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- Schweden, 1961 -
Der Blick über den Kalmarsund, auf das blaugraue Wasser, ist heute verhangen, und ich sehe die gegenüberliegende Insel Öland nicht, obwohl sie ganz nah sein muss. Dort hat Lotte ein kleines Ferienhaus, wo sie sonst, wenn Ernst und ich nicht da sind, den Sommer verbringt. Sie erzählt begeistert vom Trollskogen, dem Zauberwald mit knorrigen, seltsam geformten Bäumen, die in der Dämmerung wie Trolle aussähen. Von den endlosen Mooslandschaften und dem Heulen des Meeres. Die Zeit dort nennt sie Ferien. Doch für mich sieht es aus wie eine Flucht, und ich weigere mich, dort hinüberzufahren.
Am Morgen bin ich ohne die anderen über den Deich und zum Wasser hinuntergelaufen, habe Ernst und Lotte gesagt, dass ich zum Mittagessen zurück bin, denn manchmal spricht die Stille mehr zu mir als ihre Stimmen, manchmal will ich allein sein, den Kopf freibekommen. Und die Schönheit der Küste in Kalmar, diese Mischung aus Liebreiz und Schroffheit, erlaubt es mir, an nichts zu denken und nur ordentlich von der salzigen Luft einzuatmen, die so anders ist als die in Berlin.
Vierzig Jahre ist Berlin her, beinahe ein halbes Jahrhundert. Doch ich kann die Zeit abrufen, als äugte ich durch ein Schlüsselloch in eine längst vergangene Epoche: Lotte und ich an der Staffelei, damals, in den ersten Wochen nach unserer zufälligen Begegnung, als ich ihr Modell wurde. Im Winter 1924. Ich sehe es vor mir, wie wir arbeiten, an unseren ersten Porträts, hoch oben im Atelier in der Kunstschule am Steinplatz. Ich höre unsere Stimmen wie auf einem alten Tonband, etwas leiernd, blechern, aber voller Wärme. Ohne diesen Argwohn, der heute in unseren Gesprächen liegt.
«Halt still, sitz endlich still, alter Dussel!» Lotte lacht.
«Von wegen Dussel, mein Fuß ist eingeschlafen. Sitz du mal so hier in der Eiskälte, nackt, stundenlang.»
«Gut, ich hole dir die Wärmflasche. Aber danach weiter im Text.»
«Sklaventreiberin.»
«Na hör mal, es geht hier um Kunst, ist das nichts? Du, Traute, liebes Hundekind, nur noch ein Stündchen, ich verspreche es. Das wird gut, glaub mir. Richtig gut!»
Sie hatte recht, es wurde gut. Und ich hätte noch lange dort auf dem Schemel gesessen für sie. Eine Ewigkeit.
Lotte sagt, ich werde auf meine alten Tage sentimental. «Du bist so schrecklich empfindlich geworden», behauptete sie heute früh, weil ich zurückzuckte und meine Krallen ausfuhr, als sie den alten Kosenamen benutzte, der mir damals freundlich erschien und heute zuwider ist. Hundchen, wirklich, wer will denn so genannt werden? Nach all den Jahren? Doch sie gab vor, es nicht zu verstehen, mit dieser gerunzelten Stirn über scheinbar arglosem Blick.
«Man hat ja Angst, normal mit dir zu sprechen», sagte sie auf meine Zurückweisung hin, «wenn du bei jeder Kleinigkeit gleich zu Staub zerfällst.»
Dieser dumme Streit, ein kurzer Moment nur von Uneinigkeit, und doch ließ er mich mit eingezogenem Kopf in Lottes Haus umherwandern. Noch immer sitzt er mir tief in den Knochen. Hundchen. Der Name, immer wieder dieser alberne Name. Die Sache verfolgt uns also auch hier in Schweden, seit Lotte ihn wieder ausgegraben hat wie ein fast vergessenes Kriegsbeil. Muss sie mich unbedingt wieder so rufen, plötzlich, nach all der Zeit? Dazu in einem Ton, der mir auf einmal so vorkommt, als rufe wirklich eine Herrin ihren Hund zur Räson. Hunderte, Tausende Male habe ich es als junge Frau hingenommen - gleichgültig, gerührt, spöttisch -, doch heute Morgen, nach dem ersten Schreck, erschien mir das Wort wie eine Degradierung, so, als wollte sie mir zeigen, wo mein Platz sei. Als wüsste ich das nicht! Als wüsste ich nicht, dass mein Anteil klein war, dass Lotte die Künstlerin war und ich das Modell. Aber warum muss sie mir das immer wieder beweisen? Warum kann ich nicht, wie es sich eingebürgert hat, Traute sein, von mir aus auch Gertrud, obwohl mich so wirklich keiner mehr nennt. Bin ich kein Mensch, sondern ein Ding?
Es stimmt schon, dass ich empfindlich bin, dass mir ihre Worte nahegehen und nicht an mir abprallen wie die Wellen, die hier unten gegen die Kaimauern schlagen und sich wieder zurückziehen, als sei nichts gewesen. Vielleicht sehe ich die Spuren der Gischt nicht, die das Wasser am Stein hinterlässt, aber ich weiß doch, dass es den Felsen von unten aushöhlt, Millimeter für Millimeter, unbeirrt. Dasselbe haben die Jahre ohne Lotte mit mir gemacht, die Jahre des Krieges, die Zeit, als ich in Tirol verkrochen saß mit Ernst. Wie zwei Hasen im Loch hockten wir da und warteten auf das Ende. Wir hatten keine Zeile von Lotte, wussten nicht einmal, ob sie lebte. Und dann, härter noch, die Monate nach dem Krieg. Das lange Schweigen, bis Ernst endlich im April 1946 an Lotte schrieb und wir alles erfuhren über ihr neues Leben in Schweden.
