Schweitzer Fachinformationen
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Der nächste Morgen. Ein schwarzer Junge, kugelrunde schwarze Augen, beugt sich über ihr Gesicht. Sie hält ihn für den garoto pretinho da bacabeira, der sich in den Amazonasdörfern herumtreibt. Ein Kind, nicht älter als acht. Wenn er einem Menschen auf der Straße begegnet, reiht er sich neben ihm ein. Er bittet ihn um etwas. Ein paar Münzen, ein Stück Brot. Wenn der andere ihn zurückweist, schlägt ihn die Faust Garotos mit voller Wucht ins Gesicht. Der andere landet im Staub der Straße, unfähig, wieder aufzustehen. Sie hat diese Geschichte auf der Ilha do Marajó gehört, aber weiß nicht, warum der Junge jetzt in ihren fliegenden Träumen auftaucht. Hatte er ihr auf den Kopf geschlagen? Geht es ihr nicht schon besser? Zwei Stunden später geht es hinunter zum Fluss, auf einem Holzwagen, ein Muli zieht ihn durch den Sand. Sie sitzt neben dem Kutscher. Unter ihrer Schädeldecke hat sich das Gehirn aus den Angeln gelöst. Mit jedem Hufschritt schwappt es hin und her. Schwipp, Schwapp. Irgendetwas war aus dem Wald in sie hineingekommen, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, was es war. Irgendetwas türmte sich weiter unaufhörlich in die Höhe, bereit, loszubrechen. Sie hatte eine Krankheit, oder die Krankheit hatte sie, nur welche war es? War es die Violine, war es das Cello, war es die Posaune oder war es das Klavier, das spielte?
Malaria dringt in deine Knochen ein, über das Brot, das du isst, und wann immer du deinen Mund öffnest.
So dachtet ihr Kleingläubigen.
Hunderttausende, fürchterliche Jahre.
Es wird Zeit, mich näher vorzustellen. Wie konnte ich den Tod bringen, ohne es zu wollen? Ich brauchte kein Wollen. Es ist leicht, viel anzurichten. Im Guten wie im Bösen. Ein kurzer Stich genügt. Pleased to meet you. Schaut mich an. Schachbrettflügel, die Taster lang gewachsen wie der Stechrüssel, die Beine dünn und lang, Abdomen schüppchenlos, ein Wesen, nicht schwerer als ein Tropfen Wasser.
Sie wusste nicht, dass ich es gewesen war. Ihr Blut in meinem war. Sie wusste nicht, dass ich in ihren Gedanken treiben konnte, wie ihr Blut in mir. Ich konnte sehen, was sie sah. Denken, was sie dachte. Fühlen, was sie fühlte. Vor ihr wollte ich das nie. Ich wollte bloß leben, wie alle anderen. Ihr Menschlein seid es, die mich daran hindern. Ihr jagt mich. Vernichtet uns.
Wenn ich daran denke, fließt kalte Wut in meine Stichwaffe. Euer absurdes Theater. Ihr steigt auf Betten, hängt an Wänden, verrenkt euch, eure Gesichter verzerrt wie auf Plakaten eines Horrorfilms, ihr jammert und heult. Große Gefühle sind im Spiel, wenn ihr versucht, uns zu kriegen. Warum ist euer erster Impuls, uns zu töten? Werdet ihr so geboren? Schon kleine Kinder deuten mit dem Finger auf uns und rufen: Tot machen! Tot machen! Ihr bezeichnet uns als Plage, als Eindringlinge in eure Welt. Habt ihr jemals überlegt, dass es andersherum sein könnte? Erinnert euch, der Mensch wurde am letzten Tag erschaffen. An manchen Orten war der Himmel schon so voller Mücken, dass kein Licht mehr durchdrang. Ihr seid eine lächerliche Zahl unserer Schwärme. Ihr seid die Eindringlinge in unsere Welt.
