Schweitzer Fachinformationen
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»Wie kannst du nur hier leben?«, fragt meine Mutter.
Ich war noch nie gut darin, ihre stumpfe Miene zu deuten, aber in ihrem Tonfall glaube ich, einen Vorwurf ausgemacht zu haben.
In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren deutete nichts darauf hin, dass ich jemals zurückkehren würde - außer für die üblichen kurzen Besuche zwischen zwei Projekten. Bei diesen wenigen Gelegenheiten, zu denen wir uns trafen, hat meine Mutter nie so etwas gesagt wie »Man hört ja so selten von dir!«, »Kommst du bald wieder vorbei?« oder »Willst du wirklich schon fahren?«.
Auch dass sie mir in die Augen sieht, kommt selten vor. Gerade folgt ihr Blick der Kuppe ihres Zeigefingers, mit der sie die Maserungen des schweren Eichentischs nachzeichnet.
Es ist das erste Mal, dass sie mich besucht, seit ich vor gut drei Wochen in das weiße Fachwerkhaus am Waldrand gezogen bin. Onkel Sören hat es mir vermacht, doch in der Gegenwart meiner Mutter will ich so wenig wie möglich an ihn denken. Der Schmerz ist zu roh, als dass ich ihn verbergen könnte, und er würde sie und mich beschämen. Zwischen uns existiert nicht diese Art von Vertrautheit, in der man seinen Gefühlen freien Lauf lässt.
Ich frage mich, warum sie hier ist, wo sie sich in diesem Haus doch so offensichtlich unwohl fühlt. Wahrscheinlich denkt sie, die Höflichkeit gebiete einen Gegenbesuch, nachdem ich am vergangenen Sonntag zum Kaffeetrinken bei ihnen war. Genau wie früher gab es Zuckerkuchen und Bienenstich, dazu starken Kaffee und Kondensmilch aus einem weißen Porzellankännchen mit Goldrand. An ihrem Sonntagskaffee halten meine Eltern fest, komme, was wolle. Man könnte annehmen, dass es um den Genuss geht, zumindest aber um ein lieb gewonnenes Ritual. Doch ich weiß es besser, die beiden haben noch nie etwas genossen. Für sie zählt nur eins: Die Dinge müssen so erledigt werden, wie sie immer erledigt wurden.
Für sie ist deshalb mein älterer Bruder Ole das gute Kind. Er hat seine Heimat nie verlassen, egal, welche Träume mal in ihm gesteckt haben mögen. Er erscheint jeden Sonntag pünktlich zum Kaffeetrinken, gemeinsam mit seiner Frau Doreen und den Zwillingen.
Unsere Schwester Fenja hingegen lässt sich nur selten blicken. Genau wie ich wohnt sie auf der anderen Seite der Schlei. Der Meeresarm hat sich schon früher als scharfe Trennlinie zwischen den kleinen Orten erwiesen, obgleich die Fähre andauernd das Wasser überquert.
Wenn Fenja doch einmal bei unseren Eltern auftaucht, dann alleine oder selten einmal mit den Kindern, nie mit ihrem Mann. Das weiß ich von Ole, mit dem ich von Zeit zu Zeit telefoniere.
Allerdings hat sich unsere Mutter auch nie bemüht, ihren beiden verlorenen Töchtern wieder näherzukommen. Andere würde die Trauer um einen engen Verwandten enger zusammenrücken lassen, bei uns ist das Gegenteil der Fall: Es gibt nun eine weitere Sache, über die wir nicht reden.
»Ich könnte hier niemals leben.« Diesmal hat sie ihre Abneigung nicht in eine Frage verpackt.
»Jemand muss sich um seine Sachen kümmern. Und vielleicht wird ja irgendwann Gras über alles wachsen«, entgegne ich.
Was redest du denn da? Halt die Klappe, Svea! Wie sollte Gras darüber wachsen, nachdem irgendein Hund Julias Schienbein ausgebuddelt hat und Onkel Sören mit einem handgeknüpften Strick um den Hals verreckt ist?
»Gras darüber wachsen«, wiederholt meine Mutter. »Meinst du die Sache mit Julia? Daran habe ich gar nicht gedacht.«
Ungläubig sehe ich meine Mutter an. Wie kann sie nicht an Julia gedacht haben? Nun, da er als ihr Mörder gilt, sind Sören und meine einstmals beste Freundin untrennbar miteinander verbunden, auch wenn sie damals auf zwei unterschiedlichen Planeten zu existieren schienen.
Ungeduldig wippe ich mit dem Fuß. »Woran hast du dann gedacht?«
Sie antwortet nicht, aber ihr Blick wandert zu den Jagdtrophäen an der Wand.
Ihre offen zur Schau getragene Abscheu gegenüber der Einrichtung ihres Bruders fühlt sich wie eine nicht hinnehmbare Kritik an ihm an.
Missmutig verziehe ich das Gesicht. »Die wollte ich längst abhängen.«
Die Geweihe an der Wand lassen ihn wie einen Trophäenjäger aussehen. Obwohl ich selbst von Zeit zu Zeit ein Tier erlege, käme es mir nie in den Sinn, das Töten als Heldentat auszustellen. Viel eher ist es der Preis, den ich zahle, um Fleisch essen zu können.
Auch bei Sören kann ich mir nicht vorstellen, dass er mit dem Wandschmuck protzen wollte. Die Geweihe sind das, was übrig bleibt, und es war ihm immer wichtig, nichts verkommen zu lassen. Seiner Meinung nach sollte niemand ein Filet braten, der nicht auch die Innereien verwertete - oder sie zumindest dem Hund überließ.
