Schweitzer Fachinformationen
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Thomas betrat den großen Konferenzraum, in dem sie für gewöhnlich ihre Morgenbesprechung abhielten. Er hatte gerade eben Maria Nielsen nach unten begleitet, und ihr trauriges Flehen klang ihm noch in den Ohren.
Der Alte saß wie üblich am Kopfende des Tisches, neben Karin Ek, der tüchtigen Assistentin. Am gegenüberliegenden Ende trank Erik Blom den letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse. Das feuchte Haar und das immer noch gerötete Gesicht verrieten, dass er direkt aus dem Trainingsraum gekommen war. Sein Handy piepste kurz, und als er die Mitteilung las, schmunzelte er.
Thomas konnte sich gut vorstellen, dass es eine SMS von einer der zahllosen Freundinnen war, die den Weg des lebenslustigen jungen Polizisten kreuzten. Er selbst hatte nie ein solches Leben geführt.
Gerade als der Zeiger auf acht Uhr sprang, ging die Tür auf und Margit kam herein. Sie ging zu Thomas' Seite vom Tisch und schlüpfte auf einen Stuhl.
»Sorry«, murmelte sie in Richtung des Alten. »Stau auf der Skurubron.«
Sie erhielt ein kurzes Nicken als Antwort.
Während die Kollegen die Aufgaben des Tages besprachen, wanderten Thomas' Gedanken zu Maria Nielsen. Er hatte ihr halb versprochen, den Tod ihres Sohnes nicht ad acta zu legen. Nicht, weil er seine Meinung geändert hätte, sondern weil ihre Verzweiflung ihn berührte.
Plötzlich merkte er, dass es still im Raum geworden war.
»Bist du noch bei uns, Thomas?«, fragte der Alte.
Thomas versuchte, sich zusammenzureißen und ein Gesicht zu machen, als sei er ganz bei der Sache. Tatsächlich hatte er keine Ahnung, worüber sie gerade gesprochen hatten.
Wie so oft in der letzten Zeit fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Es war, als wollte sein Gehirn nicht gehorchen. Manchmal ging ihm etwas durch den Kopf, und dann plötzlich dachte er an etwas ganz anderes.
»Natürlich«, sagte er.
»Gut, dann war es das für heute«, sagte der Alte.
»Moment noch«, sagte Thomas.
»Ja?«
Der Alte sah ihn an.
»Marcus Nielsen.«
Thomas' Tonfall war forscher als beabsichtigt.
»Was ist mit ihm?«
»Sollten wir uns seine Todesumstände nicht etwas genauer ansehen?«
Der Alte sah ihn fragend an.
»Er hat sich erhängt«, sagte er.
»Seine Mutter war vorhin bei mir. Sie glaubt nicht daran.«
»Ich habe am Sonntag seine Familie besucht«, sagte Margit. »Keiner von ihnen wollte akzeptieren, dass er Selbstmord begangen hat. Angehörige tun das selten.«
»Ich würde jedenfalls gern noch ein paar Stunden an dem Fall arbeiten«, sagte Thomas.
In Margits Augen sah er etwas aufblitzen, das schwer zu bestimmen war. Mitgefühl, vielleicht. Oder Sorge, dass ihm das alles zu viel wurde?
Er war am Sonntag erst spät am Tatort erschienen, und das passierte ihm nicht zum ersten Mal. Er schlief immer noch schlecht, und manchmal nahm er Schlaftabletten, obwohl er dann am nächsten Tag müde war. Es kam sogar vor, dass er den Wecker nicht hörte und so sehr verschlief, dass er die Morgenbesprechung verpasste.
Aber die Alternative war, dass er kurz nach Mitternacht aufwachte und nicht wieder einschlafen konnte, weil ihm die Gedanken wieder und wieder durch den Kopf gingen, wie ein Film, der kein Ende nehmen wollte. Dann sorgte der Schlafmangel dafür, dass er den ganzen nächsten Tag benommen war.
»Ich dachte, ich suche die Familie auf und spreche noch einmal mit ihnen.«
Er klang unsicher, er hörte es selbst und straffte die Schultern. Mit festerer Stimme sagte er:
»Ich finde, das sind wir dem Jungen schuldig. Er war erst zweiundzwanzig.«
»Meinetwegen«, sagte der Alte. »Aber verschwende nicht zu viel Zeit damit. Wir brauchen dich dringend für andere Sachen, Thomas, jetzt wo du wieder da bist.«
Der Alte packte seine Zettel zusammen und erhob sich. Die Sitzung war beendet.
Familie Nielsen wohnte in einem weißen Backsteinhaus in einem nördlichen Vorort von Stockholm. Die Siedlung war geprägt von lauter gleichartigen Einfamilienhäusern, die dicht an dicht auf ziemlich kleinen Grundstücken standen. Mehrere der Häuser waren umgestaltet oder durch Anbauten erweitert worden, aber man konnte noch sehen, dass sie ursprünglich alle nach dem gleichen Entwurf gebaut worden waren.
Die Haustür wurde von einem halbwüchsigen Jungen geöffnet, der blass und mitgenommen aussah. Das muss David sein, dachte Thomas. Marcus' kleiner Bruder.
Er stellte sich vor und durfte eintreten.
»Mama«, rief der Junge. »Polizei ist hier.«
Auf der Treppe waren Schritte zu hören, dann kam Maria Nielsen in die Diele. Sie sah aus, als hätte sie gerade geweint, ihre Augen waren gerötet. Ihr Haar hatte sie mit einem Gummiband zusammengefasst, aber ein paar Strähnen hatten sich gelöst und fielen ihr ins Gesicht.
