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Donnerstag, erste Woche
Als Thomas am Donnerstagmorgen in seine Dienststelle kam, war Carina bereits da. Sie übergab ihm den Bericht, der von den Gerichtsmedizinern abgezeichnet gerade eingetroffen war.
»Thomas, der Obduktionsbericht ist eben gekommen. Der Tote von Sandhamn ist tatsächlich Krister Berggren, genau wie du vermutet hattest. Seine Brieftasche steckte in der Jacke, und man konnte noch lesen, was auf dem Führerschein stand, obwohl er so lange im Wasser gelegen hatte.«
Während Thomas den Bericht durchlas, betrachtete Carina ihn verstohlen. Schon seit ihrem ersten Tag auf dem Polizeirevier hatte sie ihn immer wieder heimlich angesehen. Da war etwas an ihm, das sie anzog, ohne dass sie genau sagen konnte, was es war.
Er hatte blondes Haar, dick wie eine Pferdemähne. Es war sehr kurz geschnitten, und sie ahnte, dass es wohl wuchs, wie es wollte, wenn man es nicht bändigte. Er hatte etwas von einem Naturburschen an sich, man konnte sehen, dass er sich gerne draußen aufhielt. Um seine Augen waren Unmengen kleiner Fältchen vom jahrelangen Blinzeln in der Sonne. Er war durchtrainiert und außerdem sehr groß. Sie selbst war ein ganzes Stück kleiner als Thomas.
Ihm wurde nachgesagt, ein fähiger Polizist zu sein, einfühlsam und gerecht. Ein untadeliger Kollege, mit dem man gern zusammenarbeitete. Seine sympathische Art machte ihn beliebt, obwohl er eine gewisse Distanz zu seinem Umfeld wahrte. Niemand kam so richtig an ihn heran.
Nach allem, was Carina zu Ohren gekommen war, hatte er vor gut einem Jahr seine kleine Tochter verloren. Danach war die Ehe zerbrochen und geschieden worden. Man munkelte, das Mädchen sei den plötzlichen Kindstod gestorben, aber niemand wusste etwas Genaues.
Lange Zeit war er sehr deprimiert gewesen, aber seit Kurzem begannen die Lebensgeister wieder zurückzukehren. Zumindest, wenn man dem Klatsch im Büro glauben durfte.
Carina war im vergangenen Jahr mit niemandem enger zusammen gewesen, hatte nur hin und wieder eine lockere Verabredung gehabt. Mit Typen in ihrem Alter, die sie langweilten. Thomas, der auf die vierzig zuging, war da etwas ganz anderes. Er sah nicht nur gut aus, er war auch ein erwachsener Mann, kein unreifer Junge. Außerdem hatte er etwas an sich, das sie im Innersten berührte, ohne dass sie es näher benennen konnte. Vielleicht war es gerade die Traurigkeit, die unter der Oberfläche lag. Oder die Tatsache, dass er sie kaum zu beachten schien, was ihr Interesse nur noch verstärkte.
Sie wusste, dass sie nicht schlecht aussah, sie war klein und zierlich, und beim Lächeln zeigte sich ein Grübchen in ihrer linken Wange, das die Leute immer zu Kommentaren veranlasste. Normalerweise bekam sie jede Menge Bestätigung vonseiten der Männer, aber Thomas behandelte sie genau wie alle anderen, trotz ihrer kleinen Einladungen.
Carina hatte begonnen, sich um Thomas herum nützlich zu machen. Manchmal brachte sie Croissants oder Zimtschnecken zum Vormittagskaffee mit und bot Thomas davon an. Wenn sie Dienstbesprechung hatten, versuchte sie, sich in Thomas' Nähe zu setzen, und gab sich Mühe, seine Aufmerksamkeit einzufangen. Aber bisher hatte alles nichts genützt.
Jetzt stand sie zögernd in der Türöffnung, während Thomas das Obduktionsprotokoll studierte. Ihr Blick ruhte auf seiner Hand, die den Bericht hielt. Sie fand, dass er sehr sensible Finger hatte, lang und schmal, mit schön gerundetem Nagelbett. Ab und zu fantasierte sie darüber, wie es wohl wäre, wenn diese Finger sie berührten. Vor dem Einschlafen stellte sie sich manchmal vor, wie seine Hände sie am ganzen Körper streichelten. Wie es sich wohl anfühlte, ganz dicht neben ihm zu liegen, Haut an Haut.
Nichts von Carinas Gedanken ahnend, vertiefte Thomas sich in den Bericht. Er war in einer klinisch-kühlen Sprache abgefasst, ohne irgendwelche emotionalen Nuancen, die etwas über den Menschen verraten hätten, der das Objekt dieser Beschreibung war. Kurze, lakonische Sätze fassten nüchtern zusammen, was die Obduktion ergeben hatte.
Tod durch Ertrinken. Wasser in der Lunge. Die Schäden am Körper waren, soweit man beurteilen konnte, ursächlich auf die Verweildauer im Meer zurückzuführen. Mehrere Finger und Zehen fehlten. Kein Nachweis von chemischen Substanzen oder Alkohol im Blut. Das Fischernetz bestand aus denselben Baumwollfasern, aus denen schwedische Fischernetze in aller Regel geknüpft waren. Die Seilschlinge um den Oberkörper war ein gewöhnliches Tau. Es sah aus, als sei etwas an dem Tau befestigt gewesen, das untere Ende war ausgefranst, und Spuren von Eisen zeigten an, dass es in Kontakt mit einem metallischen Gegenstand gewesen war.
Nichts in dem Bericht deutete auf Tod durch Fremdverschulden hin.
Demnach also Selbstmord oder ein Unfall.
