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Unter dem Stein. Unter dem Singen der Vögel. Unter dem Schreien der Kraniche. Unter dem Moos. Unter dem Licht. Unter dem Tau auf See und Schilf. Die Wahrheit schien mir wie ein fein gewebtes Netz, das unter allem lag. Und die Menschen sahen es nicht. Sie sprachen von dem, was wirklich ist. Aber es war nicht das Wirkliche. Die Wahrheit war tiefer. Sie hatte einen Grund.
Warum dieses hauchzarte Netz gerade in der Geschichte von Jacaré und Orson Welles für mich sichtbar wurde, kann ich nicht erklären. Aber ich kann sie erzählen. Die Geschichte vom armen Fischer aus dem Nordosten Brasiliens und dem großen Regisseur aus Nordamerika. Sie trafen sich im März des Jahres 1942 in Rio de Janeiro. Orson Welles nannte Jacaré einen Helden. Jacaré nannte Orson Welles in der kurzen Zeit, die sie gemeinsam auf der Erde verbrachten, bebê chorão. Weil er fand, der Regisseur mache ständig ein Gesicht wie ein Säugling, der gleich zu heulen anfängt.
Wenige Monate zuvor war Jacaré mit drei anderen Fischern von Fortaleza bis nach Rio gesegelt, um den Präsidenten des Landes um Hilfe zu bitten. Vier Männer auf einem Floß. Barfuß, ohne Kompass, geleitet nur von den Sternen. 2381 Kilometer, 61 Tage über das Meer. Im fernen Amerika saß Orson Welles vor einer Zeitung, las mit offenem Mund über ihre Odyssee und beschloss, sie nachzufilmen: »It's all true« sollte der Film heißen. Eine der ersten Szenen war die glorreiche Ankunft der vier Fischer an der Küste von Rio. »Ich will, dass ihr es genau so macht, wie es war«, sagte Orson Welles hinter der Kamera, zu Jacaré, dem Anführer. Ich will, dass ihr es genau so macht, wie es war. Als sie nun ihr Floß mit dem Segel in ungestümer See auf den Strand zusteuerten, ihn fast erreicht hatten, kam eine hohe Welle und riss Jacaré von Bord. Er verschwand im Meer - und wurde bis heute nicht gefunden.
Orson Welles drehte »It's all true«. Ohne Jacaré. Mit Jacaré. Für Jacaré.
Der Film blieb ein halbes Jahrhundert lang verschollen. Alle, die so verzweifelt nach einer Wahrheit suchten. Die Kinder, die sagten, vielleicht haben sie Jacaré nach Amerika gebracht. Die Fischer, die sagten, vielleicht haben sie ihn umgebracht. Was ist auf den Filmbändern zu sehen. Alle, die redeten. Und dabei das Netz nicht sahen, das Jacaré und Orson Welles freigelegt hatten. Unter dem Schreien der Kraniche. Unter dem Moos. Unter dem Licht. Ich will es euch zeigen.
Es waren zwei Pflanzen. Die eine war eine dunkelbraune Liane, die in starken Windungen nach oben drängte. Die andere war ein stiller Strauch mit grünen Blättern. Die Pflanzen wuchsen an unterschiedlichen Stellen im Wald. Doch gehörten sie zusammen. Die Pflanzen wussten das. Was die Menschen fanden, war nur das Wissen dieser Pflanzen. Seine Eltern lernten sich kennen, als sie einen Tee tranken, der aus der Liane und den Blättern gekocht wurde. In den Blättern war alle Weisheit verborgen. In der Liane die Kraft, diese Tür zu öffnen. Trank man den Tee, konnte man nichts mehr vor sich verschleiern, nichts mehr vergrößern, nichts mehr verkleinern. Man sah die Dinge, wie sie waren. Eines Tages fuhren die Eltern in den Wald, in dem die Pflanzen wuchsen. Die Mutter pflückte die Blätter, und der Vater schlug die Lianen ab. Den daraus gewonnenen Tee brachten sie nach Hause. Sie tranken ihn während seiner Geburt. Und in der Kraft der beiden Pflanzen kam er auf die Welt.
Jacaré wuchs am Praia de Caponga auf. Mit ein paar Strichen zeichne ich euch das hin. Die Baumstämme, die Jangadas, die Palmen, das Meer. Ihr hört das dumpfe Klopfen, wie im Film von Orson Welles, die Männer zimmern die Jangadas. Vor den Hütten mit den Schilfdächern seht ihr die Frauen sticken. Jetzt ist es ein Stummfilm. Ihr seht, wie die Männer ihre Beine in den Boden stemmen, das schwere Floß auf das Meer schieben, hinaufspringen, sich aufrichten. Im Aufrichten lag alles. Wie die Kinder am Strand stehen bleiben. Sich auf den Bauch ins Wasser legen.
Nachschauen, bis der Punkt kleiner und kleiner wird. Der Vater, das war ein Floß mit einem Segel, das verschwand. Manchmal musste der kleine Jacaré mit hinaus. Es stürmte oft, dann übergab er sich, und sein Vater band ihn mit einem Strick am Holzmast fest. Sonst fiele er ins Meer.
