Schweitzer Fachinformationen
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Sophie ruderte langsamer und glitt mit dem Skiff auf das Schilf zu. Die Sonne war vor etwa einer Stunde aufgegangen, durch die über dem See liegenden Nebelschwaden drang das Tageslicht jedoch nur schwerfällig hindurch. Der Wald, der den Werbellinsee umgab, war gerade noch schwach zu erkennen. Nur das Eintauchen der Ruder und die Rufe der Wasservögel waren zu hören. Die Wasseroberfläche kräuselte sich im kühlen Herbstwind. Zumindest hatte es aufgehört zu regnen.
Sie stoppte, balancierte das schmale Ruderboot aus, zog sich die Kapuze ihrer Regenjacke vom klammen Haar und durchstreifte mit ihrem Blick das dichte Schilf.
Bisher hatte sie in ihrem Leben drei Wasserleichen gesehen. Allerdings war keiner der Toten ertrunken. Sie alle wurden gewaltsam getötet und post mortem im Wasser abgelegt. Den Tätern hatte das nicht viel genützt. Sophie hatte die Morde aufdecken können.
Im Schilf ließ sich eine Leiche gut verstecken. Vor allem, wenn es sich dabei um eine zierliche Jugendliche handelte und herabfallendes Laub, das sich zwischen dem hohen Sumpfgras verfing, die Sicht zusätzlich einschränkte.
Sie seufzte. Was tat sie hier eigentlich? War sie jetzt schon so weit, dass sie einen Leichenfundort vermutete, sobald ein verdeckt liegender Schauplatz sich dafür eignete?
Einen kurzen Moment lang schloss sie die Augen und sog die feuchte Luft in ihre Lunge. Es war an der Zeit, den alten Fall loszulassen und nach vorn zu schauen. Ihre letzte Amtshandlung war es gewesen, ihrer Nachfolgerin, Kriminalhauptkommissarin Tina Spicker, anzuraten, mit dem Vermisstenfall an die Öffentlichkeit zu gehen. Es gab bisher keine Spur, der sie hätten nachgehen können, und je mehr Zeit verstrich, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass sie Melissa Hubert nur noch tot oder gar nicht finden würden. Auch wenn es ihr schwergefallen war, den Fall abzugeben, freute sie sich auf ihre neue berufliche Herausforderung. Ab morgen arbeitete sie für Europol, hatte den alten Kollegen allerdings angeboten, dass sie sie bei Fragen kontaktieren konnten.
Mit kraftvollen Ruderbewegungen brachte sie das Skiff wieder in Fahrt, fühlte, wie ihre Muskeln arbeiteten. Die Saison ging nun im Herbst zu Ende und sie würde die Wochen bis zum Frühling zählen. Wenn sie im See schwamm oder ruderte, war sie mit sich alleine und konnte ihren Stresspegel herunterfahren. Im Schwimmbad zog sie neben anderen ihre Bahnen und musste stets aufpassen, nicht mit ihnen ins Gehege zu kommen. Dabei gelang es ihr kaum, abzuschalten.
Sie überprüfte regelmäßig mit einem Schulterblick, ob das Fahrwasser frei war. Der Campingplatz und der Steg waren schon nah. Paul Gruner stand am Anleger, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah ihr entgegen.
»Frau Steinbach, was soll ich bloß mit Ihnen machen? Bei solchen Witterungsbedingungen können Sie doch nicht allein auf den See rausfahren.«
Sophie fuhr im schrägen Winkel zum Steg. »Guten Morgen, Herr Gruner, so früh schon auf? Ich dachte, ich bin der einzige frühe Vogel.« Sie hielt beide Ruder mit einer Hand fest, stützte sich mit der anderen auf den Holzplanken ab und stieg aus.
»Sie kennen mich doch«, erwiderte der alte Zeltplatzwart. »Die Campingsaison ist auch vorbei, aber das hier ist einfach mein Revier. Kann ich Ihnen helfen?«
»Das passt schon. Selbst ist die Frau.« Sie zwinkerte ihm zu, löste die Ruder aus den Lagern und legte sie ans Ufer.
Paul Gruner schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Bis zur letzten Minute auskosten, was? Ich kann es ja verstehen.« Er sah zum Zeltplatz hinüber, auf dem mit Vorzelten ausgestattete Wohnwagen von Hecken umschlossen waren. »Es ist jetzt schon ruhiger geworden. Ich freu mich auf den Frühling, da ist hier wieder das Lachen von Kindern zu hören, und die Eltern betrachten den Sonnenuntergang. Dann kehrt wieder Leben ein.«
Er half ihr schließlich doch dabei, das Skiff aus dem Wasser zu heben und zum Bootshaus zu tragen. Dort legten sie das Boot auf zwei Böcken ab.
»Ich mache es später sauber«, versprach Sophie. »Wenn der Nebel sich verzieht, fahre ich wahrscheinlich noch mal raus.«
»Sie machen sowieso, was Sie wollen. Und das ist auch gut so.« Er strich sich mit der Hand über den ausladenden Bauch. »Das betont Ihr Mann auch immer. Wann kommt er eigentlich mal wieder mit vorbei?«
»Jan hat es nicht so mit dem Campen«, sagte sie, nickte Paul Gruner zu und ging in Richtung der Wohnwagen.
»Richten Sie ihm und der Kleinen bitte viele Grüße aus«, rief er ihr nach.
Ohne sich noch mal umzudrehen, hob sie die Hand.
Der Kleinen . Er hatte Laura hier über die Jahre aufwachsen sehen. Früher hatte sie beinahe jedes freie Wochenende mit ihrer Tochter am Werbellinsee verbracht. Obwohl sie gerade einmal fünf Jahre alt war, als Oma Frieda starb, besaß Laura viele Erinnerungen an diese Zeit.
