Schweitzer Fachinformationen
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Thomas Bishop schaltete das Radio neben seinem Bett ab, klopfte das Kopfkissen zurecht und rutschte etwas höher hinauf. Sein Blick wanderte über die anderen Betten in seiner Nähe und musterte die stummen Gestalten, die im Schlaf zusammengekauert unter den Laken und blauen Decken lagen. Dann machte er die Augen zu, um seiner Umgebung für eine Weile zu entfliehen.
»Chessman.« Er wiederholte das Wort und sprach es ein drittes Mal aus. Wieder und immer wieder flüsterte er dieses eine Wort, allmählich immer lauter, bis es beinahe explosiv über seine Lippen kam. Er machte ein Auge auf, sah sich misstrauisch um, machte das Auge wieder zu. Dann öffnete er den Mund. Mit der Zunge befeuchtete er die trockenen Lippen, bevor er sie fest zusammenpresste. Plötzlich riss er beide Hände hoch und drückte sie auf die Ohren. Mit gesenktem Kopf formte er eine Art Litanei aus diesem einen Wort, und während er es nun stumm in rhythmischer Monotonie wiederholte, raste sein Geist merkwürdige verschlungene Abwege hinab.
Bishop hatte blondes Haar. Es war im Lauf der Jahre immer heller geworden. Er war von mittlerer Größe und durchschnittlichem Gewicht. Man konnte ihn gut aussehend nennen. Er hatte ein gewinnendes Lächeln, freundliches Benehmen, eine angenehme Lache, und wenn ihm danach zumute war, dies alles einzusetzen, wirkte er wie ein leicht verwöhnter junger Mann, wie ihn moderne Mütter für ihre Töchter suchten - und Werbefachleute für ihre Produkte. Dass er auch gemein, eiskalt berechnend und bedrohlich sein konnte, das ahnten die Menschen nicht.
Während des jahrelangen Anstaltsaufenthaltes war er zu ständiger Selbstbeobachtung gezwungen gewesen. Durch unablässiges Experimentieren hatte er schließlich herausgefunden, welche Haltungen und Posen er einnehmen, welche Miene und welchen Tonfall er einsetzen musste, um bei den Menschen eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Seine Intelligenz und schnelle Auffassungsgabe kamen ihm bei diesen Experimenten zugute. Schließlich war der Zeitpunkt erreicht, wo er glaubte, alles gelernt zu haben, was er zum Überleben brauchte. Aber er übte ständig weiter und hielt stets wachsam Ausschau nach irgendwelchen neuen Regeln, die er noch nicht verstand und die ihm womöglich Bestrafungen einbringen würden. Alles, was ihm Vorteile brachte, eignete er sich an, was ihm Nachteile einbrachte, ließ er sofort wieder fallen. Er lernte auf diese Weise die Gesten der Freundlichkeit, der Unschuld, der Aufrichtigkeit, wie er sie bei seinen Wärtern und bei anderen Patienten beobachtet hatte, vor allem aber im Fernsehen. Fernsehen war seine große Leidenschaft, ja fast eine Obsession.
Doch jede Sonnenseite hatte auch eine Schattenseite. Er besaß keine Spontaneität, er hatte kein Gespür für Stimmungen. Seine Gefühlsäußerungen waren rein äußerlich. Er konnte lächeln, während er innerlich vor Wut schäumte. Er konnte lachen, obwohl er starke Schmerzen hatte. Er musste ständig vor anderen auf der Flucht sein. Kurzum, er war ein menschlicher Roboter, der auf die Emotionen anderer Leute reagierte wie ein Automat, aber niemals aus seinen eigenen Empfindungen heraus handeln konnte. Die Wahrheit war - er hatte überhaupt keine Gefühle und empfand nichts. Mit Ausnahme von Hass. Sein Hass kannte keine Grenzen, er schloss alles und jeden ein. Am meisten aber hasste er die Anstalt.
Während der ersten vier Jahre hatte Bishop kaum Anzeichen von Intelligenz erkennen lassen. Als Zehnjähriger hatte er sich verhalten wie ein Kleinkind, er hatte nicht gesprochen, nur geschrien und grundlos geweint. Vier Jahre später hatte dann eine subtile Veränderung eingesetzt. Bishop nahm seine Umgebung wahr, wurde empfänglich für Anregungen von außen. Nach einem weiteren Jahr war Bishop genauso normal wie irgendein anderer Fünfzehnjähriger, wenn es darum ging, Befehle auszuführen und für sich selbst zu sorgen.
Ärzte und Therapeuten reagierten begeistert. Der junge Mann hatte die geistige Umnachtung seiner Jugend überwunden, war offensichtlich heilbar, wenn nicht gar schon geheilt. Jetzt widmete man ihm ganz besondere Aufmerksamkeit. Er lernte sehr schnell, sog alles in sich auf, was Orte und Begebenheiten außerhalb der Anstalt betraf. Er bekam Kenntnis von Geschichte, Kultur, Regierung und Gesetz. Es war eine aufregende Zeit, und er war ein guter Schüler. Aber am Ende erwies sich doch alles als nutzlos und diente nur dazu, ihn fast über Gebühr zu frustrieren. Er hatte gelernt, Emotionen zu imitieren, Gefühle zu zeigen, die er nicht empfand. Aber er hatte noch nicht gelernt, wie er verbergen konnte, was in seinem verwirrten Geist wirklich vorging. Dann setzten die Zuckungen ein. Sein Körper wurde von heftiger, unkontrollierbarer Wut geschüttelt. Die Menschen, die so große Hoffnung in ihn gesetzt hatten, gingen auf Abstand zu ihm.
