Schweitzer Fachinformationen
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Und dann kam das Wasser.
Ich weiß noch: Bis zuletzt blieb bei allen ein Gefühl, das sei alles nur ein riesiger Witz. Ein grotesk aufgepumpter Aprilscherz. Gleich würde ein exzentrischer Milliardär mit seinem Schlauchboot hinter einem Baum hervorgerudert kommen und in sein Megaphon brüllen: «Haha - ihr hättet eure Gesichter sehen müssen!»
Eine Katastrophe.
Hier -
An dem Ort, an dem «Ausnahmezustand» und «Katastrophenschutz» statistisch hinter Wörtern wie «Dünkel» und «Großwildtranquilizer» rangierten.
«Katastrophe» - das bedeutete, auf dem Sofa wegnickend BBC-Reportern dabei zuzusehen, wie sie mit Helikoptern über landkartenartig fern erscheinende Erdbebengebiete flogen, während der Rippenbraten in der Röhre langsam anfing, lecker zu riechen. «Katastrophe» - das war das, was als aufgeschlagene Zeitung im Geräteschuppen lag und worüber man «Hast du schon mitgekriegt? Was für eine Scheiße» zu seinem Nachbarn sagte, bevor man auf den Rasentraktor stieg -
Aber jetzt standen die Menschen auf den Dächern und warteten auf Rettung, während tote Senioren und Tiere wie graues Obst in den umspülten Baumkronen hingen und Vögel an ihren Augen pickten. Kinder weinten in der Ferne. Hunde bellten ertrinkend.
Über Nacht war das Wasser gestiegen, was an sich schon ungewöhnlich war und was niemand hier jemals erlebt hatte. Niemand hatte jemals eine Katastrophenübung mitgemacht, es gab keine Signalraketen, keine Rettungswesten, keine Dieselgeneratoren, keine Besenkammern voll mit Notkonserven, keine Telefonnummern, die man laminiert und neben das Telefon geklebt hätte, keine Funkgeräte, keine Thermodecken - ja noch nicht mal Worte gab es in den Köpfen der Menschen hier für all das. Also brach irgendwann am frühen Morgen offenbar der Deich, und das Wasser rollte - wie eine große geduldige Verarschung - über den Ort, ohne dass auch nur eine Sirene losging.
Jetzt war es später Nachmittag, und wir standen zu dritt bei Baumann (den alle nur Dogge nannten) auf dem Dach und tranken wartend Bier aus der einzigen Notfallkiste des Dorfes, während die Welt nur noch aus schmutzigem Wasser zu bestehen schien. Einen knappen Meter unter uns schwamm all das vorbei, was Stunden zuvor noch sortiert und sauber in Gärten und Wohnungen gestanden hatte: Klimageräte, Billardqueues, Wasserpumpen von Aufstellpools. Bei den Gedels floss die Garderobe aus dem Fenster - es sah aus, als würde sich das Haus übergeben. Ich kniff meine Augen zusammen: Da unten fraß sich das Lacostekrokodil mit winzigen Bissen in ein Polohemd. Durch die Hauptstraße zogen Delfinschwärme aus Plastik. Aufgeblähte Hemden flatterten im Wind. Sporttrophäen glänzten wie geheime Schätze auf dem Grund der braunen Soße, an ihrem Sockel lösten sich die blechernen Plaketten ab -
All das teure Zeug war innerhalb von Stunden zu Müll geworden.
Passfotos auf einer Korkpinnwand schwammen vorbei. Ein primitives Boot mit Bildern von Menschen, die jetzt vielleicht tot waren. Mit Kugelschreiber waren Herzen auf die Augen gemalt - daneben Bilder von Boybands, aus Zeitschriften herausgerissen, mit Hörnern und Schnurrbärten bemalt. Ein rosafarbenes Tagebuch mit einem winzigen Vorhängeschloss. Ein aufgedunsener hölzerner Jubiläumsbierkrug aus dem Allgäu. Ein Kontoauszugsordner - völlig unangebracht und unsensibel stand «Spesen 1997» darauf. All das war gar nicht zum Schwimmen gemacht. Aufgeweicht und blass trudelte es vorbei.
Vielleicht gab es ja noch irgendwas, das zu gebrauchen war, dachte ich. Aber ich war so müde und betrunken, dass ich das Gefühl hatte, meine Augen schwämmen da mit - irgendwo in dieser grobstückigen Suppe der über Jahre so sorgfältig angeschafften und parzellierten Individualgegenstände wirbelten sie herum, wie Lotteriekugeln in der Trommel: Ade ihr kleinen Augen, ihr braucht mich jetzt nicht mehr. Viel Glück, treibt davon! In den wenigen Lücken des fast blickdichten Müllteppichs schnappten sie kurze Bilder von einem hageren Typ auf einem Dach auf: Unbeweglich mit gebogenem Rücken wie ein kackender Hund, das Hemd am Körper klebend und mit Gänsehaut von der Hitze auf der weißen muttermalfleckigen Haut stand er da.
Ein fleischgewordenes Satzzeichen in dem sinnlosen Gebrabbel des Wassers.
«Mach's gut, Finn», riefen sie mir zu.
Ich war so unglaublich müde. Das war der heißeste Sommer seit Jahren. Obwohl mir nichts peinlicher war als mein dünner weißer Oberkörper (vor allem vor der schönen Jütte), zog ich mir das Hemd aus und machte mir daraus den wohl widerlichsten Turban der Welt.
