PROLOG
Theben, 1323 v. Chr.
Semsu verbeugte sich tief vor Maahes, dem Schatzhausvorsteher des Pharaos. Als dieser ihm signalisierte, er solle näher kommen, trat Semsu vor den mit Papyrusrollen überquellenden Arbeitstisch. Maahes war ein Mann von beeindruckender Größe, seine Arme unter der Tunika waren trotz seines Alters muskulös und sein Bart noch immer pechschwarz. Seine mit Khol umrandeten Augen sahen Semsu durchdringend an.
Der oberste Baumeister senkte den Blick und betrachtete das Durcheinander der Schriftstücke auf dem Tisch. Es gab viel zu tun. Vor sechzig Tagen war der junge Pharao Tutanchamun gestorben. Ein Unfall - so sagte man. Semsu hütete sich, etwas anderes zu denken, obwohl jeder wusste, dass der Wesir Eje schon immer nach dem Thron geschielt hatte. Die Ränkespiele im Palast gingen Semsu nichts an.
»Nun, Meister Semsu, wie schreiten die Arbeiten voran?« Maahes' Stimme klang tief und grollend wie die eines Wüstenlöwen. Semsu lief ein Schauer über den nackten Rücken. Der Schatzhausvorsteher war bekannt für seine Wutanfälle.
»A-also, in Anbetracht dessen«, stammelte Semsu, »dass der Tod des Pharaos sehr überraschend kam und wir nur sehr wenig Zeit .«
»Ich will nicht wissen, was mir schon bekannt ist, sondern ob Ihr es schafft, das Grab rechtzeitig herzurichten!«
Semsu räusperte sich. »Die Arbeiten sind beinahe abgeschlossen. Es fehlen nur noch wenige Inschriften.«
Da sich des Pharaos eigene Grabstätte derzeit noch nicht einmal im Bau befand, hatte Wesir Eje seine eigene nahezu vollendete Grabkammer in einer großzügigen Geste für den verstorbenen Herrscher zur Verfügung gestellt. Trotz allem hatte Semsu alle Not gehabt, sie rechtzeitig mit Wandgemälden und neuen Inschriften zu versehen. Ihm blieb nur noch knapp eine Woche bis zum Ende der siebzig Tage dauernden Einbalsamierung des königlichen Leichnams. Wie anschließend die unzähligen Grabbeigaben in die Gruft hineinpassen sollten, einschließlich des klobigen Sarkophags, war nicht mehr Semsus Problem. Er hatte seinen Auftrag erfüllt.
»Gut, gut«, sagte Maahes leise, »Ihr wisst ja, was mit Euch geschieht, wenn es Euch nicht gelingt.«
Semsu nickte. Natürlich wusste er das.
»Und desgleichen ist es wohl unnötig zu erwähnen«, fuhr der Schatzhausvorsteher fort, »dass Ihr und Eure Arbeiter über das nicht ganz standesgemäße Grab absolutes Stillschweigen bewahrt. Wir brauchen ein würdiges Begräbnis und keinen Tratsch in der Bevölkerung!«
Semsu nickte erneut. Es war ihm klar, dass es einem Skandal nahekam, wenn der Gottkönig in einer Gruft bestattet würde, die lediglich für einen Wesir gedacht war. Aber warum musste Maahes es immer wieder betonen? Sämtlichen seiner Arbeiter waren bereits die Zungen herausgeschnitten worden. Sie konnten gar nichts mehr verraten, selbst wenn sie es wollten.
Semsu spürte erneutes Unwohlsein in sich aufsteigen und unterdrückte ein Schaudern. Er hatte zwar keine Angst vor dem Tod. Seine guten Taten überwogen seine schlechten bei Weitem und würden ihn das Totengericht unbeschadet überstehen lassen. Aber was würde mit seiner Familie geschehen? Er hatte fünf Kinder. Würde der Palast für sie sorgen?
»Niemand weiß etwas davon, Herr«, bekräftigte Semsu. »Und so wird es auch bleiben.«
»Bestens. Und Ihr sagtet, es fehlen nur noch ein paar Inschriften?«
»Ja.«
Maahes nickte zufrieden, in seinen schwarzen Augen lag jetzt ein etwas milderer Ausdruck. Er nahm eine der Papyrusrollen auf und reichte sie Semsu. »Hierauf ist der Lohn für Eure Dienste vermerkt. Wenn Ihr das Dokument für mich unterschreiben mögt.«
Semsu las, was auf dem Papyrus stand, und eine große Erleichterung durchströmte ihn. Der Lohn war höher als gedacht, nahezu fürstlich. Damit wäre seine Familie bis zum Lebensende versorgt, egal, was mit ihm geschah. Er griff nach dem Schreibpinsel, tunkte ihn in die Tinte und setzte die Schriftzeichen seines Namens unter die Auflistung der vom königlichen Schatzhaus versprochenen Güter. Als er fertig war, schob er das Schriftstück zurück und blickte Maahes abwartend an.
Der Schatzhausvorsteher beugte sich vor und streute Sand auf die noch feuchte Tinte. Erst danach rollte er den Papyrus zusammen und legte ihn weg. Er zog einen Ring aus seinem Gürtel. Der Stein funkelte blutrot im Licht der Öllampen. Ein Rubin, dachte Semsu ehrfürchtig. Der Stein der Steine!
»Dieser Ring hier«, sagte Maahes, »ist Teil Eures Lohns. Er soll allen zeigen, dass Ihr Euch in allen Maßen verdient gemacht habt. Tragt ihn und Euch wird nie wieder eine Tür verschlossen bleiben.« Er reichte Semsu den Ring, der ihn auf seinen Mittelfinger steckte.
