Josies Welt
Deutschland, einige Wochen zuvor
»Entschuldigen Sie, wo finde ich hier Sex?«
Josie löste ihren Blick von dem Bücherstapel auf dem Boden, neben dem sie kniete, strich sich ihre mittellangen, mittelbraunen Haare aus dem Gesicht und schaute nach oben. Vor ihr stand eine junge Frau in zerlöcherten Jeans und bauchfreiem T-Shirt. Darunter kam ein großflächiges, buntes Tattoo zum Vorschein.
»Wie bitte?«
»Erwachsenenliteratur. Sex und Crime.«
»Krimis dort hinten an der Wand und Thriller gleich daneben. Die Bücher sind alphabetisch nach Autoren geordnet.«
»Ja, und wo ist bei euch die Erotik? Heiße Sexspiele und so ´n Zeug?«
Josie wurde rot. Jetzt erst wurde ihr klar, was die Besucherin tatsächlich suchte. Früher hatte die Buchhandlung die einschlägige Literatur unter >Geschlechterstudien? in einem Viertel Regalmeter zwischen Psychologie und Ratgebern für Paarbeziehungen versteckt. Heutzutage hingegen wurden ganze Büchertische aufgebaut, die sich unter Shades of Grey, Crossfire und Ähnlichem bogen.
»Folgen Sie mir bitte.« Sie stand auf, wobei sowohl ihre Knie als auch ihr Rücken sich schmerzhaft bemerkbar machten. Zu lange in einer gebückten Haltung auf dem Boden gekniet, dachte sie, obwohl sie zum Ausgleich viel Sport machte. Oder sie wurde langsam alt, obwohl sie mit sechsundzwanzig die Jüngste im Team war. Vielleicht hatte die Kundin sie deshalb angesprochen - ihre älteren Kolleginnen hätten sich mit solchen Bitten noch schwerer getan als sie.
Die »Schmuddelecke«, wie sie sie heimlich nannten, war auf Anweisung der Zentrale prominent neben der Jugendliteratur platziert.
»Hier, bitte schön. Diese beiden Tische und das Regal dort sind alles erotische Literatur. Wenn sie etwas Spezielles suchen, kann ich sie gerne beraten.« Hoffte sie zumindest.
»Gay Romance.«
Josie schluckte. Sie hielt sich für einigermaßen aufgeklärt, und als ausgebildete Buchhändlerin empfand sie es als Selbstverständlichkeit, die aktuellen Bestseller alle gelesen zu haben, um ihre Kunden beraten zu können. Aber mit Gay Romance kannte sie sich nun wirklich nicht aus.
»Suchen Sie etwas Bestimmtes? Wir können Ihnen das Buch gerne bestellen, falls wir es nicht vorrätig haben.«
Die junge Frau nannte ihr Autorennamen und Titel. Im Regal stand das Buch nicht. Auch der Computer zeigte keinen Treffer an.
»Es tut mir sehr leid, aber ich kann es bei uns im System nicht finden. Wissen Sie zufälligerweise den Verlag, oder haben Sie eine ISBN?«
»Nee, aber ich hab´s bei Amazon gesehen.«
Josie schwante etwas. Sie rief die Amazon-Website auf, und tatsächlich, gleich der erste Klick war ein Treffer. Nur leider nicht für sie.
»Ich fürchte, der Verlag ist CreateSpace. Ein Selfpublisher-Verlag. Das ist Amazon-exklusiv. Dieses Buch können wir als Buchhandlung leider nicht bestellen.«
»Was ist das hier denn für ´n Saftladen?«, beschwerte sich die Frau. »Ich dachte, Buchhandlungen verkaufen Bücher?«
»Es tut mir wirklich sehr leid.« Josie senkte den Blick. Viele Kunden wollten einfach nicht begreifen, dass Amazon sich den Vertrieb nicht aus der Hand nehmen lassen wollte. Die Marktmacht, die der amerikanische Onlinehändler bei E-Books hatte, hatte schon so manche Buchhandlung in den Ruin getrieben, und nun ging es anscheinend bei gedruckten Büchern weiter. »Ich kann Ihnen leider nur Bücher bestellen, die in unserem Verzeichnis lieferbarer Bücher gelistet sind.«
»Buchhandlungen sind echt das Letzte!« Mit diesen Worten drehte die Frau sich um und verließ lautstark schimpfend den Laden. »Ey, mich seht ihr hier nicht wieder, ich schwöre!«
Josie ließ den Kopf hängen. Sie liebte Bücher, seit sie denken konnte. Die gesamte Schulzeit über, während ihre Klassenkameradinnen mit Freundinnen kicherten, die Tanzschule besuchten oder von Jungen und Popstars schwärmten, hatte sie zu Hause in ihrem Zimmer gelegen und gelesen. Damals war sie wahrscheinlich die beste Kundin der Leihbücherei in der nahegelegenen Kleinstadt gewesen. Selbst heute war sie es möglicherweise noch, obwohl sie als Buchhändlerin auch häufig Leseexemplare bekam. Einen E-Book-Reader besaß sie immer noch nicht. Für sie mussten Bücher gedruckt sein, sie musste sie in der Hand halten, darin blättern und daran riechen können.
Aber immer mehr Kunden sahen das anders. Der Umsatz der kleinen Buchhandlung war in den letzten Jahren stetig zurückgegangen, junge Kundschaft wuchs kaum noch nach. Manchmal kam Josie sich uralt vor, ein Dinosaurier, der sich ins einundzwanzigste Jahrhundert verirrt hatte.