Es ist eine Welt, die ihr nicht durchdringt. Ihr fliegt in das Weltall und begreift nicht, was eine Mücke ist. Ihr wollt nicht verstehen, was für eine Dimension in der kleinsten Einheit aufgehoben ist. Die Macht der Natur ist es, den Tod in ein winziges Wesen, wie ich es bin, stecken zu können. Eines, das man übersieht. Das nichts ist. Ein krakeliges T in Schwarz. Ihr gabt mir einen griechischen Namen, Anopheles, was so viel wie »Nichtsnutz« bedeutet. »Ihre Larve wohnt im Wasser, und die Mücke sticht nicht«, hieß die kühne Behauptung unter meinem Abbild in der Systema Naturae. Verzeiht, dass ich laut lache.
An dem Tag, an dem sich unsere Wege kreuzten, fuhr sie mit einem Schiff aus Manaus über den Amazonas, und ich behaupte, dass diese Wege, sähen wir sie auf einer Landkarte, vor langer Zeit eingezeichnet wurden. Ich erinnere von der Reise Szenen, Bilder, manches nur schemenhaft, anderes deutlich wie Glas.
Der Dampfer glitt in einen Nebenarm des Flusses Ariaú, legte an einem Steg an. Über den Himmel schoben sich dunkle Wolken, durch die das Licht hell glimmte. Eine Gruppe Menschen stieg aus. Beige Hosen, helle Hemden, Tropenhüte sagten nichts über ihren Charakter aus, nur ihre erbärmlichen Sehnsüchte spiegelten sich darin wider. Carmen war eine von ihnen.
Das Gesicht trug sie hoch, im Profil sah sie aus wie die Frau auf einer Brosche. Sie war ahnungslos, wie all ihr Menschen, und hielt sich für furchtlos. Mir kann nichts passieren.
Sie legte ihren Kopf in den Nacken, die Ader am Hals trat pochend hervor, sah in die tiefgrünen Wipfel. Alle ersten Blicke waren in ihrem Blick aufgehoben. Knöchrige Mangroven im Wasser. Auf einem Ast ein großer Vogel, der abwesend wirkte. Unbegreiflicher Anflug von Unruhe. Klick, klick. Die Kamera vor ihrem Gesicht. Die Natur war für sie etwas, das man ansehen und anfassen konnte, von dem man aber letztendlich getrennt blieb. Dabei war es ihr warmer Atem, der mich benachrichtigte, es war der Schweiß ihrer Füße. Sie lief über den Steg. Klock, klock. Ihre Haut roch nicht lückenlos nach dem Citrus des Insektensprays. Weiße Stellen, Inseln, auf denen man landen konnte.
Wie naiv sie war.
Ihr Freund interessierte mich nicht.
Sie lebte gern, das hörte ich an den vibrierenden Wellen, die nun das Holz warf. Vor allem ihre Selbstsicherheit machte sie zu einem idealen Opfer. Am Ende entschied ich mich jedoch aus einem viel dringlicheren Grund. Ja, ich konnte gar nicht mehr anders, als ich das Blut witterte. Ihr Blut, hell und süß, das so schnell und frisch durch ihre Adern floss, dass es in meinen Ohren rauschte.
