Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Warum hatte ihr ihre Mutter nichts gesagt?
Nina wusste sofort, wann sie ihre Mutter das letzte Mal gesehen hatte.
Bewegungslos lag dieses Treffen in ihrem Inneren.
Es war am sechsten Geburtstag ihrer Tochter Fanny gewesen. Es hatte geregnet, der Himmel hing grau und hochnebelverhangen über dem Boden. Die Blätter lagen wie ein glänzender Teppich vor dem Haus. Im Kiesweg vor der Haustür hatten sich kleine Seen gebildet. In die Fanny mit ihren Gummistiefeln hineinhüpfte.
Nina hatte in der Nacht nicht gut geschlafen. Sie hatte schlecht geträumt. Sie hatte sich einen Kaffee gekocht, den Garten und das braune, glitschige Laub betrachtet und gesehen, dass ihre Mutter bereits wach war. Geschminkt stand sie unter dem Dach des Gartensitzplatzes und rauchte. Marlboro. Schon seit Ewigkeiten diese Zigaretten in der roten Packung. Nina hatte die Terrassentür geöffnet und gefragt: »Kaffee?«
Die Mutter hatte genickt: »Schwarz.«
Zwischen ihren roten Fingernägeln stiegen weiße Fäden in die Luft. Sie rauchte die Zigaretten jedes Mal nur halb und zündete sich an jeder Zigarette die nächste an. Im Aschenbecher schwammen viele Zigarettenenden, auf jedem ein Lippenstiftabdruck. Sie sahen aus wie geküsst. Nina hatte zwei Tassen Kaffee geholt, hatte ihre warme Winterjacke mit dem Fellkragen angezogen und sich zu ihrer Mutter gestellt. Sie mussten ein lustiges Bild abgeben, hatte Nina gedacht. Sie, mit ihren hellen, wirren Haaren, Schlafanzug und gesteppter Jacke, ihre Mutter in Batikbluse, grauen Leggings, roten Ballerinas, geschminkt, angezogen, als hätte sie sich in der Jahreszeit geirrt.
»Ist dir nicht kalt?«
Die Mutter hatte den Kopf geschüttelt.
»Ich schenke Fanny Geld. Ich weiß nicht, wofür sie sich interessiert.«
Ninas Handgelenke hatten zu jucken begonnen, und sie kratzte sich.
Die Mutter fuhr sie scharf an: »Lass das!«
Nina hatte sich gebückt, um nasse Blätter aufzuheben, die ihre Haut kühlten. Ihre Hände wurden kalt und ihre Finger klamm. Die Mutter zündete sich eine weitere Zigarette an und schaute in den Himmel.
»Was für ein Wetter!«
Nina bewegte sich von einem Fuß auf den anderen, ihre Handgelenke schmerzten, und sie musste niesen.
»Ich gehe mal wieder rein.«
Die Mutter starrte vor sich hin, reagierte nicht und flüsterte leise, mehr zu sich selbst:
»Ich kenne meinen Vater nicht.«
»Was?«
»Schon gut.«
»Was hast du gerade gesagt?«
Die Mutter wandte ihr das Gesicht zu, sodass sie die Falten um die schmalen Lippen sehen konnte. Das Lippenstiftrot hatte sich darin verfangen, kleine rote Adern mäanderten um den Mund. Nina versuchte, ihrer Mutter in die Augen zu schauen.
»Glotz nicht so!«
Sie nahm ihre Kaffeetasse und trank einen Schluck. Ninas Kaffee war inzwischen kalt.
»Wieso sagst du so was?«
Die Mutter betrachtete ihre Ringe an den Händen.
»Mama.«
Das Gesicht der Mutter erstarrte, ihr Blick wurde abweisend, die Mundwinkel verhärteten sich zu einem schmalen Strich.
»Was hast du gesagt?«
Die Mutter schüttelte den Kopf. Nina sah ein junges Mädchen vor sich, in Batikbluse, mit hellen Haaren und klirrenden Armreifen.
Nina waren da die sonntäglichen Kirchgänge der Großmutter eingefallen. Und wie der Großvater, der jetzt vielleicht nicht mehr ihr Großvater war, sie betitelt hatte:
»Eine verlogene Angelegenheit.«
An diesen Sonntagen war der Großvater stets alleine zu Hause geblieben, und die Überwachung der Winkel im Haus hatte nicht stattgefunden. Die Herrscherin war mit Nina in der Kirche. Wenn sie zurückkamen, war der Großvater meistens betrunken. Resl setzte sich dann mit dem Großvater an den Plastiktischtuchtisch und trank mit ihm, bis er einschlief. Nachher weinte die Großmutter an diesem Tisch, den Kopf in den Händen. Resl war danebengestanden.
»Er war nicht dein Vater? Wer ist denn dein Vater?«
»Weiß nicht.«
»Wer hat dir das erzählt?«
Die Mutter drehte den Kopf zur Seite, nahm eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Nina war damals auf ihre lange, schmale Mutter zugegangen, hatte sie an den Armen gepackt und sie geschüttelt.
