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Ilija Trojanow
Wenn ein Esel auf Reisen geht, wird er nicht als Pferd nach Hause kommen.
Französisches Sprichwort
Le Monastier, Pradelles, Langogne, Notre-Dame-des-Neiges, Montagne du Goulet, Pic de Finiels, Le Pont-de-Montvert, Florac, Gorges du Tarn, Saint-Jean-du-Gard, die Namen klingen magisch, eine Karte voller klingender Verheißungen - Städtchen, Berge, Täler, Flüsse - und ein Versprechen von Wildnis und Einsamkeit. Ein näherer Blick offenbart: Die Strecke ist weit, zweihundertzwanzig Kilometer lang, durch entlegene Gebiete vierer Départements - Haute-Loire, Lozère, Ardèche und Gard -, über zwei Gipfel, den Goulet und den Pic de Finiels. Wenn man bedenkt, dass der Reisende gerade einmal zwölf Tage für seine Wanderung benötigte, verwandelt sich die Verheißung in Pein. Der junge Mann bricht am Sonntag, dem 22. September 1878 in Le Monastier auf; er erreicht am Nachmittag des 3. Oktober Saint-Jean-du-Gard. Unterwegs verbringt er drei Nächte unter dem Sternenhimmel, sieben Nächte in Landgasthöfen und übernachtet einmal im Trappistenkloster Notre-Dame-des-Neiges. Er verfasst ein Tagebuch, fertigt ein Dutzend Bleistiftskizzen an und gibt unterwegs fünfundachtzig Francs aus. Und er lernt eine Eselin kennen.
Zu jener Zeit waren vergnügliche Wanderungen - auch wenn einige der romantischen Dichter gut zu Fuß waren, siehe Wordsworth oder Hölderlin - sowie das Zelten unter freiem Himmel alles andere als üblich. Die Wildnis lockte nicht als Spielstätte eigener Grenzerfahrung, sondern bedrohte als unwägbare Gefahr die fragile Existenz des Menschen. Sich ihr ohne Grund und Not auszusetzen, stieß auf wenig Verständnis, erst recht bei den französischen Bauern, denen unser Reisender begegnet. Die Natur wird heutzutage in unseren Breiten - aus der Distanz einer gesicherten Zivilisation - als malerisch wahrgenommen, als ästhetischer Genuss, für den man einige Mühsal auf sich nehmen muss. Das gegenwärtige Abenteuer - wie mittlerweile fast jede Reise jenseits des touristischen Katalogs bezeichnet wird - wird motiviert von der Sehnsucht nach dem Entschwundenen. Uns droht die Wildnis auszugehen, wenn wir als Zivilisation weiterhin in alle Richtungen wachsen. Als ich vor mehr als zwanzig Jahren zu Fuß durch Tansania ging, auf den Spuren des frühen Forschungsreisenden Richard Francis Burton, dessen Schriften Stevenson mit Sicherheit kannte, bestand die Faszination in der Erfahrung, ausgesetzt zu sein ohne das Geländer der Moderne. Eine Schnellstraße durchzieht den Nationalpark, Gleise queren das Naturreservat, darüber hinaus aber waren wir gänzlich auf uns gestellt, wenn auch ausgestattet mit Astronautennahrung und allem, was die Wander- und Zeltbranche an leichtem und robustem Zubehör zum Verkauf anbot.
Stevenson hingegen musste seine Ausrüstung, die er genüsslich beschreibt, selbst konzipieren, bis hin zur Erfindung eines neues Zelttypus. Sein Bericht ist aufgespannt zwischen einer romantischen Haltung zur Natur und unserer modernen Entfremdung, eine positive Irritation, die durch die Süffisanz und Ironie des Stils verstärkt wird. Ambivalenzen durchziehen diesen Text wie Goldadern: Die Neugier des Reisenden stolpert gelegentlich über eine britische Hochnäsigkeit, die auch dem bekennenden Schotten Stevenson nicht fremd ist. Die Wut auf seine Eselin wird gelegentlich von Zuneigung aufgefangen, die schließlich im rührenden Abschiedsschmerz endet. Die Konstitution des Reisenden, der in seiner Schilderung als kerniger Naturbursche erscheint, war in Wirklichkeit ein Leben lang schwach, er kränkelte oft und war häufig bettlägerig. Dieser Bildungsbürger inszeniert sich als mutiger Draufgänger, der bewusst sein Leben als Abenteuer konzipiert: »Odysseus, der auf Ithaka zurückgelassen und dessen Geist von einer Göttin vernebelt wurde, hätte sich nicht wohliger verirrt fühlen können. Zeitlebens bin ich auf der Suche nach einem Abenteuer, einem reinen, leidenschaftslosen Abenteuer gewesen, wie es den frühen, heldenhaften Reisenden widerfahren ist. Und so fand ich mich am Morgen in einer zufälligen Waldecke in Gévaudan wieder - ohne zu wissen, wo Nord oder Süd war, so fremd in meiner Umgebung wie der erste Mensch auf der Erde, ein Schiffbrüchiger im Landesinneren - und ein Bruchteil meiner Tagträume hatte sich verwirklicht.« Dies ist allerdings weniger paradox, als es auf den ersten Anhieb scheint, denn bei jeder Reise, die diesen Namen verdient, geht es eher um die Erfahrung der Desorientierung als um die Bewältigung der Entfernung. Entscheidend ist, sich zu verlieren und sich wiederzufinden, sich den Überraschungen und Geheimnissen der Fremde auszusetzen.
