Schweitzer Fachinformationen
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Fidelios Welt bestand aus einem einzigen Atemzug. Sein Herz schlug ruhig und stetig. Sein Geist war ein stiller See, nur ohne das lästige Grünzeug am Ufer, den Schlick zwischen den Zehen und die Würmer im Matsch. Nein, das mit dem See ging nicht. Er brauchte ein anderes Bild, um sich in die richtige Stimmung zu versetzen. Die schwarze Stunde vor der Dämmerung etwa, jener Augenblick, in dem die Stadt ruhte und es sich so anfühlte, als wäre sonst niemand mehr wach. Die Straßenlaternen waren um diese Zeit längst erloschen und selbst am Hafen standen die Kräne still. Wer in diesem Moment auf der Brücke über dem Fluss stand, konnte unter dem Firmament einen Hauch Unendlichkeit erahnen.
Stell es dir vor, Fidelio. Fühle es!
Die Magie war ein feines Knistern auf seiner Haut. Ein lockendes Zucken in seinen Fingern. Er musste nur die Hand ausstrecken und die unsichtbaren Kräfte in einer einzigen präzisen Geste bündeln. Die Möglichkeiten waren schwindelerregend, doch er durfte sich nicht von seinem Ziel ablenken lassen.
Konzentration!
Fidelio schüttelte seine Hände aus und lockerte seine Schultern wie ein Boxer vor dem nächsten Schlag. Seine Augen waren noch immer geschlossen. Sein Atem ging tief und gleichmäßig. Er versuchte das Gefühl heraufzubeschwören, das er mit dem Zauber einfangen wollte. Etwas absolut Harmloses für den Anfang. Ein Zustand völliger Gelassenheit. Kein Raum für Zweifel oder Ängste. Fühle es und dann lass es wie eine Blase aufsteigen.
Fidelio bemühte sich krampfhaft, nichts zu denken und alle Geräusche auszublenden. Das Rauschen des Windes, der Tag und Nacht um die Turmspitze strich. Das Rascheln der Blätter im Dachgarten. Den fernen Straßenlärm tief unter ihm. Das aufdringliche Vogelzwitschern in seiner Nähe, ganz besonders das Vogelzwitschern. Nichts davon hatte Bedeutung. Ein weiterer Atemzug und sein Geist war . - vielleicht hätte ich Rosa doch den anderen Ring kaufen sollen!
Fidelio schlug die Augen auf und seufzte resigniert. Neben ihm im grünen Dickicht des Zitronenbaumes landete ein Kolibri, völlig erschöpft vom Kampf gegen den Wind. Jetzt klang das Zwitschern eindeutig vorwurfsvoll.
»Stell dich nicht so an«, verlangte Fidelio. »Es ist ja nicht so, als wärst du den ganzen Weg hinauf geflogen. Du bist genau wie ich mit dem Fahrstuhl gefahren.«
Der Vogel würdigte das keiner Antwort, sondern begann seine Federn zu ordnen, die heute leuchtend türkisfarben waren, passend zu der Krawatte und den Schuhbändern seines Herrn. Dann legte er fragend den Kopf schief und stieß ein kleines Zirpen aus.
»Nein«, sagte Fidelio, ganz so, als wäre sein Haustier tatsächlich imstande, sich mit ihm zu verständigen. »Es ist mir nicht gelungen. Aber Gefühle sind auch viel schwerer zu verzaubern als Gedanken.«
Jetzt klang das Zwitschern hämisch.
»Kein Grund für Zweifel. Es ist nur eine Frage der Zeit!« Schließlich war Fidelio trotz seiner Jugend bereits ein begnadeter Illusionist. Er konnte Gedanken in fremde Köpfe zaubern und magische Trugbilder aus seinen Fingern schlüpfen lassen. Es würde ihm irgendwann auch gelingen, die Sache mit den Gefühlen zu meistern.