Wir nahmen unsere Freundschaft wieder auf. Nach einigem Holpern allerdings, denn als sie mich in ihrem ersten Brief an Ernst Gertrud nannte, war es ein Schock, ein richtiger Schlag. Doch dann erwärmten wir uns wieder, knüpften erneut ein Freundschaftsband, als sei das selbstverständlich.
Aber dieser Sommer hier in Kalmar ist verhext, jedes Wort, das wir sagen, schmeckt schal. Mir ist, als hätte ich meinen Geschmackssinn verloren oder mir auf die Zunge gebissen, sodass sie ganz taub ist. Ich habe so meine Ahnung, womit die Veränderung zusammenhängt, aber ganz kann ich sie nicht greifen, kann das Problem nicht recht am Zipfel packen.
Lotte wirkt wie immer, kühl und praktisch, aber ich kenne sie. Ich kenne sie wie sonst kein Mensch auf der Welt, das kann ich trotz allem behaupten. Die feinen Falten um den Mund, das nächtliche Wandern durchs Haus, die eindimensionalen, banalen Bilder, die sie jetzt malt, verraten sie. Auch an Lottes felsigen Kanten hat das Wasser genagt.
Es ist seltsam, sich vorzustellen, dass wir heute alle eine andere Heimat haben als Berlin. Bremerhaven ist ein guter Ort für Ernst und mich. Nicht eigentlich schön, doch Ernst tut die Luft dort wohl. Und für mich ist er so gut wie jeder andere auch, ich habe mit der Zeit verlernt, mein Herz an Dinge zu hängen, an Orte. Das ist etwas für die Jungen, die noch glauben, dass irgendetwas Bestand hat.
Und Kalmar soll nun also Lottes neues Zuhause sein? Ein reizendes Fleckchen, wie gemalt, aber nicht von Lotte. Von Liebermann vielleicht, niemand kann Landschaften malen wie Max Liebermann. Lottes dagegen sind immer zu akkurat, jedenfalls heute. Früher hat sie Aquarelle von märkischen Feldern gemacht: die Sonne, wenn sie auf die knorrigen Stämme der Alleen fiel, geduckte Katen am Waldrand, dass man vor Freude weinen wollte. Heute scheint es, als ahme sie eine Fotografie nach, die Türme von Stockholm gestochen scharf. Oder sie gleitet ins Gegenteil ab, malt Schiffe am Kai, den Strand oder eine schwedische Landstraße so matt und verschwommen, eingehüllt in matschiges Grau, als versuche sie, das Gesehene unsichtbar zu machen. Als traue sie ihrem eigenen Blick nicht mehr.
So oder so ist das Ergebnis leider nicht gut, auch wenn Lotte behauptet, ihr gefalle es, Pastelle zu malen. Aber das ist lachhaft. Ich male gelegentlich Pastelle, was ich Lotte natürlich nicht erzähle. Wozu auch? Es ist beinahe peinlich, denke ich, das gealterte Modell, das von der Kunst nicht lassen kann und nun selbst malen will. In Deutschland tut es mir gut, mit Farben herumzuspielen, zu experimentieren - allein der vertraute Geruch, das Gefühl, wieder an einer Staffelei zu stehen . Hier in Schweden aber, in Lottes Gegenwart, würde ich erstarren, wenn ich versuchte, unter ihrem strengen Blick zu malen. So war es nie zwischen uns. Lotte malte, nicht ich. Ein paar meiner Pastelle sind heute vielleicht nett anzusehen, es ist eine gefällige Technik, eine, mit der man nicht viel falsch machen kann. Gerade richtig für eine Hausfrau, die ihre Tage füllen möchte. Aber doch nichts für eine Lotte Laserstein!
Einige von ihren jetzigen Bildern sind dennoch hübsch, besonders die vom Sund, wenn das Morgenlicht darüber liegt und die Farben sanft ineinanderfließen. Früher wäre Lotte bei dem Wort hübsch zusammengefahren, hätte das Blatt zerknüllt und von vorn begonnen.
Ich besitze Fotografien von den Bildern, die wir damals in Berlin gemacht haben, und in den Knochen fühle ich noch die vielen Stunden, in denen ich Lotte Modell saß. Ich saß, stand, lag - alles. Sie war die langsamste Malerin der Welt und ich das ausdauerndste Modell aller Zeiten. Das war meine Qualität. Das und meine Schönheit, behauptete jedenfalls Lotte immer. Sie schöpfte Kunst aus dem Nichts, sie sah das Bild, bevor es entstand. Eine grandiose Beobachterin, hartnäckig bis aufs Blut, die ihre Augen nicht von mir nahm, während sie malte. Ich dagegen bin keine Künstlerin, meine Pastelle und Fotografien sind nicht der Rede wert, auch wenn Ernst behauptet, sie seien gut. Zugegeben, in einigen Fotos, die ich von Lotte gemacht habe, sehe auch ich diesen Funken, der aus Abbildung Kunst macht. Auf sie bin ich stolz. Doch eigentlich war ich immer nur Modell, war ich Material, und ich meine, mich zu erinnern, dass ich das gern war. Dass es damals mehr als genug war. Doch wer weiß schon, was er vor Jahren einmal gefühlt hat?
Heute werde ich von unserer Geschichte erdrückt, kann Lottes Blick von oben auf mich herab nicht mehr dulden. Aber was habe ich ihr schon entgegenzusetzen? Diese Knipserei, die paar Bildchen, die ich neuerdings selbst male, das ist alles nichts. Wenn ich heute etwas bin,...
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