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Nachts sind die Straßen herrlich leer in Berlin. Für einen Moment wünscht sich Kay, er könnte immer nachts fahren. Die 31 Kilometer vom Berliner Olympiastadion bis zu seinem Haus draußen in Hoppegarten, im äußersten Osten vor den Toren der Stadt, kommen ihm zu dieser Zeit wie eine Kurzstrecke vor. Kein Vergleich zu den Geduldsproben, denen er sich täglich zur Rushhour aussetzen muss. Sanft gibt er Gas. Sein blauer Porsche mit der Zahlenkombination 1892 im Nummernschild, Herthas Gründungsjahr, beschleunigt. Eigentlich hatte er sich das Auto gar nicht kaufen wollen. So eine Protzerkarre passt nicht zum Präsidenten von Hertha BSC, der er seit anderthalb Jahren ist, findet Kay. Der Klub ist klamm, muss sparen, wie sieht es da aus, wenn ich so ein Auto fahre, hatte er gesagt. Aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund war es sein Wunsch gewesen, einmal einen Porsche zu fahren, obwohl er sich sonst nicht viel um Autos scherte. Lieber fuhr er mit seiner Vespa. "Einfach machen", hatte Lilo, seine Frau, die eigentlich Eileen heißt, zu ihm gesagt. Das gab ihm ein gutes Gefühl. Und Sicherheit. Lilo gab ihm Sicherheit, das liebte er so an ihr. Den Porsche ließ er später umfolieren. Von Schwarz auf Blau. Der Farbe von Hertha BSC.
Einfach machen ist sein Motto. Zwei Worte, die für ihn stehen wie das Olympiastadion für Hertha BSC. So ist er die Dinge immer angegangen bisher. Zuerst in der Kurve, ab Mitte der Neunziger. Später als Firmengründer und jetzt als Präsident des größten Fußballklubs der großen Stadt Berlin. Nicht lange nachdenken. Nicht zögern. Einfach machen.
Flüchtig wirft er einen Blick auf die Uhr. Irgendwas zwischen zwei und drei. Ist spät geworden. Mal wieder. Auf dem Beifahrersitz neben ihm liegt der Spielball. Ein bunter Quell höchster Glückseligkeit. Mit blauen, gelben, violetten und weißen Flächen. Fußball ist zu einem der liebsten Kinder der modernen Unterhaltungsindustrie geworden, da passen die schwarz-weißen Bälle der Franz-Beckenbauer-Zeit nicht mehr ins Bild. Inzwischen ähneln sie großen Flummis. Von Vertragspartnern jedes Jahr aufs Neue in neuen Farbtönen herausgebracht. Schick sehen sie aus. Vielleicht mag Luna sie deswegen. Den Spielball bringt Kay hin und wieder mit nach Hause, um ihn seiner zwei Jahre alten Tochter zu schenken. Das heißt, eigentlich würde er ihr gern jede Woche einen Ball mitbringen, aber das geht leider nicht. Es wäre gegen die Regeln.
Kay hat ein Ritual. Nach Hause kommen nur die Bälle von gewonnenen Spielen. Und Hertha gewinnt nicht jede Woche. Lilo beschriftet die Bälle säuberlich. Datum, Gegner und Endergebnis schreibt sie mit einem wasserfesten Stift drauf. Erinnerungsstücke für später.
Dieser Ball, der jetzt mit Kay durch Berlin düst, ist nicht nur für Luna. Er ist auch ein bisschen für ihn. Er wird einen besonderen Platz in seinem Büro bekommen, wenn Luna damit nicht mehr spielen möchte, denkt Kay. Am besten auf seinem Schreibtisch, auf dem viel zu oft allerhand Kram liegt, der ihm das Arbeiten dann erschwert. Aber dieser Ball ist kein Kram. Er ist jetzt schon magisch, zwei Stunden nachdem er zum letzten Mal getreten wurde.
Wer wie Kay fast tausend Fußballspiele gesehen hat, der erinnert sich zuallererst an die ganz besonderen und ihre Geschichten. Europapokal gegen Barcelona im Nebel, der lustige Streich von Stavanger mit den geklauten Trikots oder Abstiegs-Relegation in Hamburg. Das Gehirn selektiert automatisch. Das Spiel von heute, da ist er sich sicher, wird auf ewig einen Podiumsplatz in seinem Gedächtnis bekommen.
Episch, dieser Sieg gegen den Hamburger SV, nach Elfmeterschießen. Davor zweimal Ausgleich zum spätestmöglichen Zeitpunkt, als niemand mehr daran glaubte. Zuerst traf Fabian Reese in den letzten Zuckungen der regulären Spielzeit zum 2:2, dann Jonjoe Kenny zum 3:3 mit Ablauf der Verlängerung, die Vorlage kam von Reese. "Dieser Teufelskerl", denkt Kay. Fabian Reese ist zum Gesicht der Mannschaft geworden. Coole Frisur, schwarz lackierte Fingernägel, die Kids da draußen in der Stadt haben wieder einen, der zum Idol taugt. Wie früher Marcelinho, Marko Pantelic oder Zecke Neuendorf. Im Elfmeterschießen hat Reese dann auch noch die Nerven behalten, wie alle anderen auch. Jahrhundertspiel werden Herthas Fans das Spiel später taufen. Wie das Halbfinale der Weltmeisterschaft 1970. Italien gegen Deutschland, 4:3. Auch damals glichen die Deutschen in der letzten Minute aus, ehe sie nach einer unvergesslichen, umkämpften Schlacht über 120 Minuten zwar unterlagen, aber das Feld mit erhobenen Köpfen verließen. Dieses Spiel versetzte Menschen weltweit in Verzückung. Für Kay und alle in der Ostkurve bedeutet Hertha BSC die Welt. Da darf gern von einem Jahrhundertspiel die Rede sein.
