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"Was ist denn los?" Dass es sich um ein ernstes Thema handelte, wusste Nele sofort beim ersten Blick in die Augen ihres Mannes.
"Komm bitte", sagte Bernd, sanft, fast traurig.
Nele stand am Herd. Sie hatte sich vorgenommen ein wundervolles Abendessen zu zaubern, nur für sie beide. Ihre gemeinsame Tochter Marla hatten sie für zwei Wochen bei den Großeltern geparkt.
Doch so wie es aussah, sollte es kein schöner Abend werden.
Nele legte den Holzlöffel, mit dem sie die Soße umgerührt hatte, beiseite, und schaltete die Kochplatten aus. An einem Küchentuch, das sie neben dem Ceranfeld abgelegt hatte, wischte sie sich die Hände sauber. Eine Marotte. Auch wenn ihre Finger sauber waren, musste sie sie abputzen.
"Sag mir doch bitte, was los ist?"
"Gleich ..."
Bernd ließ sie stehen, durchquerte das angrenzende Esszimmer und ging ins Wohnzimmer. Dort setzte er sich auf seinen Platz. In die rechte Ecke auf dem Sofa, sodass er die Beine auf der Récamière hochlegen konnte. Was er jetzt allerdings nicht tat. Vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie abgelegt, wartete er auf sie. Sein Blick ruhte auf einem Punkt vor ihm auf dem Boden.
Nele hatte Angst, wie sie ihn so dasitzen sah. Ihre Beine zitterten, als sie sich zu ihrem Mann gesellte, sich neben ihn setzte. Sie sah ihn wie gebannt an, starrte auf seine Lippen, die sich einfach nicht bewegen wollten. Sich stattdessen fest aufeinander pressten.
"Was ist denn?"
Er sah sie nur an. Sprach noch immer nicht. Sie wusste, dass es sich um ein Thema handelte, dass ihr unendlich wehtun würde. Das sagte ihr sein Blick. Das letzte Mal, als sie diesen Blick gesehen hatte, war vor eineinhalb Jahren gewesen, als Bernd ihr sagen musste, dass ihre Eltern bei einem schweren Autounfall auf der L361, der Walbecker Straße Richtung Straelen, ums Leben gekommen waren.
"So schlimm, hm?"
Bernd zuckte mit dem Kopf, eine hilflose Geste.
Mit Marla war alles in Ordnung, das wusste Nele. Sie hatte vor einer Viertelstunde erst mit ihr telefoniert. Oma Lise, Bernds Mutter, hatte angerufen, damit ihre vierjährige Tochter Gute-Nacht sagen konnte.
Also was war los?
Nele hatte nicht den Hauch einer Ahnung.
"Verdammt, jetzt sag doch endlich, was los ist! Dein Schweigen macht es nur noch schlimmer!"
"Is' nicht leicht."
"Für dich oder für mich?"
"Ich denke, für uns beide. Auch wenn du es sicher nicht glauben wirst."
Er machte sie wahnsinnig. Was konnte nur so schlimm sein, dass er nicht mit der Sprache herausrückte? Mit Marla war alles in Ordnung, das war das Wichtigste. Was gab es sonst noch für schwierige Themen? Arbeitslosigkeit. Das konnte es nicht sein. Bernd hatte sich vor fünf Jahren als Fahrlehrer selbständig gemacht. Und sein Geschäft lief gut. Über zu wenig Kunden konnte er sich nicht beschweren. Somit war auch der Punkt "finanzielle Sorgen" mit einem Unmöglich zu beantworten. Gesundheit? Konnte es sein, dass Bernd krank war, dass er ihr sagen musste, dass er ... Sie wollte diesen Gedanken gar nicht zu Ende denken ... dass er womöglich ... Krebs hatte? Oder eine andere lebensgefährliche Erkrankung. Aber das hätte sie doch mitbekommen, oder? Wenn er sich nicht wohl fühlte oder wenn er einen Termin beim Arzt gemacht hätte ... Das hätte er nicht verheimlichen können.
Also, was war los?
Es gab nur noch ein einziges Thema, das sie nicht bedacht hatte.
Nur eines ...
"Ich liebe dich", sagte er unvermittelt. "Das musst du mir glauben!"
Irritiert schüttelte sie den Kopf. "Natürlich glaube ich dir das", antwortete sie. "Und ich liebe dich ..." Auch, wollte sie sagen, doch es verschlug ihr mit einem Mal die Sprache. Warum sagte er, dass er sie liebte? Noch bevor er ihr sagte, was er zu sagen hatte. Das machte doch gar keinen Sinn.
Außer ...
"Nein ...", hauchte sie. "Sag jetzt nicht, dass ..." Tränen traten ihr in die Augen, verschleierten ihren Blick. In ihrem Kopf wirbelten ihre Gedanken durcheinander, drehten sich im Kreis wie eine Spirale Blätter im Herbstwind. Wollte er ihr sagen, dass er ...
Und bevor sie etwas dagegen tun konnte, schlug sie ihm ins Gesicht. Der Schlag klatschte hallend durch das große Wohnzimmer. Bernds Kopf flog beiseite. Er sah sie nicht wieder an. Schloss die Augen und schluckte.
"Sieh mich an und sag mir, dass das nicht wahr ist!", fauchte Nele.
