Schweitzer Fachinformationen
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Alle Krankenhäuser sind gleich. Im selben Moment, in dem man in eines hineingeht, betritt man auch alle anderen. Türen öffnen und schließen sich automatisch, düstere Gänge erstrecken sich wenig verheißungsvoll. Zeit und Raum werden aufgehoben durch Geruch, Architektur und Personal. Spätestens vor dem Anmeldeschalter bin ich entweder im Krankenhaus, in dem mein Vater in den Achtzigern gearbeitet hat, oder im Spital, in dem Lisa vor Kurzem gestorben ist. Ich kann es mir aussuchen.
Die Interne ist die Königin der Medizin, hat mein Vater immer gesagt. Er war ein stolzer Mann, obwohl er keine besonderen Talente hatte. Deswegen ist er auch Arzt geworden. Hätte man ihm das Arztsein weggenommen, wäre nichts übrig geblieben. Als ich das erste Mal in das Spital musste, in dem er arbeitete, lebten wir noch in der Siedlung. Mutter, Vater, Franzi und ich. Meine Schwester und ich besuchten den Kindergarten gleich ums Eck, später dann die Volksschule. Die lag auch nicht weit entfernt. Sonst gab es noch eine Kirche, eine Konditorei, einen Friedhof. Nahversorger, Rathaus, Schuhgeschäft. Das war schon der ganze Ort. Am Nachmittag trafen wir Siedlungskinder uns im Hof, der voll ungeahnter Möglichkeiten steckte, und tat er das gerade nicht, dann stürmten wir eine der elterlichen Wohnungen. In jeder Wohnung gab es eine Mutter, die so war wie unsere, eine, die mit Saft und selbst gebackenem Kuchen kam, eine, die sich nicht aufregte, wenn wir auf den Matratzen hüpften, bis uns schlecht wurde, eine, die uns erst wieder nach draußen schickte, wenn der Ernährer der Familie nach Hause zurückzukehren drohte. Dann wurde es langsam ruhig in der Siedlung, alle Kinder wuselten in ihre eigenen Wohnungen zurück, alle Väter schalteten die Fernseher ein und die Mütter begannen, das Abendessen vorzubereiten. Unsere Wohnung unterschied sich also in nichts von den Wohnungen der anderen Kinder, und trotzdem war bei uns etwas anders. Bei uns schaute nämlich alle paar Monate einmal der Gerichtsvollzieher vorbei. Meistens unter der Woche, wenn der Vater noch in der Praxis war. Der Zusammenhang zwischen dem Gerichtsvollzieher und meiner Familie wurde mir nicht klargemacht, das Einzige, was mir gesagt wurde, war: Wenn der Gerichtsvollzieher kommt, dann verstecken wir uns. Wir tun so, als ob wir nicht zu Hause wären. Meine Mutter hatte dieses Verhalten mit meiner Schwester und mir trainiert. Wir waren wie Kinder einer Erdbebenzone, die nicht in Panik geraten, wenn das Beben anfängt. Kinder, die wissen, was zu tun ist und sich unter den Türrahmen stellen, bis alles vorbei ist. Der Gerichtsvollzieher war unser Erdbeben. Er war sehr oft da. Wir hingegen waren nie da. Unsere Nachbarn hielten still oder halfen bei der Scharade mit. »Sind einkaufen gegangen. Ich habe sie eben noch im Hof gesehen. Vielleicht versuchen Sie es in der Praxis vom Herrn Doktor?« Aber der Gerichtsvollzieher versuchte es nie in der Praxis des Herrn Doktor. Er versuchte es immer nur bei uns daheim, bei meiner Mutter, ganz privat. Und weder meine kleine Schwester noch ich verstanden, wieso er so oft kam.
Wie so viele Kinder hatten auch wir eine magische Großmutter, die an einem beschaulichen Ort in einem verzauberten Häuschen wohnte. Weil ich schon ein bisschen größer war, durfte ich viel öfter bei ihr sein als meine Schwester. Ich musste ihr helfen, Kartoffelkäfer von den Pflanzen zu pflücken, um sie danach zu zertreten, und wenn sie Zeit hatte, las sie mir aus gesammelten Märchen vor oder erfand eigene. Großmutter erzählte mir die Legende von der Windsbraut oder die Geschichte vom Grauspauli. »Wenn du nicht folgst, dann kommt der Grauspauli!«, rief sie oft hinter mir her, wenn ich barfuß und dreckig in die Wohnküche stürmte. Von ihr, kriegs- und selbstversorgungserfahren, lernte ich auch, wie man einen Gemüsegarten anlegte, Käferbohnen an langen, selbst geschnittenen Stangen hochzog und Paradeiser unter alten Fenstergläsern vor dem Regen schützte. Den Paradeisern setzt ja weniger der Regen selbst zu, sondern vielmehr das Wasser, das bei Regen von der Erde auf die Pflanze spritzt. Das Wasser ist voller Bakterien, die die Pflanzen angreifen und sie verfaulen lassen. Ich lernte den Unterschied zwischen Markerbsen und Zuckererbsen, die ich direkt von der Staude naschen durfte. Man konnte sie mit einem kleinen grünen Band wie mit einem Reißverschluss öffnen. Sie zu befühlen, zu öffnen und die glatten, kleinen Kügelchen eine nach der anderen in meinen Mund zu stecken, war das Entdecken und Öffnen einer Schatzkiste. Großmutter hegte außerdem einen Blumengarten, in dem