[pg 1] Erster Abschnitt.
Die völkerrechtlichen Rechtsfolgen der Piraterie in ihrer Bedeutung für den Tatbestand.
Inhaltsverzeichnis § 1. Die Rechtsfolgen der Piraterie.
Inhaltsverzeichnis Bekennt man sich zu der Auffassung, daß Rechtssubjekte des Völkerrechts nur die Staaten sind, so ist die Piraterie für das internationale Recht nicht Delikt, sondern ein bloßes Rechtsereignis1; und ihre Rechtsfolgen können in dieser Voraussetzung nur in der Person der Staaten entstehende Befugnisse und Pflichten sein. Das Ziel dieser Untersuchung ist, zu ermitteln, wie dieses Ereignis beschaffen sein müsse, damit es zu einem völkerrechtlichen Rechtsereignis werde, d. h. Rechtsfolgen für die Staaten eintreten. Die Rechtsfolgen selbst interessieren nur, soweit ihre Erkenntnis für die Bestimmung des Tatbestandes von Bedeutung ist.
I. Der großen Aufgabe, zur Förderung ihrer Angehörigen wie zur Durchführung dringender Anforderungen der öffentlichen Moral auch in staatlosen Gebieten eine Rechtsordnung aufzurichten, ist die in der Völkerrechtsgemeinschaft vereinigte Staatenwelt in steigendem Maße gerecht geworden. Die rechtlichen Grundlagen der in dieser [pg 2]Hinsicht getroffenen Maßregeln sind für die in Frage stehenden Gebiete nicht dieselben.
a) In staatlosem Landgebiet stehen der Betätigung der einzelnen Staatsgewalten keine aus den Verhältnissen der staatlosen Gebiete selbst abzuleitenden Hindernisse entgegen. Tatsächliche Machtentfaltung wie auch die Ausdehnung der Geltung der Gesetze sind lediglich durch mit dem besonderen Charakter des Gebietes nicht zusammenhängende allgemeine völkerrechtliche Prinzipien gebunden2. Diese Sätze gelten auch für Interessensphären3.
[pg 3] b) Dem dringenderen Bedürfnis entsprechend ist die internationale Rechtsordnung für das Meer zu einer ungleich geschlosseneren Ausgestaltung gelangt. Ihre Grundlage ist nicht, wie bei der auf staatlosem Landgebiet errichteten, eine rein negative, dahin gehend, daß der Entfaltung der Staatsgewalt zivilisierter Staaten keine Schranken gezogen wären, vielmehr ein positives Prinzip, das jede Gebietshoheit ausschließt und so das Meer für ein "staatloses Gebiet" durchaus eigner Art erklärt4. Auf dieser Grundlage, als Konsequenz des Prinzips der Meeresfreiheit, ergibt sich sodann eine zweifache Verpflichtung der Staaten; sie haben insgesamt Sorge zu tragen, daß nur staatsangehörige Schiffe das Meer befahren; und jeder einzelne hat zu verhindern, daß seine Nationalschiffe die allgemeine Sicherheit verletzen oder gefährden.
Man könnte versucht sein, in diesen Grundsätzen ein geschlossenes System zu erblicken, ausreichend, den friedlichen Seeverkehr in allen Beziehungen zu sichern. Aber der Ozean in seiner unermeßlichen Weite, "undique et undique navigabilis" (Grotius mare liberum C. 1), läßt dem einzelnen Staate nicht die Möglichkeit, seine Staatsgewalt den ihm angehörigen Schiffen als eine allgegenwärtig [pg 4]wachende und strafende Macht erscheinen zu lassen; und wenn schon bei Nationalschiffen aus tatsächlichen Gründen der aufgestellte Grundsatz nicht ausreicht, so ist, was die keinem Staate angehörigen Fahrzeuge betrifft, der Grundsatz selbst etwas prekärer Natur und zumal in seiner Durchführung im einzelnen sehr unsicher.
So erklärt sich das Bestehen einer Reihe von Rechtsinstituten, die sich in ihrer praktischen Bedeutung, wenn auch nicht notwendig in ihrer juristischen Konstruktion, als Modifikationen der Meeresfreiheit darstellen, in Modifikation derselben ein System internationaler Seepolizei etablieren. Mit einer Ausnahme gehören sie alle der neuesten Zeit an und finden ihre Grundlage in Verträgen5. Die Ausnahme ist die Piraterie6und7.
II. "Die seefahrenden Nationen ... erklären sich zur Repression der unter dem Namen der Piraterie begriffenen Tatbestände rechtlich verpflichtet" (v. Martitz, Int. Rechtshilfe I, S.66). Dieser Satz enthält einen Grundsatz, einen leitenden Gedanken; welches der genaue Umfang der Befugnisse und Pflichten der Staaten in der Bekämpfung der Piraterie sei, bedarf näherer Untersuchung. Es wird [pg 5]sich sofort zeigen, daß die Stellungnahme zu dieser Frage in sehr wesentlichen Punkten der Bestimmung des Tatbestandes präjudiziert.
1. Festnahme von Piratenschiffen. Ihre Denationalisierung. Daß die seitens ihrer Regierung dazu ermächtigten Schiffe aller Nationen das Recht haben, Piratenschiffe aufzubringen, ist eine nirgends bezweifelte Tatsache8. Bestände dieses Recht nicht, so wäre die Piraterie für das Völkerrecht ohne jede Bedeutung.