Das einzig Merkwürdige war das Seil um den Körper. Thomas dachte eine Weile nach. Wieso trug jemand, der aufgrund eines Unglücks ertrunken war, eine Schlinge um den Oberkörper? Gab es eine Erklärung dafür? Hatte Krister Berggren versucht, sich an einem Seil hochzuziehen, nachdem er ins Wasser gefallen war? Angenommen, er hatte Selbstmord begehen wollen - hatte er vielleicht einen halbherzigen Versuch gemacht, sich zu erhängen, es sich dann anders überlegt und war stattdessen gesprungen? Aber hätte er in dem Fall nicht vorher das Seil abgemacht? Wozu es sich erst um den Körper schlingen? Aber vielleicht war eine solche Frage in der seelischen Verfassung, in der sich ein Selbstmörder unmittelbar vor der Tat befinden musste, völlig irrelevant.
Das mit dem Fischernetz konnte ein Zufall sein. Die Leiche war vielleicht ganz einfach in das ausgeworfene Netz getrieben und hatte sich darin verfangen. Das mit der Seilschlinge war schwieriger nachzuvollziehen. Andererseits hatte Thomas im Laufe der Jahre bei der Polizei die Erfahrung gemacht, dass sich manche Sachen nun mal nicht erklären ließen. Und dass dies nicht unbedingt etwas zu bedeuten hatte.
Wenn das Seil nicht gewesen wäre, hätte der Todesfall ohne Weiteres als Unglück oder Selbstmord abgehakt werden können, aber jetzt war es da und scheuerte in Thomas' Gedanken ungefähr so wie ein kleiner Stein im Schuh.
Er beschloss, zu Krister Berggrens Wohnung zu fahren und sich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie er gelebt hatte. Vielleicht gab es einen Abschiedsbrief oder andere Anhaltspunkte, die Licht in die Sache bringen konnten.
Krister Berggrens Wohnung lag im Außenbezirk von Bandhagen, einem Vorort im Süden Stockholms.
Thomas parkte sein Auto, einen Volvo 945, der bereits acht Jahre auf dem Buckel hatte, am Bürgersteig und sah sich um. Die Häuser in der Gegend waren typische Fünfzigerjahre-Wohnblocks aus gelbem Backstein, vierstöckig und ohne Fahrstuhl. Ein Block reihte sich an den anderen. Am Straßenrand parkten nur wenige Autos. Ein alter Mann mit Schiebermütze schleppte sich mit seinem Rollator mühsam den Bürgersteig entlang.
Thomas öffnete die gläserne Eingangstür und betrat das Treppenhaus. Auf einer Tafel gleich rechts waren die Namen der Mietparteien aufgeführt. Krister Berggrens Wohnung lag im zweiten Stock. Thomas ging rasch die Treppen hinauf. In jeder Etage gab es drei Wohnungstüren aus hellbraunem Holz, das im Laufe der Jahre schäbig geworden war. Die Wände trugen einen undefinierbaren, beigegrauen Anstrich.
Unter dem Schild mit dem Namen K. BERGGREN war ein Zettel befestigt, auf dem mit Bleistift »Keine Werbung« geschrieben stand. Trotzdem hatte jemand versucht, einen dicken Packen Reklameprospekte durch den Briefschlitz zu stopfen.
Als der Mann vom Schlüsseldienst, der schon auf Thomas gewartet hatte, die Tür öffnete, schlug ihnen ein muffiger Geruch entgegen. Eine Mischung aus altem Essensdunst und abgestandener Luft.
Thomas nahm sich als Erstes die Küche vor. Auf der Spüle standen ein paar leere Weinflaschen, daneben lag eine Packung vertrocknetes Brot. Im Spülbecken stapelten sich schmutzige Teller. Er machte den alten Kühlschrank auf, und aus einem geöffneten Milchkarton strömte ihm der Gestank verdorbener Milch entgegen. Verschimmelter Käse und Schinken lagen daneben. Offensichtlich war schon seit Monaten niemand mehr hier gewesen.
Das Wohnzimmer barg keine Überraschungen. Schwarzes Ledersofa und triste Seegrastapete, die auch schon bessere Tage gesehen hatte. Zahllose ringförmige Spuren von Gläsern und Flaschen auf dem Glastisch zeugten von einer Vorliebe für Alkohol und wenig Interesse an Möbelpflege. Vor dem Fenster standen ein paar verdorrte Topfblumen. Zweifellos hatte Krister Berggren lange allein gewohnt, es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, dass eine Frau sein Leben geteilt hatte.
Im Bücherregal standen Videokassetten und DVD-Filme dicht an dicht. Thomas stellte fest, dass ein ganzes Regalfach ausschließlich Clint-Eastwood-Filme enthielt. Von den wenigen Büchern sahen einige so aus, als seien sie vererbt worden, denn sie hatten abgegriffene, altmodische Lederrücken mit goldfarbenem Aufdruck. An einer Zimmerwand hing ein Poster mit Formel-1-Rennwagen am Start.
Auf dem Tisch lag ein Stapel verschiedener Kataloge, darunter eine Motorsport- und eine Fernsehzeitschrift. Eine Reklamebroschüre der Silja Line lag ebenfalls in dem Haufen. Thomas nahm sie zur Hand und studierte sie genauer. Vielleicht war Krister Berggren ganz einfach über Bord einer Finnlandfähre gefallen. Die Fährschiffe aller großen Reedereien kamen jeden Abend gegen neun Uhr an Sandhamns westlicher Landspitze vorbei.
Thomas ging weiter ins Schlafzimmer. Das Bett war gemacht und mit einem Bettüberwurf zugedeckt, aber überall lag Schmutzwäsche herum. Auf dem...
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