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Marion hatte Viktor Verheyen vor vier Jahren kennengelernt, und seither hatten sie selten Kontakt gehabt. Wenn sie sich fünfmal im Jahr gesehen hatten, war das schon viel. Sie erinnerte sich noch gut an das erste Treffen, das erst ein halbes Jahr, nachdem Marion und Martin sich offiziell als Paar bezeichnet hatten, stattgefunden hatte.
"Es ist soweit", sagte Martin an einem Freitag vor vier Jahren und um seinen Mund herum zuckte ein nervöses, grimmiges Lächeln. Sie saßen sich auf ihrer Couch gegenüber. Jeder wohnte noch in seiner eigenen kleinen Bude. Martin besaß eine modern eingerichtete Wohnung an der Hauptstraße nahe des Kapellenplatzes, deren einziger Minuspunkt es war, vorne hinaus zu liegen, sodass man im Sommer regelmäßig die Pilgerprozessionen am Schlafzimmerfenster vorbeitrotten und Tochter Zion oder etwas anderes Dramatisches singen hörte. Marion besaß eine kleine, etwas altmodischere Wohnung auf Nord.
"Was ist soweit?", wollte sie wissen.
"Meine Eltern wollen dich kennenlernen."
Sie lächelte. "Schön. Hast du dich endlich durchringen können, ihnen zu sagen, dass du jemanden kennengelernt hast. Vor. lass mich mal überlegen." Sie tat, als kramte sie in ihrem Gedächtnis. ". vor 5 Monaten und 23 Tagen."
"Ja", lautete seine kurze Antwort.
Marion hatte Martin seinen Eltern bereits nach vier Wochen vorgestellt. Dass man abwarten wollte, ob sich ein solches Treffen überhaupt lohnte, das konnte sie akzeptieren. Wenngleich sie bei Martin von Anfang an das Gefühl hatte, dass er der Richtige war. Immerhin hatte sie schon genug Beispiele für das Gegenteil kennenlernen dürfen, um den Richtigen zu erkennen. Aber dass Martin so gar keine Anstalten machte, sie seinen Eltern vorzustellen, kam ihr komisch vor. So sehr, dass sie dachte, es läge an ihr.
"Nein, nein! Bitte!", hatte er fast verzweifelt gesagt, als sie ihm ihren Verdacht genannt hatte. "Nein. es ist nur. Sie sind. Meine Eltern sind."
"Ja?"
"Anders."
Aber wie dieses Anders aussah, hatte er ihr nie erklärt. Martin sprach nie über seine Eltern. Ob er sie überhaupt regelmäßig sah, wusste sie nicht. Das einzige, was sie in Erfahrung brachte, waren ihre Namen: Wilma und Viktor Verheyen. Von letzterem wusste sie, dass er ein namhafter Rechtsanwalt mit Spezialgebiet Steuerrecht war und sich sehr für die Lokalpolitik in Kevelaer interessierte. Sie hatte sein imposantes Konterfei schon häufig in der Zeitung gesehen. Aber mehr wusste sie nicht. Und mehr wollte Martin ihr partout nicht verraten.
Nun sollte sie seine Eltern kennenlernen. Am nächsten Samstag. Zum Abendessen. Marion war extrem nervös, war drei Tage vorher noch mit ihrer besten Freundin Karla shoppen gewesen, um sich für den Abend neu einzukleiden. Sie wollte schön sein, umwerfend, als sie Martin die Tür öffnete. Und war erschrocken darüber, dass er offenbar seine älteste Hose und ein noch älteres Baumwollhemd angezogen hatte, sodass er aussah wie ein kanadischer Holzfäller kurz nach seiner letzten Schicht.
"Haben sie abgesagt?"
"Wer?"
"Deine Eltern."
"Gott bewahre. Termine werden nie abgesagt. Man drückt die Schultern durch und hoch erhobenen Hauptes stellt man sich den Dingen."
Verständnislos schüttelte sie den Kopf.
"Vergiss es", sagte er. "Sollen wir? Je eher wir gehen, desto eher sind wir wieder zu Hause."
Er griff nach ihrem Handgelenk, doch sie zog ihn zurück. "Versteh mich nicht falsch, Martin", sagte sie. "Aber willst du wirklich so zu deinen Eltern?" Sie blickte an ihm herab.
"Gefall ich dir nicht?" Er lächelte.
"Natürlich."
"Das genügt mir. Und jetzt komm."
Martin hielt ihre Hand, als sie vor der imposanten, gusseisernen Haustür der Familie Verheyen standen, die genauso gut das Portal einer mittelgroßen Kapelle hätte sein können. Martins Hand war schweißnass und ein Blick in sein Gesicht verriet Marion, dass er mehr als nur nervös war. Er hatte Angst. Sie hatte nie zuvor einen solchen angespannten Ausdruck gesehen. Martins Kiefer mahlten aufeinander, als versuchten sie ein Stück Metall zu zerbeißen. Seine Augäpfel rollten in seinen Höhlen gehetzt hin und her wie bei einem Reh auf der Flucht. Kleine Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
"Alles okay?", fragte sie. Eine Frage, die überflüssiger hätte nicht sein können bei seinem Anblick.
"Klar", sagte er ohne sie anzusehen und drückte auf den Klingelknopf.
Komisch, dachte sie. Hat er keinen Schlüssel für sein Elternhaus?