Er wurde aus dem Flügel für geistesgestörte Kinder auf eine Erwachsenenstation verlegt. Man unterzog ihn mehreren Schocktherapien und gab ihm Unmengen von Psychopharmaka. Medikamente stellten ihn ruhig, änderten aber nichts an dem Problem. Zwei Jahre lang wurde sein Körper von diesen Anfällen heimgesucht. Doch dann fand er plötzlich, wie schon zuvor, wieder inneren Halt. Die Wutanfälle ließen nach, die Zuckungen hörten auf. Wieder lächelte er, wenn es von ihm verlangt wurde, wieder lachte er, wenn man es von ihm erwartete. Er war wieder der »gute Junge«, der es allen recht machte. Er war zu diesem Zeitpunkt zwanzig.
In einem Alter, wo junge Leute nach Möglichkeiten suchen, um ihr Innerstes zum Ausdruck zu bringen, suchte Bishop nach Möglichkeiten, wie man dies am besten verbarg. Es fiel ihm schwerer, als Emotionen vorzutäuschen. Er hatte keinerlei Anhaltspunkte dafür, ob er etwas richtig machte oder nicht. Mit Lügen war es nicht getan. Lügen waren leicht durchschaubar, und er verstand sich auch nicht aufs Lügen. Er konnte niemals ganz sicher sein, was die Leute gerade von ihm hören wollten. Irgendeine goldene Regel musste her, eine Formel, die es ihm erlaubte, die richtigen Worte zu wählen. Bis er diese Formel schließlich fand, wäre er beinahe verzweifelt.
Wie die meisten Menschen mit schwerwiegenden psychischen Störungen teilte auch Bishop seine Welt in Extreme ein, und nach ihnen lebte er. Für ihn gab es nur Weiß oder Schwarz, heiß oder kalt, ja oder nein, bleib oder geh - entweder, oder. Doch dann entdeckte Bishop plötzlich, dass die meisten Menschen zwischen diesen Extremen, in einer Art Sowohl-als-auch-Bereich lebten. Extremen Gegensätzen begegneten sie hingegen mit Argwohn und Misstrauen. Diese Erkenntnis traf Bishop so unvermittelt, dass es einer Offenbarung gleichkam. Sein messerscharfer Verstand bekam neue Nahrung.
Er hatte die Formel gefunden. Mäßigung, Ausgleich, die Fähigkeit, die andere Seite zu sehen, Kompromissbereitschaft. Alles war plötzlich klar. Zwölf Jahre lang hatte er sich vergeblich abgemüht, er hatte im Dunkeln getappt und den Ausgang aus dem Labyrinth nicht gefunden. Warum hatte ihm das niemand gesagt? Offenbar wollte man nicht, dass er es wusste. Solange er nicht im Besitz der Formel war, war er in ihrer Gewalt. Aber jetzt hatte er sie! Er würde nicht länger hilflos sein. Er brauchte sich nicht länger von ihnen auslachen oder verspotten zu lassen. Der simple Trick war, man musste sich in der Mitte der Straße halten!
Das würde nicht leicht sein, das war ihm klar. Die anderen wussten immer noch viel mehr als er, sie hatten so viel mehr Erfahrung. Aber er würde in Zukunft aufmerksam zuhören und sehr schnell lernen. Nimm ein Thema, irgendein Thema. Das Essen? Nicht schlecht, aber es war schon mal besser. Football? Recht gewaltsam, aber doch nicht ohne ästhetischen Reiz. Vietnamkrieg? Man darf die Interessen der Bevölkerung nicht aus den Augen verlieren, meinen Sie nicht auch?
Das ist es. Das Spiel mitspielen. Sich nicht zu eindeutigen Aussagen hinreißen lassen. Nicht dogmatisch sein. Und nie, niemals aussprechen, was man gerade denkt. Was einem wirklich im Kopf herumspukt.
Natürlich blieb er davon überzeugt, dass seine eigene Sichtweise die richtige war. Verrückt waren die anderen, die Wärter, die Ärzte, die anderen Patienten. Er lebte inmitten des Wahnsinns, war von ihm umgeben, drohte von ihm verschlungen zu werden. Um von hier fortzukommen, musste er werden wie die anderen. Er musste verrückt werden! Er hatte bereits gelernt, sich wie die anderen zu benehmen und so wie sie zu handeln. Jetzt musste er damit beginnen, auch so zu reden wie sie.
Er wusste, dass das Essen schlecht war, manchmal sogar ungenießbar. Er wusste, dass Fußball widerwärtig war. Er verabscheute jeden körperlichen Kontakt. Und die Menschen in Vietnam waren ihm herzlich egal. Er hörte täglich die Zahlen der Gefallenen, und seinetwegen hätten es gern noch viel mehr sein können. Aber er lebte in einem Tollhaus, und deshalb durfte er die Wahrheit nicht ungeschminkt aussprechen, weil man ihn dafür bestrafen würde.
Es dauerte nur ein halbes Jahr, bis seine neue Strategie Wirkung zeigte. Man unterzog ihn neuen psychologischen Tests, die er alle durchschaute und manipulierte. Er machte ihnen weis, dass er im Grunde nur von durchschnittlicher Intelligenz war, dass er keine großen Erwartungen an die Zukunft knüpfte, sich aber auch keine Illusionen machte, weil er dazu viel zu wenig Fantasie besaß. Man unterzog ihn anschließend einer Reihe von Eignungstests, die alle bewiesen, dass er eine ziemlich phlegmatische Person war, deren Neigungen und Fähigkeiten alle im Bereich des Normalen lagen. Er war jemand, der weder hoch steigen noch tief fallen oder große Risiken eingehen würde.
Danach lag er monatelang im Bett und ließ im Geist noch einmal all die köstlichen Details vorüberziehen, mit denen er alle genarrt hatte, wie er seine Überlegenheit...
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