Schweitzer Fachinformationen
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Ein Geschäftsmann sitzt am Strand eines kleinen Fischerdorfs, als er einen Fischer sieht, der sich mit seinem täglichen Fang der Küste nähert. Beeindruckt von der Qualität des Fisches fragt der Geschäftsmann den Fischer, wie lang es dauert, diesen Fang zu machen.
»Oh, nicht lang«, erwidert der Fischer.
»Wieso bleiben Sie nicht länger draußen und fangen mehr Fische?«, fragt der Geschäftsmann.
»Weil ich nicht mehr brauche.«
»Aber was machen Sie dann mit Ihrer Zeit?«
»Ich schlafe lang, fange ein paar Fische, spiele mit meinen Kindern, mache ein Mittagsschläfchen mit meiner Frau und gehe dann mit meinen Freunden in die Stadt, um etwas zu trinken und Gitarre zu spielen«, antwortet der Fischer.
Der Geschäftsmann ist schockiert. Er erklärt, er verfüge über einen Master in BWL, und wenn der Fischer seinem Rat folge, könne er ihm helfen, sein Geschäft zu vergrößern. »Sie könnten ein größeres Boot kaufen«, erklärt der Geschäftsmann und sagt: »Und dann könnten Sie die Gewinne nutzen, um Ihre eigene Konservenfabrik zu kaufen.«
»Und dann?«, fragt der Fischer.
»Dann könnten Sie in die Stadt ziehen, um einen Großhandel zu eröffnen.«
»Und dann?«
»Dann könnten Sie Ihr Geschäft international aufstellen und letztlich an die Börse gehen«, meint der Geschäftsmann. »Und wenn der richtige Moment gekommen ist, können Sie Ihre Anteile verkaufen und sehr reich werden!«
»Und was dann?«
»Nun, dann können Sie sich zur Ruhe setzen, in ein kleines Fischerdorf ziehen, ausschlafen, ein paar Fische fangen, mit den Kindern spielen, Nickerchen mit Ihrer Frau machen und abends mit Ihren Freunden in die Stadt gehen, Wein trinken und Gitarre spielen.«
Der Fischer lächelt und setzt seinen Weg den Strand entlang fort.
Ich liebe diese kleine Parabel. Sie ist eine Adaption einer deutschen Kurzgeschichte von 1963 und wurde seither übersetzt sowie weitläufig verbreitet.2 Wobei die Weltsicht des Geschäftsmanns, die sich hauptsächlich auf die Arbeit konzentriert, typisch amerikanisch ist. Das Mantra der Vereinigten Staaten könnte auch lauten: »Ich produziere, also bin ich.«
Amerikaner fragen oft als Erstes, wenn sie jemanden treffen, den sie noch nicht kennen: »Was machst du so?« Ich erinnere mich, wie ich einmal einen chilenischen Mann in einem Hostel fragte, was er mache. »Du meinst, welche Arbeit?«, erwiderte er, als hätte ich ihn nach seinem Kontostand gefragt. Natürlich tun wir alles Mögliche. Aber in den Vereinigten Staaten beschreibt unser Gelderwerb auch kurz gesagt, wer wir sind. Unser Lebensunterhalt ist zu unserem Leben geworden.
Als Analytiker des Pew Research Center3 eine Studie unter Amerikaner durchführten, was in ihrem Leben Sinn stiftet,4 nannten die Befragten zweimal so häufig ihren Beruf wie ihren Partner. Die Arbeit war eine wichtigere Quelle für ein bedeutungsvolles Leben als ihr Glaube oder ihre Freunde. Eine weitere Studie ermittelte, dass 95 Prozent amerikanischer Teenager - Teenager! - es als »extrem wichtig oder sehr wichtig für sie als Erwachsene« ansahen, eine zufriedenstellende Karriere oder Arbeit zu haben.5 Eine erfüllende Karriere bewerteten sie höher als alle anderen Prioritäten, inklusive Geld zu verdienen und Menschen in Not zu helfen.
Doch Arbeit als Fetisch beschränkt sich nicht auf die Vereinigten Staaten. In einer zunehmend globalisierten Welt kennt die Geschäftigkeit keine Grenzen. Amerikanische Arbeitskultur und Managementsysteme sind genauso kulturelles Exportgut wie Big Macs und Levi's Jeans.6 Diejenigen, die dieses Buch außerhalb der USA lesen, wissen, dass viele der Trends und Beispiele der amerikanischen Beziehung der Menschen zur Arbeit auch der Erfahrung von Arbeitern und Angestellten in anderen Ländern entsprechen - besonders unter den Höchstverdienenden.
Für Berufstätige im Büro hat sich der Job zu einer Art religiösen Identität entwickelt: Über den Gehaltsscheck liefert er einen Lebenssinn, Gemeinschaft mit anderen und das Gefühl, etwas zu bewirken. Der Journalist Derek Thompson nannte dieses neue Phänomen »Workism«*.7 Ein Workist findet Sinn in seiner Arbeit, ähnlich wie eine religiöse Person Sinn in ihrem Glauben findet. Laut Thompson hat sich die Arbeit im Laufe des 20. Jahrhunderts von einer lästigen Pflicht zum Statussymbol und Mittel der Selbstaktualisierung gewandelt. Wenn ich einen Blick auf meine eigene Familiengeschichte werfe, scheint sich diese Theorie zu bestätigen.