Ihr glaubt, eure Haut grenze euch ab, sie sei der Schutzgraben um euer Fleisch. Dabei ist sie der Ort eurer größten Verwundbarkeit. Ein kleiner roter Punkt, und der Tod ist drin. Wisst ihr nicht, welche Macht ich habe? Ich zitiere: »Von allen Seuchen, die die Menschheit befielen, hat keine so dauerhafte und tiefe Spuren hinterlassen wie die Malaria. Sie forderte im Laufe der Jahrhunderte wahrscheinlich mehr Opfer als alle großen Pest-, Cholera- und Pockenepidemien zusammen.« Heute noch sterben Millionen, die Hälfte von euch Menschlein lebt unter meinem Gesetz. Bestürzt euch das nicht? Glaubt ihr, ihr hättet euer Leben im Griff? Wenn ihr nicht mal eine Mücke im Griff habt? Wer stoppte Alexander den Großen, den Eroberer der Welt? Ein schwarzes Kreuz, das auf einem Fleckchen Haut landete. Die Malaria brach Kreuzzüge ab, sie warf Bettler, Kinder, Kaiser und Päpste ins Grab, wütete in beiden Weltkriegen. Nicht Kanonen, nicht die Gegner entschieden manche Schlachten, sondern ein schwebender Fleck mit ein paar Flügeln. Wer schützte Rom vor dem Einfall der Germanen - und wer half doch beim Einstürzen des Römischen Reichs? Moskitos ergreifen keine Partei.
Malaria veränderte eure Politik, eure Geschichte; und auch das Leben derjenigen, die nicht daran erkrankten. Euer Leben.
Hört ihr die britischen Soldaten in Sierra Leone singen? »Nehmt euch in Acht vor der Bucht von Benin, einer kommt raus, aber zehn bleiben drin.« Manche Schiffe trieben monatelang führerlos auf dem Meer, weil alle Seeleute verendet waren. Zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert schwirrte der Punkt auf der ganzen Welt, verdeckte den Himmel, bis kein Licht mehr durchdrang.
Und heute? Kommt die Malaria herein, steht auch der Tod in der Tür. Ein, zwei Wochen können genügen, wenn nichts getan wird. Gerettet ist, wer schnell behandelt wird. Die Zeit ist das entscheidende Kriterium. Und sonst? Sonst dreht man sich vielleicht in einem Augenblick in seinem Bett um, und die aufgeblähte Milz platzt. Nacheinander versagen alle Organe. In Amazonien nennen wir eine Form der Malaria »a risadinha«, die lachende Malaria - weil der Patient mit einem Grinsen im Gesicht stirbt; die schrecklichen Schmerzen ziehen ihm die Mundwinkel nach oben.
Aus den mir rätselhaftesten Gründen stach ich nicht sofort zu, obwohl es mich drängte. Ich tat etwas, das Mücken eigentlich nicht tun: Ich folgte ihr auf der Reise. Das Flugzeug nach Belém. Sie setzte sich auf 23F, ein Fensterplatz. Beim Start faltete sie ihre Hände. Ich hing in der schmalen Ritze des Bullauges, fror erbärmlich. Sie bestellte Tee. Ich hätte sie doch gleich stechen sollen. Wo würde ich es tun? Wie würde ich es tun? Natürlich würde ich es tun.
Blut wird fließen, Geißeln werden fließen.
Sie würde schon sehen, wer als Nächste im Eissturm steht.
Vor der Landung in Belém reckten die Passagiere ihre Köpfe am Fenster. Schalentiere, die nach Luft schnappten. Unter uns nur Wasser und Wald. Kleine Flüsse, Riesenströme, breite Arme, aus allen Richtungen floss es auf die Stadt zu. Im Zentrum war davon nichts zu sehen. Ein feuchter, heißer Tag. Zuerst wollten sich Carmen und Carl etwas ansehen, dann wussten sie nicht, was das sein könnte. Das Museum der Elf Fenster, die Kathedrale. Im Kopf war alles einerlei. Schweiß knisterte in den Ohren. Ein Schnitt ins Fleisch. Wenn das Blut zur Erde tropfte, würde man darauf deuten, »Oh« sagen, die Augen wieder schließen. Sie mussten trinken. Gelbe Sonnenschirme, gelbe Plastikstühle. Klirrende Limonade. Während in kälteren Städten die Geschwindigkeit der Menschen etwas mit ihrem Charakter zu tun hatte, gingen hier alle gleich. So langsam wie möglich, ohne stehenzubleiben.
Wir fuhren mit einem Taxi zum...
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