Vorerst jedoch gab es Wichtigeres zu tun. Fidelio zupfte seine Manschetten zurecht und kontrollierte den Sitz seiner Weste. Heute trug er ein ausgesprochen hübsches Nachtblau, von dem er wusste, dass es perfekt mit dem Hellblau seiner Augen harmonierte. Das war wichtig, vielleicht sogar entscheidend, denn an diesem Abend würde er Rosa endlich die alles entscheidende Frage stellen. Er durfte also nichts weniger sein als perfekt.
Selbstverständlich war auch Fidelios sorgsam inszenierte Vollkommenheit am Ende nicht mehr als eine Täuschung, aber Fidelio hielt die Wahrheit für überschätzt. Sie ließ sich viel zu leicht verfälschen und manipulieren. Er selbst hatte diese Kunst über die Jahre vervollkommnet, so lange, bis er kaum noch zwischen Täuschung und Wirklichkeit unterscheiden konnte.
Dieser Dachgarten auf der Spitze des Turms war das beste Beispiel dafür. Inmitten des Dickichts aus Zitronenbäumen und Lavendelsträuchern, zwischen den sachte wiegenden Palmenwedeln und dem Jasmin, konnte man den Eindruck gewinnen, auf dem freien Land zu sein. Doch als er jetzt an den Rand des Daches trat, breitete sich Berlin zu seinen Füßen aus. Tief unter ihm zogen sich die Straßen dahin. Die Menschen sahen von hier oben aus, wie die aufgezogenen Spielzeugfiguren aus dem Viertel der Erfinder. Ringsherum erhoben sich noch mehr Türme und wenn Fidelio den Blick zwischen ihnen hindurch schweifen ließ, dann konnte er bis zum Fluss hinabsehen.
Die ersten Lampions schwebten in der Abenddämmerung. Sie hingen in der lauen Luft über den Dachgärten oder begleiteten ihre Herrschaften auf dem Heimweg wie Hunde. Der Rest von Berlin mochte die Nacht mit Faulgas oder Elektrizität erhellen, aber die Zauberer hatten Schwärme von Glühlichtern und schwebende Lampions. Es war eines der vielen Dinge, in denen sie den Gewöhnlichen weit voraus waren. Außerdem hatte es mehr Stil!
Fidelio lehnte sich über die Brüstung der Terrasse und hielt sein Gesicht in den Wind, während er die erleuchteten Fenster und die Sommerluft auf sich wirken ließ. Irgendwo jenseits der Stadt über dem brandenburgischen Flussdelta zogen erste Gewitterwolken auf, eine Ahnung von Abkühlung im Laufe der Nacht, aber noch stand die Hitze tief unter ihm auf den Straßen, während er selbst über alldem schwebte. Es war ein Gefühl von Freiheit, das sich mit nichts vergleichen ließ. Fidelio empfand eine wilde Dankbarkeit dafür, mit der Gabe der Magie geboren worden zu sein. Er hätte kein anderes Leben gewollt.
Ein leises Klingeln im Hintergrund holte ihn auf die Dachterrasse zurück. Der Fahrstuhl hatte das oberste Stockwerk des Turms erreicht und faltete seine Gittertür klirrend zusammen. Die Hausherrin betrat ihren Garten. Die oberste Bibliothekarin und Hüterin des Wissens Emilie Maas reichte Fidelio kaum bis zum Kinn. Die vielen Jahre ihres Lebens hatten sich bereits tief in ihre dunkle Haut gegraben. Kurzgeschnittenes, weißes Haar umrahmte ihr strenges Gesicht. Natürlich galt ihre erste Sorge den Pflanzen. Sie schritt von Topf zu Topf und tastete die Erde ab. Als sie zu dem Zitronenbaum mit dem Kolibri kam, blieb sie stehen.
»Du nimmst den Vogel mit?«, fragte sie. »Sogar auf Rosas Party?«
»Immer«, antwortete Fidelio wahrheitsgemäß.