Nur ein Autor ist uns bekannt geworden, der in radikaler Weise mit der herkömmlichen Anschauung bricht. Es ist Albert Zorn (Völkerrecht, 2. Aufl. 1903, S.169): "Dagegen ist der Seeraub (die Piraterie) nicht ohne weiteres in der Weise strafbar, daß jeder Staat das Recht hat, jedes Piratenschiff, gleichviel welcher Nationalität Schiff oder Eigentümer angehört, anzuhalten oder aufzugreifen. Vielmehr ist infolge des Prinzips von der Freiheit des offenen Meeres die für jeden Staat erforderliche Rechtsgrundlage hierfür nur dann gegeben, wenn der Täter ein Staatsangehöriger oder die Tat innerhalb des Staatsgebiets, sei es auf einem Schiffe des betreffenden Staates oder auf einem fremden Schiffe im Küstenmeer, begangen ist oder die Strafbarkeit auf einem Staatsvertrage beruht;" (dazu N.2): "Das ergibt sich auch schon daraus, daß dem 'völkerrechtlichen Verbote' z. B. für Deutschland jede [pg 6]Möglichkeit wirksamer Durchführung infolge Mangels einer Strafandrohung fehlt" (vgl. auch Philipp Zorn, Staatsrecht II, 2. Aufl. 1897, S.927). Dieser Ausführung kann der Vorwurf einer gewissen Oberflächlichkeit nicht erspart bleiben. Die sehr zutreffende Bemerkung, daß nach geltendem Rechte tatsächlich nicht jeder Staat die Kompetenz zur Aburteilung eingebrachter Piraten habe, ist schon oft gemacht worden; aber daraus den Schluß zu ziehen, daß die Piraterie überhaupt ohne völkerrechtliche Bedeutung sei, ist nur bei einer Konfundierung der vollkommen disparaten Fragen möglich, wie weit sich die Gerichtsbarkeit eines Staates erstrecke und unter welchen Voraussetzungen er zur Festnahme eines Schiffes auf hoher See schreiten dürfe. Auch im Falle des Einschreitens eines deutschen Kriegsschiffes etwa auf Grund des Nordsee-Fischereivertrages oder der Kabelkonvention ist die Möglichkeit der Strafverfolgung in Deutschland nur in den (auch für die Verfolgung von Piraten geltenden) Schranken der §§ 3-8 St.G.B. gegeben9, ohne daß dadurch die Zulässigkeit des Eingriffs irgendwie berührt würde. Wenn vielen Staaten nach Lage ihrer Gesetzgebung die Zuständigkeit zur Bestrafung von Piraten in gewissen Fällen mangelt, so ist deshalb die Aufbringung der Piratenschiffe durch sie keine unnütze Bemühung, es sei denn, es bestehe nicht die Möglichkeit der Auslieferung an irgend einen zuständigen Staat, ein denkbarer aber sehr unpraktischer Fall. Daß in Ergänzung der fehlenden eigenen Zuständigkeit des Staates eine Auslieferungsverbindlichkeit besteht10, ist ein Gesichtspunkt, der Zorn entgangen zu sein scheint.
[pg 7] Unter der Einmütigkeit, mit der die Zulässigkeit der Aufbringung der Piratenschiffe anerkannt wird, verbirgt sich nun aber eine tiefgehende Meinungsverschiedenheit über die Tragweite dieser Anerkennung. Veranlaßt durch die Notwendigkeit, den in Verkennung des Wesens der Piraterie vielfach übermäßig ausgedehnten Tatbestand zu restringieren, hat man behauptet, Pirat sei nur ein solches Schiff, "das völkerrechtlich betrachtet keinem Staate angehört" (v. Liszt, Völkerrecht, S.211)11. Es ist das im Grunde eine Frage des Tatbestandes der Piraterie, nicht der Rechtsfolgen; wenn sie gleichwohl hier ihre Behandlung findet, so rechtfertigt sich das daraus, daß, wenn die von v. Liszt vertretene Auffassung richtig ist, die Piraterie zu einem Tatbestand ohne selbständige Rechtsfolge würde, wonach die weitere Darstellung einen ganz anderen Weg einzuschlagen hätte. Ein keinem Staate angehörendes Schiff kann aus dem bloßen Grunde seiner Anationalität aufgebracht werden (s. u. 4). Die Bedeutung der Piraterie besteht wesentlich darin, daß sie die Maßregel auch gegenüber nationalen Schiffen ermöglicht. Vor näherem Eingehen auf die Kontroverse soll eine Präzisierung derselben versucht werden.
Eines der wesentlichsten Elemente des subjektiven Tatbestandes der Piraterie ist die Lösung des Piratenschiffes von jedem anerkannten staatlichen Verbande in einem noch näher zu bestimmenden beschränkten Sinne (gewerbsmäßiges, sozialgefährliches Unternehmen ohne politischen Zweck). Diese Lösung ist ein rein tatsächlicher Vorgang, ein Ereignis in der Psyche der betreffenden Personen. Von ihr, die man als faktische Denationalisierung bezeichnen könnte, [pg 8]ist die infolge der Piraterie eintretende rechtliche Denationalisierung streng zu scheiden. Diese letztere bedeutet eine...