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis geöffnet wurde. Marion rechnete schon mit der livrierten Gestalt eines Butlers, der ihnen die Tür öffnete. Doch es war eine kleine, dürre Frau, die mit großen Augen zu ihnen aufsah. Ihr dünnlippiger, blutleerer Mund lächelte. Doch ihre Augen, wie grau erkaltete Kohlen, lächelten nicht mit. Ihr Haar war perfekt gestylt, ihr Outfit - eine moderne Hosenanzug-Kombination - war mindestens eine Nummer zu groß. Aber das schien sie nicht zu stören. Genauso wenig wie die tropfenförmigen, goldschimmernden Ohrringe, die ihr bei jeder noch so kleinen Bewegung gegen den Hals schlugen. Das würde mich wahnsinnig machen, dachte Marion und unterdrückte ein Schmunzeln.
"Martin", begrüßte sie die Frau, indem sie das R in seinem Namen extrem betonte, dass es fast so klang, als hätte sie einen Krümel im Hals, den sie versuchte durch kehlige Laute fortzubekommen.
"Mutter", sagte ihr Sohn und nickte kühl.
Marion versuchte sich an einem Lächeln. Doch es gefror ihr, als der kalte Blick der fremden Frau auf ihr ruhte.
"Und Sie sind?"
"Das ist meine Freundin, Mutter. Marion."
"Marion und Martin." Sie grinste wieder, freud- und humorlos.
"Kommt rein. Ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn ich Sie duze, mein Kind."
"Natürlich", sagte Marion und fragte sich, wo - außer in einem Roman aus den 40er Jahren - nannte eine ältere Frau eine jüngere noch mein Kind.
Wilma Verheyen trat beiseite und wies ihnen mit ausgestreckten, manikürten Fingern den Weg.
Marion konnte nicht genau sagen, was sie erwartet hatte. Ein großes Haus. Ja. Eine moderne Einrichtung. Ja. Alles steril, sauber. Selbstredend. Doch beim Eintreten ins Esszimmer der Verheyens wurde ihr sofort klar, dass selbst ein Einrichtungshaus mehr Persönlichkeit besaß als dieser große, Kathedralen-artige Raum. Die Decke schwebte irgendwo weit über ihnen und die gläsernen Lampen, die wie Diamanten geformt waren, schwebten scheinbar in der Luft. Der schwarze Esstisch sah schwer und wuchtig aus. Und die mit Leder bezogenen Stühle an beiden Seiten machten den Eindruck, als hätte noch nie ein Hintern auf ihnen Platz genommen. Es wirkte wie ein Foto in einer Hochglanzzeitschrift. Alles perfekt, alles stylish. Aber völlig leblos. Marion hätte sich über ein Fitzelchen Staub auf dem Boden gefreut. Doch den suchte sie vergebens.
Viktor Verheyen stand an einem der bodentiefen Fenster und starrte hinaus in seinen Garten, in dem Marion einen beleuchteten Swimming-Pool erkennen konnte. Er hatte seine Hände hinterm Rücken verschränkt und drehte sich langsam herum, als sie eintraten. Den Moment wohlweislich auskostend, wie Marion vermutete.
Viktor Verheyen war ein Mann von beachtlicher Statur. Sie schätzte ihn auf wenigstens einen Meter und neunzig. Mit breiten Schultern, einem gewaltigen Nacken und wegen des hohen Kragens seines modernen Hemdes sah es so aus, als besäße er keinen Hals. Seine stechenden Augen musterten sie, und seine vollen Lippen rieben unter einem buschigen, aber sauber und ordentlich frisierten Schnurbart übereinander. Er trug einen anthrazitgrauen Anzug, der passgenau seinen gewaltigen Bauch über dem schimmernden Ledergürtel in Form presste. Ein Luftzug zu viel, dachte Marion, und Viktor Verheyen würde sich die Klamotten vom Leib sprengen wie Lou Ferrigno als Der unglaubliche Hulk.
"Sohn", begrüßte Verheyen seinen Sprössling, und Marion wunderte sich darüber, dass es noch eine unpersönlichere Begrüßung geben konnte als die seiner Mutter Wilma.
"Vater."
Marion rechnete damit, dass sich die beiden Männer die Hand gaben. Doch selbst das taten sie nicht. Sie nickten sich lediglich zu. Martin wirkte neben seinem Vater wie ein wahrer Hänfling, dabei war er mit einem Meter dreiundachtzig nicht klein.
"Deine Freundin?", fragte Victor.
Martin nickte.
Marion wagte einen Seitenblick und erkannte, dass Martin schluckte, als bemühte er sich einen Ton herauszubekommen. Er sagte nichts.
"Möchtest du mir nicht ihren Namen sagen?"
Martin öffnete den Mund, doch er sagte noch immer nichts. Hatte es ihm tatsächlich die Sprache verschlagen?
"Marion", sprang sie ein und hoffte, die Situation zu retten.
Die düsteren Augen des hünenhaften Mannes hefteten sich nun auf sie. "Marion. Und weiter?"
"Winkels."
"Marion Winkels. Wer ist Ihr Vater?"
"Rüdiger Winkels."
Er hob den Kopf leicht in den Nacken, seine Augen wanderten sachte von links nach rechts, als beobachte er einen Schwarm vorbeiziehender Vögel. "Sagt mir nichts. Was ist er von Beruf?"
Jetzt war es an Marion zu schlucken. "Er ist. Facility Manager."
Ein Schatten legte sich über seine Augen, als hätte er ein Visier heruntergeklappt. "Hausmeister", sagte er missbilligend. Wobei dies weniger dem Berufsstand ihres Vaters galt, vermutete sie, sondern vielmehr ihr. Weil sie sich mit ihm offenkundig einen Spaß erlaubt hatte.
"Nehmt Platz", sagte er.
Das taten sie....