Sophie blieb im Durchgang der hüfthohen Hecke stehen und betrachtete das Vorzelt, dessen Stoff irgendwann einmal grün gewesen war. Die Sonne hatte die Plane längst zu einem schmutzigen Beige ausgeblichen. Doch sie brachte es nicht übers Herz, diesen Platz zu verändern, ebenso wie den Wohnwagen selbst. Oma Frieda hatte ihr den Dauercampingplatz vor fast 20 Jahren hinterlassen und noch immer fühlte sie sich ihr hier nah. Da Laura nach ihrem erfolgreichen Uniabschluss gerade aus Berlin weggezogen war, wünschte Sophie sich umso mehr, die Zeit zurückdrehen zu können.
Ihr Smartphone vibrierte in der Jackentasche. Sie zog die Zip-Tüte heraus, nahm es zur Hand und sah auf das Display. Es war Jan.
»Guten Morgen«, sagte sie und zog den Reißverschluss des Vorzeltes hoch.
»Guten Morgen. Ich hab das Frühstück fertig. Wann kommst du?«
Sophie presste die Lippen aufeinander, öffnete die Wohnwagentür und trat ein. »Du, ich will den letzten Tag noch zum Rudern nutzen. Gefrühstückt hab ich schon.« Sie stellte auf Lautsprecher, legte das Smartphone auf den Tisch, zog ihre Regenjacke aus und hängte sie über den Haken an der Tür.
»Als Laura noch bei uns wohnte, war dir das gemeinsame Frühstück heilig«, erwiderte Jan nach einer kurzen Pause.
Sie wusste nicht, was sie ihm darauf erwidern sollte.
»Es ist auch für mich eine Umstellung, Sophie. Ich hab langsam das Gefühl, du bist mit unserer Tochter ausgezogen. Rede mit mir, verdammt noch mal.«
Seiner Stimme war die Ratlosigkeit anzuhören. Aber gerade konnte sie nicht aus ihrer Haut. Zu Hause vermisste sie ihre Tochter noch mehr und Jan nahm sie vollkommen in Beschlag, da Laura ihm ebenfalls fehlte. Nach 24 Jahren plötzlich wieder in Zweisamkeit zu leben überforderte sie, was vermutlich vor allem daran lag, dass Jan zu Hause als selbstständiger Steuerberater arbeitete und immer da war. Sie brauchte ihren Freiraum, Zeit für sich. Und eine neue Herausforderung, der sie jetzt bei Europol entgegenfieberte.
»Zum Abendessen bin ich da, okay?«
Er atmete tief durch. »Soll ich uns was kochen?«
»Was hältst du davon, wenn wir das gemeinsam machen?«, schlug sie ihm als Wiedergutmachung vor und schenkte sich aus der Thermoskanne Kaffee in die Tasse.
»Klingt gut«, antwortete er.
Am Tonfall hörte sie, dass er lächelte.
»Dann bis später.«
»Bis später.«
Sophie tippte auf das Display, quetschte sich in die Sitzecke und schaltete den kleinen Fernseher über ihr im Regal ein. Es liefen Nachrichten, in denen gerade die immer weiter ansteigenden Mietpreise thematisiert wurden. Ihr Blick fiel auf die zwei gerahmten Fotos, die im Nebenfach standen. Auf dem linken Bild lächelte ihr Oma Frieda entgegen, das Gesicht überzogen von Falten, die weißen Haare am Hinterkopf zu einem ordentlichen Dutt gebunden. Daneben ein Familienfoto von Jan, Laura und ihr. Laura hatte ihre hellbraune Haarfarbe geerbt, ebenso wie die Wangengrübchen, die nur sichtbar wurden, wenn sie lächelten. Als das Foto an einem Sommerabend während einer Grillparty mit den Nachbarn aufgenommen wurde, war Laura 17 Jahre alt gewesen - wie die vermisste Melissa Hubert.
Sophie trank einen Schluck und zog ihren Notizblock, der vor ihr auf dem Tisch lag, zu sich heran. Die Akte hatte sie bereits abgegeben und Tina Spicker alle Erkenntnisse geliefert, die sie bis dahin zusammengetragen hatte. Dennoch blätterte sie durch ihre Aufzeichnungen. Vielleicht hatten sie irgendetwas übersehen?
»Die Polizei Berlin sucht weiterhin nach Hinweisen zu dem Verbleib von Melissa Hubert«, leitete der Nachrichtensprecher das neue Thema ein und brachte Sophie dazu aufzuschauen. »Am Montag, vor sechs Tagen, wurde die aus Friedrichshain stammende Siebzehnjährige zuletzt im Heinrich-Hertz-Gymnasium gesehen, wo sie sich nach dem Unterricht gegen 14:45 Uhr von zwei Freundinnen verabschiedete und diese sie entlang der Rigaer Straße fortgehen sahen. Um 14:51 Uhr telefonierte sie noch mit ihrem Freund und die Suche der Polizei verlief bisher erfolglos.«
Ein Foto von Melissa wurde eingeblendet, das Sophie noch persönlich mit deren Eltern ausgesucht hatte. Heutzutage war es schwierig, Bilder eines Teenagers zu finden, die durch Filter nicht zu stark bearbeitet waren und das reale Aussehen widerspiegelten.
»Melissa Hubert ist 1,66 Meter groß, sehr schlank und hat braunes, hüftlanges Haar mit einer neongrünen Strähne. Zuletzt trug sie einen grauen Pullover, hellblaue Jeans, schwarze Stiefeletten und einen cremefarbenen Mantel.«
Das Foto verschwamm unter Sophies starrem Blick. Sie wollte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie die Eltern sich jetzt fühlten. Und vor allem musste sie den...
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