»Sie?«, sagte sie verwundert.
Thomas streckte die Hand zum Gruß aus.
»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte er. »Ich habe noch ein paar Fragen. Wenn es Ihnen recht ist, natürlich.«
»Sicher.« Sie strich mit nervöser Geste die Haarsträhnen zurück. »Möchten Sie einen Kaffee?«
Thomas war auf die Frage vorbereitet. Die meisten Leute, die Besuch von der Polizei bekamen, reagierten fast reflexartig damit, Kaffee anzubieten, und manchmal konnte das geradezu therapeutisch wirken.
Er schüttelte den Kopf.
»Vielen Dank, aber das ist nicht nötig. Ich möchte nur etwas mehr über Marcus erfahren.«
Er folgte Mutter und Sohn ins Wohnzimmer, wo sie sich setzten. Der Raum wurde von einem großen Flachbildfernseher dominiert. Eine Xbox auf einem schwarzen Ständer verriet das Interesse der Brüder für Videospiele.
Nun war nur noch ein Bruder übrig.
»Wie lange ist es her, dass Marcus ausgezogen ist?«, begann Thomas.
»Das war letztes Jahr, als er sein Studium aufgenommen hat«, sagte Maria Nielsen. »Aber er hat uns ganz oft besucht, am Samstag war er noch hier, zum Beispiel.«
Sie blickte auf ihre Hände.
»Er hat mir immer seine Schmutzwäsche gebracht.« Ein trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Obwohl ich fand, dass er so etwas selbst machen müsste, habe ich ihm immer wieder dabei geholfen.«
Maria Nielsen hob trotzig das Kinn.
»Da war Marcus genau wie immer. Deshalb ist es ja so unbegreiflich, dass er .« Sie blickte zum Fenster und flüsterte: ». sich am selben Abend erhängt hat.«
David gab einen erstickten Laut von sich, als seine Mutter die verbotenen Worte aussprach.
Thomas versuchte, behutsam vorzugehen.
»Wissen Sie noch, was er gemacht hat, als er zuletzt hier war? Hat er irgendetwas Außergewöhnliches gesagt, was Ihnen aufgefallen ist?«
Sie zog die Schultern hoch. Eine Geste der Resignation, die das Chaos in ihrem Inneren erkennen ließ.
»Er war genau wie immer. Marcus hat in der Küche etwas gegessen, dann ist er nach oben in sein Zimmer gegangen.«
Thomas blickte David an.
»Warst du zu der Zeit zu Hause?«
»Ja, war ich.«
»Ist dir etwas an deinem Bruder aufgefallen?«
Davids Lippen zitterten, als er antwortete.
»Marcus war wie immer. Genau wie meine Mutter gesagt hat.«
»Habt ihr am Samstag etwas Besonderes unternommen?«
»Nein, die meiste Zeit lag er in seinem Zimmer auf dem Bett und hat gesurft.«
Thomas erinnerte sich, dass Marcus' Laptop noch nicht gefunden worden war. Sein Handy auch nicht. Das war seltsam.
»Womit?«
»Seinem Laptop natürlich.«
»In seinem Studentenzimmer haben wir ihn nicht gefunden. Bist du sicher, dass er ihn am Samstag bei sich hatte?«
David machte ein erstauntes Gesicht.
»Marcus hat seinen Laptop überallhin mitgeschleppt. Er war immer in seinem Rucksack. Ohne den ist er nirgendwohin gegangen.«
»Könnte es sein, dass er ihn hier vergessen hat?«, überlegte Thomas laut. »Dass er vielleicht noch in seinem Zimmer ist?«
Er drehte den Kopf in Richtung der Mutter.
»Ich habe ihn nicht gesehen«, sagte Maria Nielsen. »Aber wir können gleich noch mal nachsehen, wenn Sie wollen.«
Sie erhob sich und ging die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Thomas folgte ihr. Sie kamen in einen kleinen Flur; Maria Nielsen öffnete die nächstgelegene Tür und trat einen Schritt beiseite, um Thomas den Vortritt zu lassen.
Marcus' altes Kinderzimmer war nicht groß, kaum mehr als acht Quadratmeter, und enthielt ein Bett, einen Schreibtisch und einen abgewetzten schwarzen Ledersessel. Die Wände waren bedeckt mit verschiedenen Postern, und an einer Wand hing eine alte Pfadfinderflagge.
Thomas ging hin und berührte den verblichenen Stoff.
»Marcus war als Teenager bei den Wasserscouts, er liebte das Meer«, sagte Maria Nielsen. »Er war aktives Mitglied in einem Kanuverein, sie sind oft durch den Stockholmer Schärengarten gepaddelt.«
Thomas drehte sich um.
»Das mache ich auch gern. Ich habe ein Haus auf Harö, nicht weit von Sandhamn, und paddle oft in der Gegend.«
Um Maria Nielsens Mund zuckte es.
»Genau wie Marcus.«
»Wie hat ihm sein Studium gefallen?«, fragte Thomas.
Sie ließ sich auf dem Bett nieder und strich mit der Hand über das weiche Lammfell, das am Fußende lag.
»Marcus hat sich so gefreut, als er angenommen wurde. Er hat die Aufnahmeprüfung mit sehr guten Noten bestanden. Es ist nicht so einfach, einen Platz zu bekommen, viele wollen Psychologie studieren.«
»Warum hat er sich gerade für dieses Fach beworben?«
»Er hat sich schon auf dem Gymnasium dafür interessiert. Einer der Lehrer dort hat seine Lust darauf geweckt. Ist es...
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