»Er ist nur eine Illusion«, erinnerte ihn Emi nicht zum ersten Mal. »Du schenkst all deine Liebe einem Zauber und nicht einem Tier aus Fleisch und Blut.«
»Dafür entleert Ferdinand niemals seinen Darm auf meinem Schreibtisch und füttern muss ich ihn auch nicht.« Fidelio schenkte ihr sein breitestes Lächeln.
Er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, von Ferdinand als einer magischen Illusion zu denken. Für ihn besaß der Vogel eine Persönlichkeit, die genauso komplex war wie seine eigene. Außerdem passte sich sein Gefieder an Fidelios Garderobe an, eine Abwandlung des Zaubers, auf die er ganz besonders stolz war.
Emi musterte erst Ferdinands schillerndes Gefieder und dann Fidelios Krawatte. Sie schien für einen Moment zu bereuen, dass sie den Vogel für ihn erschaffen hatte, als er ihr Schüler wurde. Ein Junge von zwölf Jahren, der keine Familie hatte, kein Spielzeug und keine Vergangenheit.
»Es ist Ferdinands Glück, dass er aus reiner Magie besteht«, knurrte Emi. »Denn sein Herr ist so gedankenlos, dass er nicht für ein echtes Tier hätte sorgen können.«
Fidelios Lächeln verrutschte keinen Millimeter, auch dann nicht, als seine Lehrmeisterin die Abendzeitung aus den weiten Ärmeln ihrer Robe zog und sie demonstrativ auseinander faltete. Der Berliner Kurier titelte »Kuchenträume für Leichengräber!« Darunter war ein Foto von einem Mann auf einem frischen Grabhügel zu sehen, der gerade mit sichtlichem Vergnügen ein Stück Kuchen verzehrte. Der Untertitel verkündete: »Fingerschnipser verhext Straßenzug!« Das Bild daneben zeigte Fidelio, den Zylinder schief auf den zerzausten, blonden Haaren und mit einem strahlenden Lächeln.
»Sie haben das alte Foto vom letzten Winterball genommen? Ernsthaft?« Er schnalzte missbilligend mit der Zunge.
Die steile Stirnfalte zwischen Emis Augenbrauen wuchs zu einem Canyon an. »Du hast zwei Dutzend Menschen gegen ihren Willen verzaubert!«
»Es war ein äußerst angenehmer Traum«, sagte Fidelio sanft. »Duftender Rhabarberkuchen mit Schlagsahne. Niemand hat sich beschwert. Der Rat wird natürlich eine Entschuldigung verlangen, aber sie können mir keine echten Schwierigkeiten machen.«
»Darum geht es überhaupt nicht, und das weißt du auch. Du darfst Menschen nicht gegen ihren Willen verzaubern. Es gibt Gesetze für Zauberei, und du brichst sie immer wieder. Fidelio, wir haben eine Verantwortung für die Macht, die wir gebrauchen!«
Sie ist uns nur geliehen, führte Fidelio ihre Rede in Gedanken fort. Wir dürfen sie nicht missbrauchen.
»Sie ist uns nur geliehen!«, sagte Emi scharf. »Wir dürfen sie nicht missbrauchen.«
Sie schien plötzlich so erschöpft, als wäre sie den ganzen Weg bis zur Turmspitze zu Fuß hinaufgestiegen. »Fidelio, versprich mir, dass du deine Kräfte endlich ernst nehmen wirst.«
»Du tust mir Unrecht. Diese Kuchensache ist eine Ausnahme! Es ist zum Beispiel Jahre her, dass ich das letzte Mal einen Charmezauber benutzt habe, um noch überzeugender zu sein. Ich bin zu erwachsen für so was«, log er.
Emi und Ferdinand würdigten das mit keiner Antwort oder auch nur eines Blickes, und jetzt sah Fidelio wirklich wie ein gescholtener Junge aus. »Ich werde mich...
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