»Mama!«
Ihre Mutter hatte nicht reagiert, sie hatte die Lippen fest aufeinandergepresst. Nina hatte sie abrupt losgelassen, sich abgewandt und war zurück ins Haus gegangen.
Im Haus hatte Frank am Küchentisch gesessen. Er war noch vom Schlaf zerzaust. Seine braunen Haare waren ungekämmt, und selbst sein kurzer Bart stand wirr in seinem Gesicht. Er hatte in der Sonntagszeitung gelesen. Nina erinnerte sich noch an die Schlagzeile: Jörg Haider bei Autounfall gestorben. Auf dem Titelblatt ein zertrümmerter schwarzer Wagen, der sich mehrmals überschlagen hatte. Frank hatte von der Zeitung aufgeschaut und »Na?« gesagt. Es war eine Frage, mehr nicht. Klein und harmlos.
»Was, na?«
»Ja, wie geht es deiner Mutter?«
»Wie soll es ihr schon gehen? So wie immer geht es ihr.«
Ninas Handgelenke brannten, und sie hatte sich heftig gekratzt.
»Hör auf zu kratzen, Nina.«
Nina hatte für einen Augenblick ihre rechte Hand vom linken Handgelenk genommen, doch der Drang zu kratzen war größer, und so kratzte sie weiter, bis die Stelle blutete. Sie zog ihr langärmeliges Oberteil über ihre Handgelenke und ging zum Küchenschrank, nahm die Desinfektionscreme heraus und schmierte sich die Haut ein. Der Schmerz war stechend. Sie schaute auf die offene Stelle. Dann holte sie einen Verband aus dem Schrank und umwickelte umständlich ihr Handgelenk. Die Mutter kam in die Küche, stellte die zwei Kaffeetassen auf den Tisch.
»Hat sie es dir schon erzählt?«
Frank blickte von Nina zur Mutter und wieder zu Nina. Nina hatte sich gewundert. Warum wollte ihre Mutter, dass Frank davon erfuhr?
Langsam wie für ein Protokoll hatte sie diesen Satz geformt.
»Wie?« In Franks Gesichtsausdruck lag etwas Genervtes, eine Mahnung, ihn morgens nicht zu stören, und schon gar nicht mit solchen Geschichten. Er hatte mit hochgezogenen Augenbrauen in Ninas Richtung geblinzelt.
»Das ist doch nur eine deiner Geschichten. Das denkst du dir aus.« Als ob er Fliegen verscheuchen wollte. Nein. Diesmal nicht. Diesmal stimmte es.
Warum war sie so sicher, dass ihre Mutter die Wahrheit gesagt hatte?
Es lag an der Art, wie sie es gesagt hatte. Sie kannte ihn. Diesen Ton, der Träume platzen ließ.
So wie damals.
Als sie mit ihren Großeltern beim Schulleiter saß und erfuhr, warum sie nicht bei der Mutter, sondern bei den Großeltern lebte. Die Großeltern hatten nie über die Mutter geredet, und Nina hatte nie gefragt, nie.
Es war fast so, als gäbe es sie gar nicht. Ihre Mutter.
Eine Mitschülerin aus ihrer Klasse hatte während der Pause einen dummen Spruch gemacht. Sie rief über den ganzen Schulhof: »Du bist genauso narrisch wie doa Mutter!«
Nina hatte dem Mädchen mit aller Wucht gegen das Schienbein getreten. Das hatte Folgen. Sie wurde zum Schuldirektor gebeten.
Nina erinnerte sich noch, wie sie den Schuldirektor angeblickt und den Satz des Mädchens wiederholt hatte.
Es war eine Pause eingetreten, und Nina hatte draußen die Vögel zwitschern gehört. Sie stand dem Schuldirektor gegenüber und realisierte, dass sie etwas nicht wusste, was alle um sie herum wussten.
Der Direktor hatte aus dem Fenster geschaut, genickt und sie dann aus dem Zimmer geschickt mit der Bitte, auf den Wartesesseln vor der Tür Platz zu nehmen. Als sie draußen saß, dachte sie an ihre Mutter. An den Abschied. In der Küche der Großeltern.
Die Mutter hatte ihr Beautycase auf den Esstisch mit der Plastiktischdecke gestellt. Der Fernseher lief, der Großvater schaute den Musikantenstadl, und die Mutter schminkte sich.
Zuerst tupfte sie sich Creme ins Gesicht. Danach: eine Schicht Make-up, Rouge. Wimperntusche und Lippenstift zum Schluss. Nina hatte genau hingeschaut: Ihre Mutter hatte sich in eine Unbekannte verwandelt.
Eine schöne Unbekannte.
Dort vor der Tür des Direktors war auf der weißen Wand das Gesicht der Mutter erschienen. Nina sah, wie sich das Gesicht zu ihr beugte. Sie küsste...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.