Bernd schwieg.
"Sieh mich an!" Sie schrie.
Bernd tat es, seine Augen schwammen in Tränen. Ob als Ausdruck des Schmerzes oder des Bedauerns konnte Nele nicht sagen. Sie wartete gebannt auf seine Antwort. Er nickte.
Nele schloss die Augen.
Für einen Moment herrschte Stille. Das einzige Geräusch, das an ihr Ohr drang, war das Rascheln ihres Atems und das Schlagen ihres Herzens. Es schlug noch. Das war gut. Auch wenn es gebrochen war ...
"Wer ist sie?"
Sie hörte ein leises Schmatzen. Wenigstens war er dazu in der Lage seinen Mund zu öffnen.
"Wer, hab ich gefragt!?"
"Du ... du kennst sie nicht!"
Nele öffnete die Augen. Bernd heulte wirklich. Stumm, aber unaufhaltsam flossen ihm die Tränen übers Gesicht.
"Was soll das?", fragte sie. Seine Tränen machten sie nur noch wütender. "Warum flennst du?"
"Ich weiß nicht ... Weil es mir leid tut, dir das angetan zu haben!"
"Daran hättest du vorher denken sollen, du Arschloch!" Nele griff nach einem der Kissen, die sie auf die Rückenlehne der Couch drapiert hatte, und schmiss es ihrem Mann ins Gesicht. Sie sprang auf, ging auf Abstand. Sie musste sich bewegen, lief auf und ab. Hätte sie es nicht getan, hätte sie ihm hier und jetzt die Augen ausgekratzt.
"Es tut mir leid", flüsterte er.
Nele blieb stehen. "Bevor wir einen großen Fehler machen. Oder ich was falsch verstanden habe ... Du wolltest mir doch gerade sagen, dass du mich betrogen hast, oder? Oder??"
Und in dieses kleine Wörtchen Oder legte sie so viel Hoffnung, wie es ihr möglich war. Denn schließlich hatte er es nicht ausgesprochen. Sie hatte lediglich angenommen, dass es so war. Ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Bernd nickte. Wenn auch kaum merklich.
Und jetzt brach es aus ihr heraus. Die Tränen liefen über, verschleierten ihren Blick. Sie wimmerte, jammerte. Und dann schrie sie. Rannte aus dem Wohnzimmer. In den Flur, die Treppe hinauf bis ins Schlafzimmer. Dort schloss sie sich ein. Zu spät, sagte sie sich, als sie daran dachte, was sie für heute Abend geplant hatten. Eine Wiedererweckung ihrer Liebe.
Alles zu spät!
***
Bernd konnte nichts weiter tun, als ihr hinterher zu blicken. Es tat ihm weh, sie so zu sehen, es brach ihm das Herz. Er hatte sich noch nie so miserabel gefühlt. Und das alles nur, weil er der größte Arsch war, den man sich vorstellen konnte. Aber wenigstens wusste er das.
An dem Tag, als es passiert war, am Donnerstag vor einer Woche, hatte er noch gesagt, dass er sie liebte. Nele hatte ihn in den Arm genommen, ihn geküsst. Sie hatte ihm gesagt, dass sie sich auf nächsten Freitag freue - auf den heutigen Tag! "Marla ist bei deiner Mama und wir haben mal wieder Zeit für uns!" Er hatte genickt, sie ebenfalls umarmt. Und geküsst.
Und knapp drei Stunden später hatte er sie betrogen. Er hatte es nicht gewollt. Und doch war es geschehen.
Obwohl er Nele über alles liebte.
Das tat er immer noch. Aber er befürchtete, dass seine Gefühle nun keine Bedeutung mehr hatten.
Wie hatte es nur passieren können? Wie hatte er sich auf dieses junge Mädchen einlassen könne, das noch dazu seine Fahrschülerin war?
Er versuchte sich zu erinnern ...
Auf seinen Knien ruhte die Kladde mit dem Notizblock, auf dem er sich stichpunkartig die etwaigen Fortschritte seiner Schüler notierte. Noch hatte er keine Notizen gemacht. Seine Sorge, der Stift könnte zittern, sobald er ihn in die Hand nahm, war zu groß. Er schwitzte. Neben ihm auf dem Fahrersitz saß Lynn Kerstens. Sie war einundzwanzig Jahre alt und machte ihn nervös. Ihre Hotpants waren so knapp, dass die Rundung ihres Hinterns unter dem Stoff hervor lugte. Ihr Ausschnitt war tief. Zu tief, sodass er erkennen konnte, dass die Farbe ihres BHs ein aggressives Rot besaß. Und erst ihr Duft ...
Sie erregte ihn.
Machte ihn an.
Dabei tat sie nichts. Noch nicht.
Bernd schickte sie auf eine Runde nach Geldern ins Barbaragebiet. Ein Wohngebiet im Süden der Stadt, um dort das Rechts-vor-Links ausgiebig zu üben. Es klappte überraschend gut. Lynn war keine Musterschülerin, sie war zu übereifrig, zu holperig. Doch an diesem Tag steuerte sie den kleinen VW Polo mit Routine. Bernds Kommentare beschränkten sich auf gutgemeintes Grunzen und Brummen. Er musste kaum etwas...