Eines Abends vertraut Stevenson seinem Tagebuch an: »Ich für meinen Teil reise nicht, um an einen Ort zu gelangen, sondern um unterwegs zu sein. Ich reise um des Reisens willen. Es geht darum, in Bewegung zu sein, die Anforderungen und Schwierigkeiten des Lebens intensiver zu spüren, von dieser mit Federn gefüllten Zivilisationsmatratze zu steigen und festzustellen, dass der Globus unter den Füßen granithart und mit scharfen Steinen übersät ist.« Die Cevennen haben ihn diesbezüglich bestimmt nicht enttäuscht. Die Reise ist geprägt von körperlichen Strapazen und schweißtreibenden Herausforderungen, die sein Bewusstsein erweitern, so als wäre er auf Pilgerschaft.
Kein Wunder, dass sein kurzes Verweilen bei den Trappisten eines der bemerkenswertesten Kapitel des Buches bildet. Auch wenn manches Stevenson befremdet oder gar abstößt, fühlt er sich als skeptischer Reisender vom Klosterleben angezogen. Der radikale Lebensentwurf spricht den Künstler in ihm an. Die Askese, das Schweigen, die Disziplin, das geistige Streben, die entschiedene Klarheit des Ziels, die Abwesenheit jeglicher Ablenkung und die lebenslange Selbstverpflichtung erscheinen ihm als nachahmenswerte Ideale in seinem Selbstverständnis als Schriftsteller. Das Leben als Mönch bietet eine andere Form der Reise.
Bei unserem Reisenden Robert Louis Stevenson handelt es sich um einen der großen Erzähler des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der im September 1878 siebenundzwanzig Jahre alt war, gut Französisch sprach und bereits mehrere Sommer im Ausland verbracht hatte, unter anderem in der Nähe von Fontainebleau sowie auf den Kanälen in Holland, wo er mit einem Freund im Kanu herumpaddelte. Aus dieser Erfahrung war sein wenig beachtetes erstes Buch entstanden (An Inland Voyage).
Wieso es ihn nach Le Monastier verschlug, eine abgelegene Kleinstadt in den Cevennen, ist nicht bekannt, gewiss ist nur, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits den Entschluss gefasst hatte, Schriftsteller zu werden, obwohl er, abgesehen von einigen Essays in Zeitschriften, wenig vorzuweisen hatte, viel zu wenig, um von seiner einflussreichen und wohlhabenden Familie in Edinburgh unabhängig zu sein. Stevenson wuchs in einer streng calvinistischen Atmosphäre auf, und sein Vater erwartete, dass er die Ingenieurslaufbahn einschlug. Doch stattdessen flanierte der störrische Sohn als literarischer Bohemien mit breitkrempigem Hut und Samtjacke durch London und entschwand nach Frankreich, wann immer sich die Gelegenheit bot. Ein Mann an einer entscheidenden Kreuzung seines Lebens.
Stevenson zog es aus einem weiteren Grund in die Berge - er floh vor seinen Gefühlen und der eigenen Courage. Kurz zuvor hatte er sich in einer Künstlerkolonie in der Nähe von Paris in eine verheiratete Amerikanerin verliebt. Eines Juliabends 1876 saßen die Mitglieder einer Phalanstère (einer Art Kommune nach Vorbild des französischen utopischen Sozialisten Charles Fourier) um einen langen Holztisch zusammen, Krüge mit Wein machten die Runde, das gesellige Gelächter entflog durch die offenen Fenster des Speisesaals in die warme Nacht, als das Klacken von Stiefeln zu vernehmen war und eine staubige Gestalt mit Schlapphut und Rucksack auftauchte. »Mr Louis Stevenson«, wie sein anwesender Cousin ihn vorstellte. Was zu jenem Zeitpunkt niemand wusste: Unser Held hatte minutenlang draußen ausgeharrt, gebannt von dem Anblick eines bestimmten Gesichtes am Tisch, das Fanny Osbournes. Als der Sommer verflogen war, zog sie mit ihren Kindern nach Paris und Stevenson mietete ein Zimmer in ihrer Nähe. Es dauerte eine Weile, aber nach zwei Jahren wurde die Sache zwischen den beiden allmählich ernst. Erst wenige Monate zuvor hatte Fanny plötzlich verkündet, dass sie nach Kalifornien zurückkehren werde. Als Stevenson seine Eselin bepackte, litt er unter den Qualen einer Trennung über den Ozean hinweg, das Schicksal seiner Liebesbeziehung stand in den Sternen.
Seine Verfasstheit ist aus seinem ausführlichen Tagebuch, das später separat als Cévennes Journal veröffentlicht wurde, deutlicher herauszulesen. Die Unterschiede zwischen dem Tagebuch und dem veröffentlichten Reisebericht sind erheblich, denn im Nachhinein hat Stevenson alle persönlichen Passagen getilgt. Es war nicht seine Absicht, sein endgültiges Entree als Schriftsteller mit einer gefühlsbetonten Autobiografie zu gestalten. Stattdessen kleidet er sich geschickt in ein Gewand, dessen Stoff aus romantischen Fetzen besteht, die Naht hingegen aus selbstironischer Distanz. Zum Beispiel in dieser bezeichnenden Reflexion bei...
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