Nach dem letzten Schuss hatte ihn eine Leichtigkeit ergriffen, wie vielleicht noch nie, seit er im Juni 2022 zum Präsidenten von Hertha BSC gewählt wurde. Plötzlich verschwamm eine Grenze, die sein Amt automatisch zieht. Voller Freude hatte er sich eingehakt, beim linken Nebenmann und beim rechten, wie früher mit den Kumpels in der Ostkurve. Mit Kreisel, Colin, Heidi, Quote, Fabi, Roy und all den anderen, für die dieser Verein nicht weniger als ihr Leben bedeutet. Nur dass Kay dieses Mal nicht in der Kurve stand, sondern davor. Auf der Tartanbahn, mit der Mannschaft. Eingepackt in eine blau-weißen Daunenjacke, darunter die Trainingsjacke, die zum Symbol seiner Präsidentschaft und zum Verkaufsschlager im Fanshop geworden ist. Das Lied, das sie gemeinsam sangen, kam ihm so oder so ähnlich schon tausendmal über die Lippen, aber so schön wie an diesem Dezemberabend 2023 hatte es nie geklungen.
"Hier kommt Hertha,
scheißt euch in die Hosen,
die Kurve ist am Toben,
gemeinsam hol'n wir den Pokal."
Noch Tage später hatte der Einzug ins Pokal-Viertelfinale Kay so aufgewühlt, dass Fabi, sein Stellvertreter und Vizepräsident, Angst bekam. "Wenn wir den Pokal holen, dann war's das für mich. Dann höre ich als Präsident auf", witzelte Kay nun jeden Tag, bis es Fabi nicht mehr witzig fand. So gut kannte er den Freund inzwischen, dass er wusste, der Kay, der sagt Sachen nicht einfach so daher. Da ist immer was Wahres dran. Zumal Kay noch nicht kundgetan hatte, ob er für eine zweite Amtszeit kandidieren will. Die Begleiterscheinungen des Präsidentenamtes nahm nicht nur Fabi wahr. Kays Haare waren grauer geworden, sein Gesicht müder und sein Enthusiasmus dem eines Politikers gewichen, der einsehen muss, dass Regieren vor allem aus Kompromissen besteht. Der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hatte Kay erzählt, er fühle sich wie Robert Habeck. Fabi wusste, eine zweite Legislaturperiode wird im Hause Bernstein kontrovers diskutiert. "Zwei, drei Tage bin ich bei Hertha", hatte er Lilo gesagt, als alles losging. Als er den verwegenen Plan fasste, Präsident des Klubs zu werden. Aus den "zwei, drei Tagen" waren sechs geworden. Nur den Montag, den schenkte Kay nicht seiner Hertha, sondern seiner Luna. Papa-Tochter-Tag in Hoppegarten. Kay wusste selbst, dass er viel seltener zu Hause war, als er es versprochen hatte. Wenn er Luna ansah, ihre Fortschritte bemerkte, ihr Wachsen, dann war ihm klar, er verpasste was. Wie sehr hatte er sich Luna gewünscht, obwohl er lange gar keine Kinder wollte. Durch Lilo änderte sich das.
Neben seiner Familie liebte er seinen Verein. Zwei Drittel seines Lebens hatte er Hertha BSC gewidmet. Als Vorsänger, Fan und jetzt als Präsident. Selbst am Tag nach seiner Hochzeit wollte er zum Spiel fahren. Das Spiel war ja nur in Magdeburg. Schnell um die Ecke, am Abend bin ich wieder zu Hause, das waren die Worte, die er kurz vor der Hochzeit an Lilo richtete. Sein Freund Colin konnte ihn nur mit Mühe davon abbringen.
Bei all der Inbrunst, mit der er sich Hertha BSC verschrieb, hing eine zweite Amtszeit am Daumen von Lilo. Würde sie ihn senken, würde er nicht wieder kandidieren. Lilo senkte den Daumen nicht, sie hob ihn. Unter zwei Bedingungen: Der Papa-Tochter-Montag bleibt und bitte nicht mehr jedes Auswärtsspiel. Kay überlegte, wie er die zweite Bedingung umgehen könnte. Er hatte da schon eine Idee. Man müsste die Fahrten nur als Familienausflug deklarieren. Er würde für Lilo und sich ein schickes Hotel buchen, dann Ausflüge in die Stadt organisieren, Restaurants reservieren. Zwischendurch kurz zum Fußball, nur zwei, drei Stündchen. Lilo könnte in dieser Zeit im Hotel entspannen. Kay fand, das sei ein guter Plan.
Fabi wusste nichts von Lilos gehobenem Daumen, als er Kay zwei Tage vor Weihnachten zur Rede stellte. Der Wind pfiff übers Olympiagelände und blies Fabi kräftig durch die Haare. Er sah so aufgewühlt aus, wie er sich fühlte. "Meinst du das ernst? Willst du wirklich aufhören, wenn wir den Pokal gewinnen?", fragte er am Tor vor der Geschäftsstelle, ohne zu merken, wie...
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