»Habt Dank, Herr!« Semsu verneigte sich.
Daraufhin wedelte Maahes ungeduldig mit der Hand. »Ihr könnt jetzt gehen!«
Semsu verneigte sich ein weiteres Mal und verließ rückwärtsgehend den Raum. Erst als die großen Türflügel von zwei Wachen geschlossen worden waren, drehte er sich um und eilte durch den dunklen Säulengang davon, hinaus aus dem Labyrinth des Palastes, dessen schiere Größe jedes Mal Beklemmungen in ihm auslöste. Schnell ließ Semsu das nur spärlich beleuchtete Bauwerk hinter sich, durchmaß das Haupttor und lief hinunter zum Ufer des Nils, wo er einen Fährmann fand, der ihn über den fahl schimmernden Fluss brachte. Auf der anderen Seite tauchte Semsu in die Gassen von Theben ein. Es war spät, die siebte Nachtstunde war bereits angebrochen. Der Mond stand voll und rund über den flachen Dächern der Stadt. Kaum ein Mensch war auf der Straße, sämtliche Geräusche in den Häusern waren verstummt. Nur ein Rudel streunender Hunde schlich durch die Schatten auf der Suche nach Abfall. Semsu hörte ein Knurren und das leise Scharren von Pfoten auf Sand. Er beschleunigte seine Schritte. Die Streuner konnten einem nächtlichen Spaziergänger gefährlich werden. So mancher war schon von ihnen gebissen und mit der Hundswut infiziert worden. Deshalb trug man nachts besser einen Knüppel mit sich. Semsu hatte jedoch nicht daran gedacht, als er am frühen Abend vom Boten des Schatzhausvorstehers in den Palast gerufen worden war. Jetzt musste er sich an jeder Straßenkreuzung vergewissern, dass ihm dort kein Streuner auflauerte. Doch er hatte Glück, von den Hunden war nichts mehr zu sehen. Wahrscheinlich hatten sie etwas gefunden, das interessanter und schmackhafter war als seine zähen Gliedmaßen.
Semsu atmete geräuschvoll aus und bog um die Ecke, an der die Töpfer ihre Werkstätten hatten. Nicht weit entfernt lag sein bescheidenes Haus. Er freute sich auf ein paar Stunden Schlaf und malte sich aus, wie er neben seiner Frau aufs warme Lager kroch. Da gewahrte er etwas vor sich. Einen großen dunklen Fleck mitten auf der Straße. Eine Schar ebenso dunkler Gestalten umringte den Fleck. Sie hatten Schwänze, vier Beine und aufrecht stehende Ohren. Es waren die verwilderten Hunde. Sie hielten ihre Köpfe gesenkt und stießen mit ihren Schnauzen immer wieder in die dunkle Pfütze am Boden.
Ein schmatzender Laut ertönte und Semsu blieb stehen. Unter seiner Sandale klebte etwas. Er hob seinen Fuß. Was bei allen Göttern war das? Auch hier waren überall Flecken.
Mit dem Finger fuhr er über die dunkle Masse und hielt sie dicht vor die Augen. Doch selbst im Mondlicht war nicht zu erkennen, um was es sich handelte. Vielleicht war es Pech aus einem geplatzten Krug. Aber würden die Hunde am Pech lecken?
Semsu zerrieb die Masse und hielt sie unter seine Nase. Der metallische Geruch war unverkennbar.
Blut.
Mit wachsendem Entsetzen sah er auf die Lache.
Sie war verdammt groß. Eine Menge Blut war da vergossen worden.
Nur von wem? Das Viertel mit den Schlachthäusern lag weit weg, und niemand würde das nahrhafte Blut vergeuden, wenn er zu Hause eine Ziege schlachtete.
Ein dumpfer Schlag ertönte, und der Boden unter seinen Füßen bebte. Semsu erstarrte. Das Geräusch war aus der engen Gasse gekommen, die neben ihm in die Straße einmündete. Er spürte zwei weitere Erschütterungen - wie die Schritte eines schweren Tieres. Schweiß brach auf seiner Haut aus. War etwa einer der Arbeitselefanten des Pharaos entwichen?
Semsu wagte es nicht, sich zu rühren. Ein Schnauben drang aus der Gasse. Tief und hohl. Es klang, als würde Luft aus einem großen Blasebalg entweichen. Die schweren Schritte kamen näher. Staub drang in Semsus Nase, und der Geruch von Blut wurde stärker.
Die Hunde hatten ihre Köpfe gehoben und sahen aufmerksam in seine Richtung. Ihre Augen glänzten kalt wie polierter Obsidian. Einer der Streuner stieß ein Winseln aus, und plötzlich stob das ganze Rudel davon. Gerne wäre Semsu den Hunden gefolgt, doch er wusste, dass es zu spät war.
Die große Kreatur aus der Gasse stand bereits neben ihm. Ihr gewaltiger Schatten floss über ihn hinweg, heiß und sengend wie die Strahlen einer schwarzen Sonne. Stinkender Atem strich über Semsus Wange und etwas Feuchtes tropfte auf seine nackte Schulter. Das war kein Elefant. Und auch kein wilder Stier oder ein Löwe.
Semsu zitterte, zuerst seine Beine, dann sein ganzer Körper. Unfähig sich zu rühren, begann er zu beten. »Osiris, Gott des Totenreichs, so empfange mich an deinen Pforten und begleite mich auf dem Weg zum Fluss Eridanus .«
Der monströse Schatten entließ ein tiefes Grollen. Ein weiterer dumpfer Schlag ertönte. Im selben Moment schoss ein scharfer Schmerz durch Semsus Seite, genau an der Stelle, wo die Rippen aufhörten und der Bauch weich war....