Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
Rosas Lachen perlte hell und glücklich durch ihre Erinnerung. Es steigerte sich zu einem Jauchzen und endete in einem Prusten, als Mathilda hinter ihr her in die Brandung stolperte. Das Wasser war eiskalt über sie hinweggeschwappt. Graugrün und salzig. Gischtgekrönt. Leer gefegt. Die Möwen hatten sich in den weiten Himmel geschwungen und für einen Moment glaubte Mathilda, die Hitze des Sandes noch einmal zu spüren. Doch als sie ihre Finger ausstreckte, fühlte sie nur die Wärme des Heizungsrohrs. Es blubberte und knackte und Mathildas Stirn sank schwer dagegen.
Der Herbst hatte den Sommer abgelöst und als die ersten Stürme über Berlin aufzogen, sorgten Faulgasleitungen im Turm der Himmelsbrücks für eine wohlige Wärme. Sie mündeten in dem Heizungskeller, in dem Mathilda jetzt stand. Die bauchigen Tanks und die muffige Dunkelheit verbargen sie vor neugierigen Blicken, denn natürlich durfte sie nicht hier sein. Sie war in diesem Turm nicht willkommen. Heute noch ein bisschen weniger als an jedem anderen Tag des Jahres. Mathilda hob den Kopf vom blubbernden Rohr, um zwischen den Schlitzen des Lüftungsgitters hindurchzuspähen. Es war die einzige Verbindung zwischen dem Keller voller Heizungskessel und der ehrwürdigen Familiengruft der Himmelsbrücks.
Auf der anderen Seite des Lüftungsgitters waren Menschen in hellen Roben versammelt. Sie trugen weiße Papierlaternen und standen um ein Loch im Boden. Eine Steinplatte war entfernt worden, darunter klaffte ein schwarzer Schlund. »Es ist an der Zeit für dich, nach Hause zurückzukehren, Rosa Henriette Himmelsbrück«, sagte eine Frau in ihrer Mitte. Sie wandte dem Lüftungsgitter den Rücken zu und Mathilda erkannte ihre Stimme nicht. Irgendeine Verwandte womöglich oder eine Priesterin der Leere. »Du wirst am Fuße dieses Turmes Ruhe finden. Deine Angelegenheiten sind geregelt, deine Besitztümer versiegelt, dein Weg beendet.«
Das konnte Mathilda bezeugen, denn Rosa war in ihre Arme gestolpert, voller Todesangst und nach Luft ringend. Manchmal träumte sie davon, den Griff ihrer Freundin wieder zu spüren. Die schlanken Finger in Mathildas Arm gekrallt und von Krämpfen geschüttelt. Mathilda hatte nichts tun können. Die Frau, der sie gerade ihre Liebe gestanden hatte, war in ihren Armen gestorben. Du bist jetzt 19 Tage fort, teilte sie Rosa in Gedanken mit. Die Beerdigung hat sich verschoben, durch die Leichenbeschau, die Gerichtsverhandlung und das Drama dazwischen.
Die Jagd nach Rosas Mörderin hatte Zeit gekostet, doch nun waren alle Fragen beantwortet. Die Gendarmerie hatte den Leichnam der Familie übergeben und die Beisetzung war vorbereitet worden. Darüber waren die Tage zu Wochen geworden. Als es endlich so weit war, hatte es keine Anzeige im Kurier gegeben, keine Totenwache und kein Leichenfrühstück. Und niemand hat mir eine Einladung geschickt. Aber das konnte Mathilda der Familie Himmelsbrück nicht verdenken, auch wenn inzwischen ganz Berlin wusste, dass sie Rosa nicht umgebracht hatte.
»Deine Knochen werden das Fundament dieses Hauses sein, der Schutz deiner Familie und die Zukunft deines Namens.« Eine weiß gekleidete Gestalt trat an das schwarze Loch. Das blonde Haar schimmerte im Schein der Laternen wie eine Krone und fast hätte Mathilda Fidelio Lafrenz in der langen Robe nicht wieder erkannt. Sein bleiches Gesicht war zu seiner Maske erstarrt, seine Schritte feierlich. Und obwohl er sie durch das Lüftungsgitter unmöglich sehen konnte, blickte er jetzt in ihre Richtung. In diesem Moment erkannte Mathilda den bodenlosen Schmerz in seinen Augen. Sie streckte die Finger zwischen den Gitterstäben hindurch und presste hilflos die Lippen zusammen. Dann senkte Fidelio den Kopf und ging formell in die Knie. Er hielt einen Leinensack in den Händen, der mit Rosas nackten Knochen gefüllt war. Links und rechts von ihm traten zwei Gestalten in bestickten Roben heran. Sie hoben die Hände und zeichneten gemeinsam das Symbol eines Zaubers in die Luft. Funken rannen ihnen von den Fingern und die ganze Trauergemeinde wiederholte die Geste. Obwohl Mathilda nichts von Magie verstand, konnte sie die unsichtbare Macht spüren, die plötzlich in der Gruft knisterte und wie ein Schauer über die uralten Mauern lief. Alle Trauernden senkten gemeinsam die Hände. Ein Luftzug ging durch die Gruft und die Spannung ließ nach. »Erschaffen durch Magie, gebunden durch Knochen, gehalten von Liebe«, sprach die Frau zum Zeichen, dass der Schutzzauber des Turms durch das Opfer von Rosas Knochen erneuert worden war. So, wie es seit Generationen bei jeder Beerdigung der Himmelsbrücks Brauch war.