»Die Chefin will uns nachher sprechen.« Clara, ihre Kollegin, kam mit einer Box voller Schreibwaren vorbei. Noch so eine Neuerung, dachte Josie. Der Verkauf von Dingen, die nur am Rande mit Büchern zu tun hatten, war ein Versuch gewesen, zusätzlichen Umsatz zu generieren. Dafür hatte sie nicht Buchhändlerin gelernt, um jetzt bedruckte Tassen oder Notizbücher zu verkaufen.
»Hat sie gesagt, worum es geht?«
»Wohl wieder eine außerordentliche Teambesprechung.«
Von denen gab es in letzter Zeit viele. Genützt hatten sie alle nichts. »Hoffentlich müssen wir uns keine Sorgen machen.«
***
Zwei Stunden später stellte sich heraus, dass dies ein frommer Wunsch gewesen war.
»Die Zentrale schließt unsere Filiale Ende nächsten Monats. Wir rentieren uns für sie nicht mehr. Die Kündigungsschreiben sind gestern in die Post gegangen, ihr solltet sie heute oder morgen bekommen. Alles rechtlich abgesichert, dagegen zu klagen hat keinen Zweck. Es wird einen halben Monatslohn pro Beschäftigungsjahr als Abfindung geben. Geht zur Agentur für Arbeit und meldet euch arbeitssuchend. Neue Bücher werden ab sofort nicht mehr bestellt, Bestellungen auf Kundenwunsch nur noch gegen Vorkasse. Noch Fragen?«
Josie hatte wie betäubt dagesessen. Eine andere Buchhandlung gab es im Umkreis von zwanzig Kilometern nicht, einer der Nachteile, wenn man in einem schwäbischen Dorf wohnte. Außerdem hatten alle Buchhandlungen derzeit mit ähnlichen Problemen zu kämpfen.
Sie war so froh gewesen, als sie die Zusage für ihren Ausbildungsplatz bekommen hatte. Selbst die Bedenken ihrer Eltern, dass sie mit Abitur doch etwas Besseres werden könne als Verkäuferin, hatte sie weggelächelt.
Inzwischen hatten sich die Zeiten geändert, und zwar schneller, als sie es alle gedacht hatten.
Als sie abends in der Wohnung, die sie mit ihrem Freund Michael teilte, ankam, war der Brief schon da. Jetzt hatte sie es schwarz auf weiß: ihre betriebsbedingte Kündigung.
Michael saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher und sah sich eine amerikanische Krimiserie an. Vor ihm auf dem Couchtisch lag der Karton eines Pizza-Lieferdienstes, daneben standen mehrere Bierflaschen.
»Schatz, bringst du mir ein Bier aus dem Kühlschrank mit?«, lautete seine Begrüßung.
Josie ging in die Küche, holte für ihn ein Bier und für sich einen Fruchtquark und setzte sich neben ihn auf die Wohnzimmercouch. Auf dem Bildschirm gab es gerade eine wilde Verfolgungsjagd. Reifen quietschten, Schüsse fielen, eine blonde Frau kreischte.
»Unsere Buchhandlung wird übrigens geschlossen«, sagte Josie. Während der Heimfahrt in ihrem alten Opel Corsa hatte sie sich überlegt, wie sie es Michael am schonendsten beibringen konnte. Nicht, dass sie als Buchhändlerin besonders viel zum gemeinsamen Lebensunterhalt hatte beisteuern können. Michael verdiente als Versicherungskaufmann im Außendienst mehr als doppelt so viel wie sie.
Doch der griff nur nach dem Bier, ohne seine Augen vom Bildschirm zu lösen. »Nicht jetzt, ist grad so spannend!«
Also löffelte Josie ihren Quark und wartete bis zur Werbepause, bevor sie ihren Satz wiederholte.
»Na, dann gehst du eben im Supermarkt arbeiten«, war sein Kommentar. »Oder in dem Modeladen. Die Tankstelle sucht auch gerade Aushilfen. Ist doch egal, ob du Bücher verkaufst oder was anderes.«
Von dem Mann, mit dem sie seit fünf Jahren zusammenlebte, hätte sie sich eine andere Reaktion gewünscht, dachte Josie, als sie in der Badewanne lag, während Michael seine Serie zu Ende schaute. Er wusste doch, wie sehr sie Bücher liebte. Oder etwa nicht?
Sie hatte ihn gegen Ende ihrer Ausbildungszeit kennengelernt. Damals hatte sie noch bei ihren Eltern gewohnt, weil ihr Azubigehalt für keine eigene Wohnung reichte. Michael hatte gerade eine Eigentumswohnung im Nachbarort gekauft. Obwohl Josie alles andere als spontan war, war sie schon nach wenigen Monaten mit ihm zusammengezogen.
Und hatte es nicht bereut, redete sie sich ein, als sie alleine im Bett lag, während er im Arbeitszimmer noch schnell etwas am Computer erledigen musste. Sie griff zu dem Buch, das auf ihrem Nachttisch lag, und tauchte in eine andere Welt ein.
Anderthalb Stunden später war Michael immer noch im Arbeitszimmer. Josie löschte das Leselicht und stellte sich schlafend, bis sie tatsächlich einschlief.
***
Am nächsten Nachmittag nahm sie einen halben Tag Resturlaub und ging zur Agentur für Arbeit. Vor dem hässlichen, grauen Gebäude hätte sie am liebsten wieder kehrtgemacht.
In Romanen wären jetzt freche Freundinnen, tolle Traummänner oder perfekte Projekte aufgetaucht, die die romantische Heldin retten würden, und es gäbe selbstverständlich ein Happy End. Manchmal las sie bei einem Buch tatsächlich das Ende zuerst, um sicherzugehen, dass sich auch wirklich alles...