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Inzwischen hatte es wieder angefangen zu regnen, und ich war dankbar für den Schirm, den ich dabei hatte. Ich fragte mich, wann aus dem Regen Schnee werden würde. Da es aber erst Anfang November war, würde es wahrscheinlich noch dauern, außerdem war Schnee in Paris keine Selbstverständlichkeit.
Ich bog in eine Seitenstraße ein und stand plötzlich vor einem kleinen Fotogeschäft. Es hatte große Fenster, deren Rahmen aus dunkelgrün angestrichenem Holz bestanden. Über der Eingangstür baumelte ein Schild, auf dem mit verschnörkelten Buchstaben Les petits moments stand. Als ich die Tür öffnete, läutete ein Glöckchen, und der Duft nach Lavendel umgab mich.
»Bonjour!«, begrüßte mich eine junge Frau mit roten Locken. Ich murmelte auch eine Begrüßung und sah mich verstohlen um. Ich war bis jetzt noch nie in diesem Fotogeschäft gewesen und bei neuen Dingen, waren sie auch noch so banal, ein wenig skeptisch. Die Regale waren vollgestopft mit Fotoalben, die man anscheinend kaufen konnte, und solchen, die schon mit Fotos gefüllt waren und darauf warteten, abgeholt zu werden. Dann gab es noch Regale, die mit weißen Umschlägen gefüllt waren und in denen sich Fotos befanden, die ebenfalls darauf warteten, abgeholt zu werden. Außerdem gab es noch eine Ecke, in der eine hellbraune Couch und ein kleiner Tisch aus dunklem Holz standen. Auf dem Tisch befanden sich eine Kerze und eine Kanne. Auch an den Fenstern standen mehrere Kerzen, die das Fotogeschäft in ein gemütliches Licht tauchten. Einen Fotoautomaten hatte ich bis jetzt aber noch nicht gefunden.
»Pardon, Madame, wo steht hier ein Fotoautomat?«, fragte ich.
»Im hinteren Teil gibt es sogar mehrere«, antwortete sie und wies mit dem Finger nach rechts. Dass es dort noch weiterging, war mir bis jetzt gar nicht aufgefallen. Ich schaute sie dankbar nickend an und lief durch die Regale nach hinten. Nachdem ich durch eine Holztür einen kleineren Raum betreten hatte, lullte mich wieder der Duft nach Lavendel ein. Vermutlich lag das an den Kerzen, die auch hier brannten. Als ich vor einem der Fotoautomaten stand und gerade mein Handy aus der Tasche holen wollte, fiel mir auf, dass in dem Fach, in das die entwickelten Fotos fielen, noch ein Foto lag. Ich beugte mich hinunter, um es aus dem Fach zu holen. Auf dem Foto befand sich eine zierliche, junge Frau. Sie hatte schulterlange, dunkle Haare, ich konnte nicht genau sagen, ob sie dunkelbraun oder schwarz waren, und braune Augen. Außerdem trug sie eine mit kleinen Blümchen übersäte, cremefarbene Bluse. Sie hatte ein unglaublich freundliches, warmes Lächeln. Noch während ich das Foto betrachtete, fing auch ich an zu lächeln. Versonnen blickte ich aus einem der Fenster und dann wieder auf das Foto. Wem gehört es? Wer ist diese Frau? Ich würde sie gerne kennenlernen. Aber wie? Diese Fragen schossen mir durch den Kopf. Ich ging eilig wieder in den Hauptraum und sprach die Frau ein weiteres Mal an.
»Entschuldigen Sie noch mal, dieses Foto war noch in dem Automaten .«
»Ah, vielen Dank, einer der Fotoautomaten ist ein wenig defekt. Das eine oder andere Foto kommt wird erst zu spät gedruckt, die meisten Leute merken es aber nicht und gehen schon. Anscheinend haben wir hier wieder einen Nachzügler«, antwortete sie.
»Was soll ich damit machen?«, fragte ich.
Sie überlegte einen Moment. »Geben Sie es einfach mir.«
Plötzlich kam mir eine Idee, und ich war mit einem Mal ganz begeistert von ihr. »Ähm, wissen Sie, ich kenne die abgebildete Frau, wenn ich sie das nächste Mal sehe, gebe ich es ihr einfach .« Im Lügen war ich noch nie gut gewesen.
»Ach so, bon, dann ist das ja gar kein Problem«, sagte sie freundlich lächelnd.
»Auf Wiedersehen«, sagte ich flüchtig und hatte das Geschäft schon fast wieder verlassen, als sie »Salut!« antwortete. Draußen im Regen stehend, betrachtete ich das Foto. Das Lächeln dieser Frau hatte mich irgendwie verzaubert, und ich wollte sie kennenlernen. Unbedingt. Vielleicht klang es bescheuert, vermutlich tat es das, aber ich hatte das Gefühl, ich müsste sie kennenlernen. So als wäre es Schicksal - oder Zufall? -, dass ich dieses Foto gefunden hatte. Es war merkwürdig, aber ich hatte bis jetzt noch nie so sehr jemanden kennenlernen wollen. Die Fotos aus London hatte ich schon wieder vergessen.
Ich streifte noch ein wenig durch die Straßen, fühlte mich irgendwie glücklich und aufgeregt, so als stünde ich vor einem großen Abenteuer. Auch die Menschen um mich herum kamen mir irgendwie verändert vor. Mit einem merkwürdigen Grinsen lief ich durch die Straßen und schaute immer wieder das Foto an. Manche Leute lächelten auch zurück, eine ältere Dame, die einen hellblauen Schirm mit weißen Tupfen trug, sprach mich sogar an.
