1. Kapitel
»Wie bitte?«, fragte Sean. »Du machst Witze, oder?«
»Schön wär's. Ich bin bei dem künstlich angelegten See in der Nähe von Shapwick Heath. Eigentlich wollte ich mit Otis spazieren gehen, und dann habe ich gesehen, dass man Hunde nicht in diesen Teil des Geländes mitnehmen darf. Ich wollte Otis anleinen, aber der wollte nichts davon wissen und ist ausgebüxt. Also bin ich hinterhergelaufen bis zu der Vogelbeobachtungsstation beim Decoy Lake.«
»Und da liegt eine Leiche?«, fragte Sean.
»Ja. Beziehungsweise sitzt. Soweit ich es erkennen konnte, ist es ein Mann. Er hockte hinten in der Ecke auf einer Bank. Ich habe ihn angesprochen, und er hat nicht reagiert. Deswegen habe ich seine Schulter berührt und . na ja, dann habe ich gemerkt, dass er tot ist.«
»Gibt es Anzeichen für einen Kampf? Hast du jemanden in der Nähe gesehen?«
»Himmel, Sean!« Hektisch sah sich June um. Ihr wurde bewusst, wie einsam die Gegend war. »Jetzt machst du mir Angst. Aber nein, hier ist niemand. Es ist ja noch ziemlich früh, und der Parkplatz beim Besucherzentrum war relativ leer. Aber neben dem Mann auf der Bank standen eine Thermosflasche und ein Flachmann. Du weißt schon, so ein flacher Metallflakon für Schnaps.«
»Verstehe.« Kurz war ein eigenartiges Schaben zu hören, das man für ein Störgeräusch hätte halten können. Doch June wusste es besser. Vor ihrem inneren Auge konnte sie sehen, wie Sean sich zwischen den dunklen Bartstoppeln kratzte, was er immer tat, wenn er überlegte. Bei der Erinnerung krampfte sich ihr Herz ein bisschen zusammen. Sie hatte sich noch immer nicht an den Gedanken gewöhnt, dass ihre Hoffnung auf eine zweite Chance mit ihm offenbar vergeblich gewesen war. Schließlich riss seine Stimme sie zurück in die Gegenwart. »Hör zu, kannst du einen Augenblick bleiben und dafür sorgen, dass niemand die Vogelwarte betritt? Wenn es, wie du sagst, keine Spuren eines Kampfes gibt und du keine äußerlichen Verletzungen erkennen kannst, klingt es für mich erst einmal nach einem natürlichen Tod. Vielleicht ein Herzinfarkt oder so etwas. Trotzdem wäre es besser, wenn der Fundort unberührt bleibt, bis wir die Spuren sichern können.«
»Klar, kann ich machen. Hier ist zwar weit und breit niemand, aber sicher ist sicher«, sagte June.
»Wunderbar. Ich schicke Harris und Darling zu dir raus, damit sie den Fundort absperren. Aus Street dürften sie etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten brauchen. Bis die Spurensicherung vor Ort ist, wird es auf jeden Fall länger dauern. DCI McCarthy und ich sind in der Hauptwache in Bridgwater, da brauchen wir mindestens eine halbe Stunde, selbst wenn wir jetzt sofort losfahren.«
»Okay, verstehe. Dann warte ich hier auf die beiden.« June hatte ein leicht mulmiges Gefühl bei der Vorstellung, allein mit dem unbekannten Toten auf das Eintreffen der Polizei zu warten.
»Ist das in Ordnung?« Bei dem besorgten Unterton in Seans Stimme wurde June spontan warm ums Herz.
»Wird schon gehen. Ich habe ja Otis.«
Sean lachte. »Nicht gerade ein Wachhund, oder? Vielleicht telefonierst du so lange mit Pomona. Dann fühlst du dich sicherer. Wir kommen, so schnell es geht.«
»Okay, gute Idee.«
Nachdem sie sich verabschiedet und das Gespräch beendet hatte, wählte sie Pomonas Nummer und war etwas irritiert, als sich eine männliche Stimme meldete. Vielleicht einer von Pomonas >Freunden mit Extras<, wie sie es nannte.
»Ähm, hallo, hier ist June. Ist Pomona nicht da?«
»June! Hallo. Schön, mal wieder von dir zu hören. Hier ist Elwood. Mona ist gerade zum Einkaufen gegangen. Kann ich ihr etwas ausrichten?«
»Ach, Elwood. Entschuldige, ich habe deine Stimme nicht erkannt«, erwiderte June. »Mona hat gar nicht gesagt, dass du kommst.«
»Das war auch eine ganz spontane Aktion. Eine befreundete Künstlerin hat mich zu ihrer Vernissage in Bristol eingeladen, und da dachte ich, wenn ich ohnehin in der Gegend bin, schaue ich mal bei meiner Schwester rein.«
»Da hat sie sich bestimmt gefreut. Wie lange bleibst du denn?«
»Nicht lange, nur übers Wochenende. Es wäre sehr schön, dich auch mal wieder zu sehen«, sagte er. »Vielleicht könnten wir drei zusammen essen gehen.«
»Ja, natürlich. Ich würde mich freuen, aber . Können wir vielleicht später darüber sprechen? Ich bin gerade etwas durch den Wind.«
»Oje, das tut mir leid. Ist etwas passiert?«
June erzählte, wie sie und Otis den Toten gefunden hatten.