Jacaré wurde als Manoel Olímpio Meira geboren, aber seine Eltern nannten ihn Jacaré, weil er schon als kleines Kind ein ähnlich zerknittertes Gesicht wie ein Krokodil hatte. Er lachte viel. Jacaré hatte einen direkten Zugang zur Welt. Die Dinge waren für ihn unverstellt. Manchmal blieb er im flachen Wasser sitzen. Er sah das Meer auf sich zukommen. Das Meer, lauter, stärker, er wusste nicht, woher es kam, es war Leben, und es war Geheimnis. Die Wellen schlugen hart gegen seine Knie, umspülten ihn, zogen sich zurück und kamen wieder. Stundenlag konnte er da sitzen, das Salz in der Luft schmecken, das Zischen des Wassers hören, den Kreisen folgen, die das Wasser gab und nahm. Und nie würde er wissen, woher sie kamen und warum sie kamen. Wer der Autor dieser Kreise war. Nie würde er das wissen. Und dieses Nie, das war doch schon der Beweis für die Unendlichkeit. Das Unendliche gab es. Der Himmel, das Meer, der Wind, alles schob ihn ständig in die Weite, während er auf einem Fleckchen Sand saß. Gott war das niedrigste Wort für das, was er nicht kannte. Das Gesetz hinter dem Gesetz. Das Geheimnis hinter dem Geheimnis. Es war für ihn das Einfachste, das Logischste. Es fing doch schon mit dem Leben an. Man wird geboren. Man bekommt das Leben. Wenn man etwas bekommt, musste es jemanden geben, der es einem gab. Der einem das Erscheinen auf der Welt . bewilligte. Gab es da niemanden? Auch niemand war jemand. Und weil Jacaré das alles so stark und grenzenlos spürte, ihm zugleich der Magen knurrte und er wusste, er würde heute Abend wieder nur zwei Gabeln vom Fisch bekommen, lief ihm manchmal eine Träne über die Wange. Dann wischte er sie weg. Das hatte ihm seine Mutter so eingebläut. Man weint nicht. Niemals. Er wischte also die Träne weg, sobald er sie heiß auf seiner Backe spürte. Sogar wenn er alleine war. Wischte er. Und dann dachte er, wie sehr sie doch gefangen waren, in diesem Wischen, diesem Nicht-Zeigen, nicht mal vor sich selbst. Wie eng sie ihre Welt machten, während ihm die Natur in jedem Augenblick versicherte, wie weit sie war.
Jacaré war neun Jahre alt, als sein gleichaltriger Cousin Pedro im Meer ertrank. Seine Mutter stand im Eingang der Schilfhütte, eine Tür gab es nicht. Weil sie auf ihn wartete, wusste er, dass etwas geschehen war. Jacaré ging in langsamen Schritten vom Strand herauf, er spürte, wie der Sand jeden Fuß umschlang wie flüssiges Blei. Als es noch zwei Schritte zu ihr waren, sagte sie: »Pedro ist tot.« Er schaute sie mit den großen Augen der Kinder an, in die noch alles ungeschützt hineinfloss und drinnen blieb. Er sprach mit niemandem, weil niemand mit ihm sprach, und er wusste nichts von so einer Situation. Er suchte sich Schilf, bastelte daraus ein Männchen und färbte es mit Kohle schwarz.
Jacaré ging an der Hand seiner Mutter zur Hütte der Tante. Hörte seine Tante schreien, laut und grell, der Schrei fand kein Ende. Seine Kehle schnürte sich zu. Er wusste nicht, wohin er schauen sollte, also schaute er hinaus auf das Meer. In die Ferne. In den Augen seiner Mutter stand die Verzweiflung, aber auch am nächsten Tag, die nächsten Tage, sprach sie nicht mit ihm. Über das, was passiert war. Sie machte einfach weiter, als sei nichts passiert.
Er hatte doch zwei Ohren, er hatte zwei Augen, er hatte einen Mund. Es war das erste Mal, dass er das spürte, ohne sich dessen bewusst zu sein: Wenn die Menschen nicht wahr zueinander waren, waren sie nicht mit ihren Herzen verbunden. Das Herz seiner Mutter schlug. Sein Herz schlug direkt daneben. Aber sie waren getrennt. Sie waren auf zwei Lichtjahre voneinander entfernten Planeten, weil sie nicht wahr zueinander waren. Die Wahrheit verbindet alles.
Verbunden sein, wenn er hinausfuhr. Das wollte Jacaré, als er selbst ein Fischer wurde. Seinen Kindern sagte er, sie sollen am Strand mit der linken Hand eine Faust ballen, sobald sie den Punkt am Horizont nicht mehr sahen. Er würde in diesem Augenblick das Gleiche tun, wenn er die Punkte, die seine Kinder waren, nicht mehr sah. Seiner Frau Josefina sagte er, sie solle den Mond anschauen, wenn er tagelang auf dem Meer fischte. Er würde das Gleiche tun, und so traf sich doch ihre Liebe auf dem Mond. Er gab ihr eine Muschel, an der sie nachts das hören konnte, was er hörte. Später, als Jacaré im Meer verschwunden war, hielt ihr Sohn Francisco seiner schlafenden Mutter manchmal die Muschel ans Ohr. Ohne dass sie das wusste. Es ging auch nicht darum, dass sie es wusste, es ging nur darum, dass er es tat.
Sie hatte Augen wie Steine. Das Erste, das Jacaré auffiel, dass ihre Augen die Farbe von Steinen hatten. Sie kam aus dem Sertão. Dürre Äste, trockene Blätter, Kakteen wie Anklagen. Hier trieben die Viehhirten ihre Rinder in die sengende Weite, auf der Suche nach ein paar Büscheln gelbem Gras. Auch Josefinas Vater war Viehhirte. Nur trieb er nicht die Rinder, sondern seine fünf Kinder hinaus in die Steppe. Er hatte einen Stock dabei und ließ sie gehen. Tagelang, ohne Wasser. Die zehnjährige Josefina band sich die zweijährige Schwester auf den Rücken, die nicht mehr weitergehen konnte. Das Sinnlose dieser väterlichen Tat lebte tief verborgen in Josefina ein Leben lang als Schrecken weiter.
Josefina war glücklich mit Jacaré. Auch wenn sie am...
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