immer irgendetwas blühte. Löwenmäulchen, Fleißiges Lieschen, Zierlauch. Und anders als andere ihrer Generation pflegte sie ein ganz und gar sentimentales Verhältnis zu ihren Tieren. Die Hühner lebten im Hühnerstall und im Sommer auf der Streuobstwiese. Der Hahn schlief im Walnussbaum. Es war immer ein großes Vergnügen, wenn es kleine Küken gab. Es waren dottergelbe Flauschkügelchen und ich war ganz verrückt nach ihnen. Großmutter liebte nicht nur die Küken, sondern auch die ausgewachsenen Hühner. Genauso wie die zwei Schweine und die drei Ziegen, die im Stall neben dem Haus lebten. Die Schweine bekamen jeden Tag Kospel von ihr, also Küchenabfälle, die beim Kochen und Essen überblieben. Manchmal durfte ich die vollen Kübel über den Zaun schütten: Grunzen und Schmatzen voller Begeisterung waren die Folge. Meine Großmutter brachte mir sogar bei, selbst wie ein Schwein zu grunzen. Mund zu, Luft in die obere Hälfte der Wangen pressen, und dann in die untere Hälfte drücken. Dabei den Mund öffnen. Die Ziegen wiederum waren eine Klasse für sich. Sie stanken, besonders die Böcke. Die Pupillen ihrer Bernsteinaugen faszinierende Minuszeichen. Es waren sehr verspielte Tiere, immer hellwach und zufrieden, sie sprangen über Baumstämme und balancierten auf einer Holzleiter, die ihnen Großmutter ins Gehege gelegt hatte. Ich versuchte es ihnen gleichzutun, verstand nicht, wieso sie, zehenlos und mit plumpem Körper ausgestattet, so viel geschickter als ich waren. Manchmal rammte mich eine Ziege von hinten, wenn sie auf den Baumstamm wollte, auf dem ich herumturnte.
Der alles zusammenhaltende, alles bewachende Schäfer hieß Ajax. Er verhielt sich mir gegenüber, als wäre ich ein Huhn, leicht genervt von meinen unberechenbaren Aktivitäten, doch stets aufmerksam. Wenn ich ihn zu lange streichelte, knurrte er leise und verzog sich. Großmutter legte ihm manchmal die Leine um und gab mir ein Ende in die Hand, dann gingen wir spazieren, Ajax und ich. Ich war sehr stolz, dass sie mir den großen Hund anvertraute. In Wahrheit passte Ajax auf mich auf. Das einzige Tier, vor dem ich Respekt hatte, war der imposante Hahn. Er hatte mir einmal den Schnabel ins Knie gehackt, als ich gerade erst laufen gelernt hatte, meine Erinnerung daran war verschwommen. Wahrscheinlich war der Hahn schon längst ein anderer. Tiere bereiteten meiner Großmutter große Freude. Natürlich verwertete sie Fleisch, Eier und Milch, aber sie tat es wertschätzend. Sie entschuldigte sich bei den Tieren, die sie zu schlachten vorhatte, und bedankte sich bei ihnen, wenn der Akt vollzogen war. Ich sehe sie vor mir, wie sie im Garten steht, eine Hacke in der einen Hand, ein Huhn in der anderen, und ein stilles Gebet in den Äther schickt. Vielleicht tat sie das, vielleicht auch nicht, ich war nie dabei, wenn eines der Tiere geschlachtet wurde. Sie behandelte sie jedenfalls so, als wären sie nur zufällig da, nicht ihr Eigentum. Wie sie die Hühner rief und lockte und welchen Spaß sie beim Einsammeln der manchmal noch warmen Eier hatte. Wie sie den Ziegen ihre Glöckchen streichelte. Wie sie den Schweinen im Herbst Kastanien und Eicheln ins Futter mischte, weil sie das besonders gerne mochten. Auf dem Hof meiner Großmutter herrschte eine fast romantische Harmonie zwischen allem, was hier lebte. Kartoffelkäfer und Schnecken einmal ausgenommen. Erst Jahre später hörte ich, wie meine Großmutter von ihren Nachbarn und den anderen Dorfbewohnern als verrückte Alte bezeichnet wurde. Der Schweinebauer nebenan, der mit dem Schweinestall ohne Fenster, der schimpfte besonders auf den Sauhaufen, und dass meine Großmutter schon längst in ein Heim gehöre. Das sei doch keine Ordnung da mitten im Ort, da sei doch alles Kraut und Rüben, und wie denn das ausschaue. So mache man das heute nicht mehr. Meine Großmutter hörte aber nicht auf das, was man ihr mehr oder weniger unverhohlen beim Kaufmann steckte. Sie ließ die Hecken und Bäume rund um das Grundstück einfach noch ein bisschen höher wachsen und traf sich nur noch mit wenigen Freundinnen und uns, der Familie. Ich war Großmutters Liebling und verbrachte lange Sommer und viele Wochenenden bei ihr. Meine Schwester kam selten mit, sie war noch zu klein oder wir beide zusammen vielleicht doch zu viel für die Großmutter. Ich war zufrieden, dieses Paradies ganz für mich zu haben. Bonus: Mein Vater war nie dabei. Stets brachte und holte mich meine Mutter. Ich fütterte die Hühner, wich dem Hahn aus, grunzte mit den Schweinen und wusch mir auch nach dem Kraulen der Ziegen nicht die Hände. Ich lief bis in den Herbst hinein barfuß, versteckte mich an meinen streng...
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