»Ach du Schreck, kein Wunder, dass du aufgewühlt bist. Und die Polizei ist unterwegs?«
»Ja, aber es wird sicher eine Weile dauern. Man kann nicht direkt mit dem Auto hierhinkommen. Deswegen wollte ich mit Pomona reden, während ich warte. Es ist ein bisschen unheimlich allein hier draußen.«
»Das kann ich mir vorstellen. Wenn du magst, vertrete ich sie und bleibe so lange in der Leitung.«
»Danke, nett von dir. Das lenkt mich ein bisschen ab.«
Nachdem sie eine Weile mit Elwood geplaudert hatte, bemerkte sie, wie Otis in Habachtstellung ging und leise knurrte.
»Warte mal kurz«, raunte sie in ihr Handy. »Ich glaube, da kommt jemand.« Mit pochendem Herzen lauschte sie. Entfernte Stimmen waren zu hören. Als sie näherkamen, konnte June eine männliche und eine weibliche unterscheiden.
»Ich glaube, das ist die Polizei«, sagte sie erleichtert.
»Gut, ich bleibe noch einen Moment dran, um sicherzugehen.«
»Nicht nötig, Elwood. Ich kann Sergeant Harris schon sehen. Danke. Grüß Pomona von mir, ich melde mich später.«
Der Anblick der hoch aufgeschossenen Gestalt von Police Sergeant Harris war beruhigend. June steckte das Handy ein und winkte den beiden. »Hier! Hier bin ich«, rief sie. Nun konnte sie auch Constable Darling erkennen. Neben dem großen, breitschultrigen Kollegen wirkte die zierliche Polizistin beinahe winzig. Sie lächelte und winkte, als sie June entdeckte. Otis betrachtete die Ankommenden mit Skepsis. Er hatte noch immer die Ohren aufgerichtet, und sein kleiner Körper war so angespannt, dass er leicht zitterte.
June ging in die Hocke und streichelte ihn. »Ganz ruhig, mein Kleiner. Das sind Freunde. Die kennst du doch schon.«
Tatsächlich schien sich der Hund ein bisschen zu beruhigen.
»Ms Morgan!«, grüßte PS Harris. »Sie haben einen Toten gefunden?« Sein Tonfall schien sagen zu wollen: »Schon wieder?«
»Ja, dort drüben in der Vogelbeobachtungsstation.« Sie deutete zu dem hölzernen Bau hinüber.
Stirnrunzelnd betrachtete PS Harris den kleinen Jack-Russell-Terrier. »Sie wissen, dass hier im Naturschutzgebiet Hunde verboten sind?«
»Ja, ich habe das Schild gesehen und wollte ihn anleinen, um eine andere Route zu gehen, aber da ist Otis mir auch schon entwischt. Ich bin hinterhergelaufen und habe versucht, ihn wieder einzufangen. Und dann habe ich in der Vogelwarte den toten Mann gefunden. Deswegen habe ich gleich Sean, also ich meine Detective Sergeant Darcy, angerufen, und der hat Sie verständigt. Außerdem hat er mich gebeten, hier zu bleiben und aufzupassen, dass in der Zwischenzeit niemand hineingeht.«
»Danke, dass Sie so lange die Stellung gehalten haben, Ms Morgan«, sagte Harris. »Dann werden wir mal den Fundort absperren. Die Kollegen von der Spurensicherung werden auch bald kommen.«
Lucy tätschelte June zur Begrüßung mitfühlend den Oberarm. »Hi. War sicher ein Schock, was?«
»Na ja, allmählich gewöhne ich mich daran«, erwiderte June mit sarkastischem Unterton. »Ich scheine das ja irgendwie anzuziehen.«
»Allerdings«, brummte Harris. »Und wenn ich es nicht besser wüsste, fände ich das ziemlich suspekt.«
»Ich müsste gleich noch deine Aussage zu Protokoll nehmen«, sagte Lucy. »Wo hast du geparkt?«
»Drüben beim Avalon Marshes Centre auf dem Besucherparkplatz.«
»Dann würde ich vorschlagen, du wartest, bis die Spurensicherung da ist, dann kann ich dich begleiten. Wir können uns in die Teestube setzen. Harris kann mich dann dort wieder einsammeln.«
»Okay. Gut.« June lehnte sich an das hölzerne Geländer vor der Vogelbeobachtungsstation und stellte sich auf eine längere Wartezeit ein.
»Kommen Sie, Darling«, rief Harris. »Die Pflicht ruft.«
Lucy lächelte June im Vorbeigehen noch einmal aufmunternd zu und folgte ihrem Kollegen über den Steg in die Vogelwarte.
Eine Weile später saßen June und Lucy im Marshes Hub, dem Besucherzentrum, das zum Naturschutzgebiet gehörte. Hier gab es Informationen über das Renaturierungsprojekt, und man konnte Kunst und Kunsthandwerk regionaler Künstler sowie regionale Produkte kaufen. Außerdem gab es eine Teestube, in der es Kuchen, Scones und herzhafte Kleinigkeiten zu essen gab. Sie suchten sich einen Platz, an dem sie ungestört waren, und Lucy zückte ihren Notizblock. Otis legte sich wie das reinste Unschuldslämmchen unter Junes Stuhl, während June fürs Protokoll wiederholte, wie sie den Ausreißer durchs Moor verfolgt und dabei im Wasservogelschutzgebiet den Toten gefunden hatte.
»Ich glaube, dann habe ich alles«, sagte Lucy schließlich und sah von ihren Notizen auf. Sie grinste. »Sag mal, das ist aber nicht irgendein raffinierter Plan, um Sean zurückzugewinnen, oder?«
»Haha, sehr witzig, Lucy.« June verzog das Gesicht, musste aber trotzdem lachen. »Ich glaube, da gäbe es bessere Methoden. Außerdem hat er, soweit ich weiß, eine neue Freundin.«
»Ach, echt?...