.
»Das würde sie ganz sicher nicht. Und wir sitzen nicht auf der Straße, wir entscheiden uns, wo wir als Nächstes leben werden. Los, komm, lass uns zu der Tankstelle gehen.«
Florence wollte ihre beiden Koffer in dieser Nacht nicht noch weiter schleppen - sie waren bereits einen Kilometer gelaufen, nur um bis zum Highway zu kommen -, doch nachdem ihre Mutter erst mal losgelaufen war, hatte sie keine andere Wahl, als zu folgen. Aus der Nähe sah es nicht aus wie eine nette Tankstelle; es sah aus wie ein schäbiges kleines Haus, in dessen Vorgarten ein paar Zapfsäulen standen. Außerdem hatte sie eindeutig noch nicht geöffnet. Mit anderen Worten, sie sah perfekt aus, was Betty Miller betraf.
»Über kurz oder lang kommt hier unser Prinz oder unsere Prinzessin vorbei, und bis dahin wird uns niemand schikanieren«, sagte Betty, während sie auf einer ausgeblichenen weißen Bank zwischen ihren Koffern saß und den dünnen Hals reckte, um mit ihren wachsamen Augen in die stille Dunkelheit zu schauen.
Florence rollte sich wärmesuchend in Richtung ihrer Mutter zusammen und schlief wieder ein.
Als Florence das nächste Mal die Augen öffnete, war es Morgen, und sie stellte überrascht fest, wie nah sie ihrer Mutter war, als wäre der Koffer zwischen ihnen bewegt worden. Sie keuchte, setzte sich auf, schaute unter der Bank nach, dahinter und auf beiden Seiten. Alle vier Koffer, die ihre Kleidung enthielten, ihre Bücher und Kleinigkeiten, alles, was sie besaßen und über Jahre angesammelt hatten, war fort. Florence wusste nicht, ob sie weinen oder ohnmächtig werden sollte.
»Mama«, sagte Florence unter Tränen und schüttelte ihre Mutter wach. »Wo sind unsere Sachen?«
Bettys Augen klappten auf, und als sie die Worte ihrer Tochter hörte, schien es, als wäre sie zwei Sekunden lang so in Panik, wie es ein normaler Mensch sein sollte, der gerade alles verloren hatte, was er besaß. Dann ging dieser Moment vorbei, Betty holte tief Luft, lächelte und nickte. »Jemand hat uns ausgeraubt«, sagte sie. »Gut. Jetzt kommen wir schneller voran.«
»Nein! Nein!«, schrie Florence ihrer Mutter erschöpft und stinkwütend ins Gesicht. »Da war all meine Kleidung drin!«
»Na ja, es war sowieso nur ein Haufen Lumpen. Die Hälfte davon hat dir kaum noch gepasst. Jetzt besorgen wir dir ein paar neue Sachen.«
»Das sagst du ständig! Jetzt habe ich nichts anderes mehr anzuziehen als das, was ich ?trage!«
»Nun, das ist doch ein anständiger Anfang. Besser, als nackt zu sein. Wir werden neue Kleidung erhalten, wenn sie zu uns kommt. Und das passiert, wenn es passiert, und keine Sekunde später.« Dann schaute ihre Mutter in die andere Richtung und sprang auf die Beine. »Oh, schau, ich kann unser Glück kaum glauben.«
Ein glänzender schwarzer Oldsmobile, gefahren von einer allein reisenden jungen Frau, hielt an der Tankstelle. Florences Mutter fuhr viel lieber bei Frauen mit. Weibliche Fahrer stellten persönlichere Fragen, woraufhin Betty ausgeklügelte Lügenmärchen über ihre derzeitigen Lebensumstände heraufbeschwor, speziell, wenn sie nach ihrem Ehemann gefragt wurde. Über die Jahre hatte Florence ihre Mutter dreißig verschiedene Ehemänner beschreiben hören, die Tischler, Maurer, Mechaniker oder Verkäufer waren sowie jedem Zweig des Militärs angehörten. Diese Männer waren Katholiken und Protestanten gewesen, Demokraten, Republikaner und Sozialisten, Stadtkinder und Farmerssöhne. Doch kein einziges Mal beschrieb sie Florences tatsächlichen Vater.
Florence konnte nicht hören, was ihre Mutter dieser Frau über ihre derzeitige Zwangslage erzählte, doch es zeigte Wirkung. Sie bestiegen ein warmes, sauberes Auto in Richtung Red Wing.
»Sie besucht ihre Schwester«, flüsterte Betty ihrer Tochter zu. »Und ihre Schwester hat vielleicht etwas Kleidung für uns übrig. Aber sie kann uns nicht direkt hinbringen, weil der Ehemann der Schwester dort sein könnte. Also werden wir...
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