Meine italienische Großmutter sah in ihrer Arbeit nicht die Reflexion ihrer Identität. Nachdem mein Großvater gestorben war, tat sie, was nötig war, um für ihre fünf Kinder zu sorgen. Sie eröffnete ein Café in einer Kleinstadt am »Absatz« des italienischen Stiefels und arbeitete dort 30 Jahre lang. Bis zu ihrem Tod hatte sie auf einer Seite einen enormen Bizeps, weil sie so häufig den Hebel der Espressomaschine betätigt hatte. Ihre Identität war geradlinig. Sie war vor allem eine gläubige Frau, dann Mutter, Großmutter, Schwester, und sie bereitete gerne frische Pasta zu. Sie genoss die Arbeit im Café, liebte sie sogar, aber diese definierte sie nicht.
Meine Mutter wuchs in derselben italienischen Stadt auf, in der all ihre Geschwister bis heute leben. Wäre sie dem vorbestimmten Pfad gefolgt, hätte sie die örtliche Universität besucht, ein Haus nur einen kleinen Fußmarsch, von dem ihrer Kindheit entfernt gekauft und hätte sich mit dem Rest der Familie jeden Tag gegen 13 Uhr getroffen, um Orecchiette zu essen. (In ihrer Heimatstadt schließen die Geschäfte und Büros nachmittags für riposo - einige Stunden, die den Arbeitern Zeit für außerberufliche Prioritäten gewähren, wie die Familie, Essen und sich auszuruhen.)
Meine Mutter erhielt jedoch ein Stipendium, um in Rom zu studieren, traf einen attraktiven Amerikaner bei einer Urlaubsparty in der Schweiz und zog nach San Francisco. Sie studierte, um einen Abschluss in Psychologie zu machen, einerseits, weil sie sich wirtschaftlich absichern wollte, und andererseits aufgrund ihres persönlichen Interesses. Auch sie liebt ihre Arbeit, betrachtet sie jedoch als Mittel zum Zweck. Sie arbeitet, damit sie teure Tomaten auf dem Wochenmarkt kaufen, jeden Sommer nach Italien fliegen und in die Bildung ihres Sohns investieren kann.
Mein Dad ist ebenfalls Psychologe und vermutlich aus meiner Familie noch am ehesten ein »Workist«. Ich erinnere mich, wie ich ihn einmal über das philanthropische Anliegen befragte, das ihm am meisten am Herzen liege. »Ich sehe meine Arbeit als eine Art Philanthropie«, erzählte er mir über seine psychologische Praxis. »Meine Arbeit ist meine Art, etwas zurückzugeben.« Mein Dad will so lange arbeiten, wie er sich noch an die Namen seiner Patienten erinnern kann. Selbst während der Lockdowns in der Pandemie kehrte er, wann immer möglich, in seine Praxis zurück.
Meine Familiengeschichte verweist auf einige der zentralen Themen in diesem Buch: dass der Workism etwas spezifisch Amerikanisches ist, wobei er sicherlich auch an anderen Orten existiert; dass Workism besonders unter den Privilegierten verbreitet ist, auch wenn er in weniger privilegierten Schichten vorkommt; und schließlich, dass Workism ein relativ junges Phänomen ist, häufiger verbreitet in meiner Generation als in der meiner Großeltern. Der modernen Ideologie des Workism zufolge fallen zwei unterschiedliche Ziele - Geld und innere Erfüllung - zusammen. Diese liegen nicht immer auf einer Linie, und doch streben wir zunehmend danach, dass unsere Jobs beides abdecken.8
Aber größtenteils habe ich ein wenig von meiner Familiengeschichte erzählt, damit Sie einen Eindruck davon erhalten, wer ich bin. Mein Name ist Simone, und ich bin ein Workist. Oder zumindest ein Workist auf Entzug. Mein ganzes Leben lang wollte ich Journalist, Designer, Anwalt, Diplomat, Dichter und Shortstop bei den San Francisco Giants sein. Ich habe meine Karriere damit verbracht, eine Seelenpartnerin zu finden, welche die gleiche Berufung nach einem Job verspürt, der nicht nur die Rechnungen bezahlt, sondern auf einzigartige Weise reflektiert, wer ich bin.
Aber dieses Buch stellt nicht meine Memoiren dar. Auch, wenn mir das Thema sehr am Herzen liegt, wollte ich genauer unter die Lupe nehmen, wieso die Arbeit nicht nur für meine eigene, sondern für die Identität so vieler Menschen zentral geworden ist. Ich habe mehr als hundert Arbeiter und Angestellte befragt - von Unternehmensanwälten in Manhattan bis hin zu Fremdenführern, die mit Touristen Kajaktouren in Alaska unternehmen; von Eltern aus Kopenhagen, die zu Hause bleiben, um die Kinder zu erziehen, bis hin zu Leuten, die für Fastfood-Restaurants in Kalifornien arbeiten -, um die neun Menschen auszuwählen, deren Profile ich in den kommenden Kapiteln aufzeige. Ich beschloss aus zwei Gründen, mich hauptsächlich (aber nicht ausschließlich) auf die Geschichten von Büroangestellten in den Vereinigten Staaten zu konzentrieren.
Erstens befinden sich die USA mitten in einem landesweiten Trend, der sowohl Geschichte als auch Logik widerspricht. Im Verlauf der Geschichte korrelierte der Wohlstand der Menschen hauptsächlich damit, wie wenige Stunden sie arbeiteten. Je mehr Reichtum man besitzt, desto weniger arbeitet man, einfach weil man es sich eben leisten kann, nicht beruflich aktiv zu sein. Aber im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts waren einige der Höchstverdiener für den größten Zuwachs an Arbeitszeit verantwortlich.9 Dies bedeutet, die gleichen Amerikaner, die es sich leisten könnten, beruflich am wenigsten zu leisten, tun dies mehr als je...
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