Das hätte niemand geahnt, dass die Dächer der Häuser dieser Siedlung mal Inseln wären und als Inseln so unbewohnbar sauber, so glatt, stabil und seelenlos. Obwohl die Menschen um uns herum ertranken: Die deutschen Dächer sangen ihre Lieder in ihrer deutschen Baumarktsprache: Dachziegel, Witterungsschutz, Giebelbekleidung. Da konnte sich nirgends ein «Sterben wie die Fliegen» reinschummeln. Zu unseren Füßen: schrankenloser Realsozialismus des Hausrats. Die Terkels, die mit den Brodersens einen Grabenkrieg um die Grundstücksgrenze geführt hatten, vereinten sich in ihren sich wild verheiratenden Gartengeräten, die von der einen in die andere Garage gespült wurden, wo sie sich zu einer großen Blechdüne auftürmten.
Ich sah die Menschen auf den anderen Dächern in der Ferne fast unbeweglich verharren. Als hätten sie sich für ein prätentiöses Kunstprojekt mit dem Titel «Unbegreiflich» für einen extrem gut ausgestatteten chinesischen Fotokünstler aufgestellt. So standen wir, füreinander nur Strichmännchen in der Ferne, alle zusammen auf unseren sauberen, stabilen Dächern. - Gerettet und verloren zugleich -
Ich dachte an Katja (aber um sie machte ich mir keine Sorgen), ich dachte an Diego, an meinen Vater und am stärksten - was mich überraschte - an meinen Bruder. Ob er es wohl geschafft hatte? Reini hätte heute Morgen mit den paritätischen Werkstätten Kartoffeln ernten sollen. Er und die anderen Jungs «mit hohem Unterstützungsbedarf». Aber eigentlich war ich mir sicher, dass er okay war: Das Heim war das höchste Haus im Ort, und das Einzige, was Reini wirklich ausgezeichnet konnte, war schwimmen. Ich stellte mir vor, wie er prustend lange Bahnen zwischen den Häusern schwamm und den Leuten auf den Dächern sein käsiges «Reini grüüüßt» zurief.
Das Bier aus Dogges Notfallkiste war schon fast leer. Jütte kochte uns Dosenravioli auf einem kleinen blauen Gaskocher. Dogge zog seine riesigen Stiefel aus und hängte seine schwarzen Füße ins Wasser.
«Warum hast du eine Notfallkiste auf dem Dach?», fragte Jütte.
«War doch klar», sagte er mit träger Zunge.
«Was?»
«Das Ganze.»
Er griff in die Kiste und holte ein in einen erstaunlich soliden selbstgenähten Schoner eingeschlagenes Gewehr hervor.
«Du hast eine Waffe in der Kiste!?», fragte Jütte empört.
«Jep», sagte Dogge.
«Was willst du denn mit einer Waffe, verdammte Axt!»
«Schießen», sagte er, «und bei Gelegenheit angeben.»
«Ich glaub es nicht: eine Waffe, er hat eine Waffe auf dem Dach!»
Sie ging zur Kiste und wühlte eine Weile darin herum.
«Du hast eine Notfallkiste . mit einer waffenscheinpflichtigen Waffe auf dem Dach . aber kein . Wasser?»
«Wasser», wiederholte Dogge, als sei das Wort ein sumerisches Rätsel, und lud die Flinte.
Jütte setzte sich, ernst und dunkel funkelnd, auf die andere Seite des Daches und schaute in Richtung Sonne. So viel Licht. Eine Million Lumen. Eine Milliarde, Trilliarde Lumen. Eine Welt aus Wasser und Licht. Nur hinter dem Schornstein war ein blasser Schatten, um den sich ein paar erschöpfte Krähen stritten.
Ich hatte Krämpfe in den Augenlidern. Saurer Schweiß lief mir von der Stirn. Als das Licht langsam rot wurde, wusste ich zuerst nicht, ob mir die Augen bluteten oder es tatsächlich endlich Abend war. Ist das eine Sonne oder eine glühende Zigarre, die uns ein boshafter Gott aus Langeweile an die Stirn drückte, während er uns beim Schmelzen zusah? Ich hatte das Gefühl, wir wären schon ewig auf dem Dach. Aber nein, es waren ja nur wenige Stunden. Hatten wir einen Tag übersprungen?
Über den Untiefen des Hochwassers zogen graue Wolken in eigenartigen Formationen auf - irgendeine Kraft ließ sie schwer hin und her taumeln, wie ein betrunkener Mann. Tonnen von Insektenleibern - Millionen ihre Auferstehung feiernde Mücken, Käfer, Motten. Ich stellte mir vor, was Dogge wohl unternehmen würde mit seiner Schrotflinte, wenn die jetzt gesammelt auf uns zufliegen würden. Als hätte er meinen Gedanken gehört, stieß er einen besoffenen Kampfschrei aus und schoss in die Luft.
«Danke, Dogge, und herzlichen Glückwunsch», sagte Jütte, «zehn Jahre Konzerte ohne Hörschutz haben's nicht geschafft, dafür musste nur mal ein Vollidiot, mit dem ich auf einem Dach festsitze, grundlos eine Waffe abfeuern.»
Dogge verbeugte sich.
«Dieser Scheiß ist gefährlich!»
Ein Kind weinte in der Ferne. Etwa 200 Meter von uns und noch weiter von den meisten anderen Häusern entfernt entdeckten wir es in der Krone eines schrägstehenden Baums. Absolut unerreichbar. Dogge war hinüber. Schielte schon. Und sah mindestens 15 Jahre älter aus, als er war (was bei seinen 33 Jahren wirklich eine erstaunliche Verfallsleistung im Zusammenspiel von Sonne...
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