Selbst im Tod alles für die Familie, dachte Mathilda verbittert. Zauberer sind einfach nur unheimlich! Natürlich hatte Fidelio ihr erklärt, dass in Knochen besondere Macht lag, genau wie in Blut oder Namen. Aber wenn es Mathildas Entscheidung gewesen wäre, hätte sie Rosas Asche ins Meer gestreut. An jenem einsamen Strand vielleicht, an dem sie damals zusammen gebadet hatten. Ihr Kuss hatte nach Salz und Marmelade geschmeckt und so wollte sie sich an Rosa erinnern. Mit Sonne und Lachen und Meer. Du fehlst mir so entsetzlich!
Es klapperte leise, als Fidelio den Leinensack an einem Seil bis zum Fundament des Turms herabließ. Die Knochen kamen mit einem dumpfen Laut auf und Mathilda ging in die Knie. Sie presste sich die Hände vor den Mund, um das Schluchzen zu ersticken. Ein Zittern lief durch ihren Körper, als der Schmerz über sie hinwegflutete. Sie musste nicht durch das Lüftungsgitter schauen, um zu wissen, was auf der anderen Seite geschah. Als Nächstes würde Fidelio eine Prise Salz in die Grube werfen. Die ganze Trauergemeinde würde seinem Beispiel folgen, und mit jeder Prise würde eine weitere Papierlaterne gelöscht werden, bis die ganze Gruft in Finsternis lag und die Lebenden über die Treppe zurück ins Tageslicht stiegen.
Mathilda sank in die Knie. Ihre Stirn berührte die Gitterstäbe, ihre Schultern bebten. Rosas Umarmungen blitzten in ihrer Erinnerung auf, ihr Spott und ihr Lächeln. Ihre schwingenden Schritte. Ihre Vorliebe für Zimtschnecken und salziges Popcorn. Ihr schwerer Körper in Mathilda Armen. Sie biss sich so fest in die Faust, dass es schmerzte. Auf der anderen Seite des Gitters wurden die Schatten mit jeder erlöschenden Flamme tiefer. Jetzt waren Schritte zu hören, das Rascheln von Roben, dann ein trockenes Hüsteln und ein ersticktes Schluchzen. Die Luft roch bitterscharf nach dem Ruß der Laternen und die Tür zur Gruft fiel schwer hinter dem letzten Trauergast ins Schloss. Ein Wimmern brach Mathilda über die Lippen. Sie tastete mit einer Hand unbeholfen in ihrer Hosentasche herum, bis sie das Seidenband fand. Ein dünner Streifen Stoff, den Rosa an dem Abend ihrer letzten Party im Haar getragen hatte. Er lag weich und glatt in ihren Fingern. Ein albernes Seidenband, während jeder Knochen, den Rosa jemals im Körper getragen hatte, am Grund des Turms ruhte.
Als Mathilda sich endlich wieder rührte, kniete sie in absoluter Schwärze. Sie tastete nach dem Leuchtstab an ihrem Werkzeuggürtel und zerbrach das Siegel. Grünes Licht floss über die Faulgastanks. Mathilda zog den Rotz durch die Nase hoch und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab. Sie war nicht für eine Beerdigung gekleidet, sondern trug den Arbeitsanzug einer Erfinderin. Nur für den Fall, dass sie jemand hier unten entdeckte.
Ich hätte gern ein Kleid für dich angezogen. Mathilda stemmte sich in die Höhe. Das hätte dir gefallen, oder? Die Werkzeuge an ihrem Gürtel klapperten leise. Sie zwängte sich mit dem Leuchtstab in der einen und Rosas Haarband in der anderen Hand zwischen den Rohren hindurch. Fort von der Gruft und dem Grab, zurück in die Stadt. Ich werde nicht wieder herkommen. Also pass auf dich auf!
Deshalb hatte sie bei der Beerdigung dabei sein müssen. Weil es nicht nur ein Abschied war, sondern ihre einzige Möglichkeit, Rosas Grab zu besuchen. Normalerweise wurde der Heizungskeller genauso fest verriegelt wie die Familiengruft der Himmelsbrücks. Und womöglich war das gut so.
Mathilda fand die Leiter, indem sie mit der Stiefelspitze dagegen stieß. Sie steckte Rosas Haarband zurück in ihre Tasche und nahm den Leuchtstab zwischen die Zähne, um die Hände zum Klettern freizuhaben. Ihre Schultern stießen gegen die Schachtwände, aber es waren nur ein paar Klafter. Kaum zwei Dutzend Sprossen aufwärts, bevor sie mit dem Kopf gegen einen Widerstand stieß. Sie stemmte eine Hand dagegen und dann kam ihr jemand auf der anderen Seite zur Hilfe. Die Luke wurde geöffnet, helles Tageslicht flutete herein und eine schlanke Hand wurde ihr entgegengestreckt. Sie schloss die Finger darum und stemmte sich aus dem Kellerloch. »Danke«, murmelte sie heiser und meinte damit auch die Hilfe beim Einbruch in den Heizungskeller.
Fidelio Lafrenz nickte knapp zu dieser Selbstverständlichkeit. Er kniete im Hinterhof der Himmelsbrücks, mit ernstem Gesicht und schwerem Blick. Die weiße Robe sah an ihm aus wie das Nachthemd eines Erwachsenen an einem Kind. Außerdem trug er eine Rune aus Asche auf der Stirn. Mathilda hätte ihm gern aus schierer Höflichkeit gesagt, dass es eine hübsche Beisetzung gewesen war, aber die Worte blieben in ihrer Kehle stecken. »Es fühlt sich kein bisschen besser an«, krächzte sie stattdessen. Mathilda saß am Rand der Luke und ihre Beine baumelten in den Schacht hinab. Neben ihnen in der Gasse stapelten sich leere Fässer. Ganz oben schlief eine gefleckte Katze in der Sonne.
»Nein, tut es nicht.« Lafrenz zögerte kurz und hockte sich dann neben sie aufs Pflaster. Er war heute...
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