»Sie sehen glücklich aus, Monsieur. Das ist schön!« Ein wenig wehmütig schaute sie einem vorbeifahrenden Auto hinterher. »Vor mehr als dreißig Jahren hat mich mein Mann verlassen. Seitdem war ich in keiner festen Beziehung mehr. Je älter man wird, umso mehr spürt man die Einsamkeit. Aber ich habe sehr nette Nachbarn, und seit dieses junge Mädchen ein Stockwerk über mir eingezogen ist, bin ich nicht mehr so allein. Sie kommt fast jeden Tag zu mir, und dann unterhalten wir uns.«
»Das mit ihrem Mann tut mir leid, aber es ist schön, dass sie sich nicht mehr so einsam fühlen«, antwortete ich und war wieder einmal beeindruckt, wie schnell man so viel über jemanden erfahren konnte, dessen Namen man nicht mal kannte.
»Ich heiße Juliette Moreau. Vielleicht können wir ja mal zusammen einen Kaffee trinken gehen. Oder Kakao, wenn sie den lieber mögen.« Sie streckte mir die Hand hin, und ich musste lächeln.
»Ich bin Henri Dupont. Ja, wir können gerne mal einen Kaffee trinken gehen«, antwortete ich und schüttelte ihr die Hand. »Ich gebe Ihnen einfach meine Adresse und meine Telefonnummer. Sie können mich anrufen, wenn es Ihnen passt, dann treffen wir uns.« Wenige Minuten später hatte ich eine Adresse mehr in meinem Adressbuch stehen.
Nachdem ich mich verabschiedet hatte, bog ich wieder auf die Place Clemenceau ein. Ein eisiger Wind fegte über Paris, und ich zog den Schal enger um meinen Hals. Und dann, ganz plötzlich, fegte mir ein Windstoß das Foto aus der Hand. Ich rannte los und hätte dabei fast einen Mann mittleren Alters umgerannt. Er rief mir irgendetwas hinterher, aber ich war zu sehr mit Rennen und Ausschauhalten beschäftigt, um etwas zu verstehen. Ich darf dieses Foto nicht verlieren. Bitte lass es mich wiederbekommen . Die Place Clemenceau war ein sehr schlechter Ort, um einem kleinen Foto hinterherzurennen, da sie von fahrenden Autos umgeben war. Sollte das Foto auf der Straße landen, hatte ich ein echtes Problem. Plötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Eine Frau rief entsetzt »Théo!«, während ich das Foto wieder ins Blickfeld bekam. Es war auf dem besten Weg, auf die Straße gefegt zu werden. Ich rannte los, doch dann wurde ich abgelenkt: Ein kleiner Junge, der ein blaues, mit Ankern bedrucktes Halstuch trug, stolperte direkt auf die Straße zu, und ich änderte schlagartig meine Richtung. Ich bekam ihn gerade noch zu fassen, glücklicherweise hatte ich, eigentlich auf dem Weg, das Foto aufzuhalten, relativ nahe bei ihm gestanden. Nun sah er mich verständnislos an.
Wenige Sekunden später stand eine Frau in hellgrauem Mantel neben uns. »Théo, was hast du dir dabei gedacht?! Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du bei mir bleiben sollst?« Sie nahm ihn an die Hand und schaute mich dankbar an. »Vielen Dank! Ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn Sie nicht in der Nähe gewesen wären. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll .«
»Das war doch selbstverständlich. Jeder hätte dasselbe getan, ich stand ja nur in der Nähe. Zum Glück ist ihm nichts passiert!«, antwortete ich und schaute den kleinen Jungen an, der inzwischen an seinem Halstuch herumzupfte. Die Frau verabschiedete sich, nochmals dankend, den Kleinen fest an der Hand haltend. Zufall oder Schicksal?, fragte ich mich ein weiteres Mal, war aber sehr erleichtert, dass ich den kleinen Jungen vor einem Unfall hatte bewahren können. Aber wo war das Foto?
Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter. »Excusez-moi, Monsieur, gehört das Ihnen?«, sagte ein Mann. Seine freundlichen, hellbraunen Augen sahen mich fragend an. In der Hand hielt er das Foto.
Dankbar blickte ich ihn an. »Ja, dankeschön! Ich habe es verloren, wegen diesem Wind, und hatte schon Angst, ich würde es nicht mehr wiederfinden.« Er überreichte mir das Foto, und im Endeffekt wurde mir klar, dass die Sache doch ganz gut ausgegangen war. Ich hatte das Foto, und ein kleiner Junge lief nun wieder wohlbehalten an der Hand seiner Mutter. Ja, dieser Tag war definitiv aufregender, als ich erwartet hatte.
Die Bestätigung, dass die Idee, diese Frau suchen und kennenlernen zu wollen, bescheuert war, gab mir Jean wenige Stunden später, als wir im Deux Magots saßen. Er erklärte mir: »Du kennst diese Frau nicht, du hast lediglich ein Foto von ihr. Keinen Namen, keine Telefonnummer, nichts, keinen einzigen Anhaltspunkt. Wie willst du sie finden? Vielleicht ist sie gar nicht aus Paris, oder vielleicht ist sie bereits glücklich vergeben. Du weißt nicht, ob es sich überhaupt lohnt, nach ihr zu suchen, vielleicht kommst du mit ihren Charaktereigenschaften gar nicht klar. Außerdem musst du mir noch mal erklären, warum genau du sie kennenlernen willst. Das ist nur ein Foto!«
Der Realist in ihm war mal wieder deutlich geworden. Ich schaute...