Ein paarmal nahm er meinen Bruder und mich mit auf die Jagd. Unsere Eltern hatten nichts dagegen, obwohl wir noch Kinder waren. Wieso sollten sie auch, wo sie doch von der Fischerei lebten? Das Töten war für uns weder ein Vergnügen noch ein Skandal, es war Teil unseres Alltags.
»Und wenn ich dann noch an diese Leute da im Wald denke .« Meine Mutter zieht ihre Strickjacke enger um sich, als könnte man an diesem warmen Junitag frieren.
Bevor ich es aufhalten kann, entweicht mir ein kleines Kichern, woraufhin sich sofort ihre Kiefermuskeln verkrampfen. Ich hatte nicht vor, sie zu kränken, aber ihr kann doch unmöglich entfallen sein, dass ihre jüngste Tochter Fenja ebenfalls zu diesen Leuten gehört.
»Entschuldigung .« Ich bringe das Wort »Mama« nicht über die Lippen, und »Mutter« erinnert zu sehr an verzogene Bälger in Internatsfilmen. »Soll ich uns einen Tee machen?«
»Mhm.«
Für mich klingt es wie ein Ja, also setze ich den Wasserkessel auf und hänge Teebeutel in zwei Weihnachtsmarkttassen mit angeschlagenen Rändern. Auf gutes Porzellan, wie es bei meinen Eltern sonntags auf den Tisch kommt, hat Sören keinen Wert gelegt.
Der Tee stammt von Tina, meiner ältesten Freundin - wenn man einmal nur die Lebenden zählt. Sie hat mich und die wenigen Habseligkeiten, die ich behalten wollte, mit ihrem Auto hierher kutschiert. Außerdem hat sie mir ein riesiges Care-Paket dagelassen. Bestimmt dachte sie, es gäbe hier nirgendwo einen Supermarkt. Es muss ihr vorgekommen sein, als stände mein Waldhaus am Ende der Welt.
»Pittoresk«, hat sie es nach einigem Hüsteln genannt. Ihr war anzusehen, wie sehr es sie bei der Vorstellung schauderte, an einem Ort wie diesem zu leben.
Ich habe schallend gelacht, da ihre geliebte Großstadt weitaus mehr Gefahren birgt und Menschenmassen vor gar nichts schützen.
Nur Zufall und Geldnot konnten zwei so gegensätzliche Menschen wie uns zusammenführen. Wir haben uns in Dresden kennengelernt, wo wir uns als Studentinnen eine Wohnung teilten. Ich hatte mich für Forstwirtschaft eingeschrieben, Tinas Wahl war auf Germanistik und Philosophie gefallen. Außer dass wir chronisch pleite waren, verband uns nichts, und doch hat sich das Band zwischen uns als erstaunlich haltbar erwiesen. Das Gewebe unserer Freundschaft wurde nicht zerschlissen, wie es bei großer Ähnlichkeit geschehen kann, wo kleine Abweichungen umso stärker irritieren. Wir lebten von Anfang an mit einer riesigen Kluft zwischen uns, die wir mit liebevollem Spott zur Kenntnis nahmen, aber gar nicht erst zu schließen versuchten. Du nun wieder.
Tina, die mittlerweile in Hamburg wohnt, ist eine unerschöpfliche Quelle an Sinnsprüchen wie denen, die auf den Papieretiketten der Teebeutel stehen. Heute lese ich auf dem einen: Glück ist Liebe, nichts anderes, und auf dem anderen: Nächstenliebe liebt mit tausend Seelen.
Hastig reiße ich die Zettelchen ab, bevor ich eine der Tassen vor meiner Mutter abstelle und den Gesprächsfaden wieder aufnehme.
»Wieso sollte ich mich vor ein paar Spinnern im Wald fürchten?«, frage ich. »In Kanada waren Bären und Wölfe um mich herum.«
Wehmütig denke ich an das Aufforstungsprojekt, an dem ich zuletzt mitgearbeitet habe. Von allen Ländern, die ich bereist habe, hat mir Kanada am besten gefallen. Ich bin im Frühherbst dort angekommen, als die Ahornblätter sich feuerrot verfärbten. Die Einheimischen versorgten uns mit frisch gebackenem Blaubeerkuchen und fragten uns neugierig über unsere Arbeit aus.
»Menschen sind gefährlicher«, brummt meine Mutter.
Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Insgesamt habe ich wenig Grund, an dieser Aussage zu zweifeln. Wenn sie nur nicht so oft von Leuten getätigt würde, die sich für gebildet halten. Mit einem Rotweinglas in der Hand und dieser kultivierten Weltverachtung in der Stimme, die ich lächerlich finde. Womöglich kennen solche Leute die Welt sogar auf Latein, aber immer nur aus zweiter Hand.
Meine Mutter zählt jedoch nicht zu ihnen, deshalb verkneife ich mir ein gehässiges Grinsen. Trotzdem irrt sie sich, was diese speziellen Menschen im Wald angeht. Sie sind Spinner, wahrscheinlich nicht einmal harmlose, aber garantiert zählen sie nicht zu den Spitzenprädatoren. Selbst Erik, meinem Schwager, würde ich das nicht zugestehen, obwohl ich ihn durchaus für gefährlich halte.
»Ich werde mich wohl irgendwie mit ihnen arrangieren«, entgegne ich.
»Du musst ja wissen, was du tust.« Die Aggressivität in ihrem Tonfall ist jetzt nicht mehr nur unterschwellig.
»Stört es dich, dass Sören mir alles hinterlassen hat?«, frage ich geradeheraus. Ich verstehe ja selbst nicht, was ihn da geritten hat.
Sie zuckt mit den Achseln. »Das Haus und den Wald hätte ich niemals gewollt, aber der Verkauf...
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