Abschied auf Raten
»Muss i' denn zum Städtele hinaus?« Der Posaunenchor Berlin-Wilhelmshagen und Gäste stellen schwierige Fragen.
Es hieße sicherlich, die bekannten kulleräugigen Federviecher nach Athen zu fahren, all die Gefühle und Eindrücke wiederzugeben, mit denen ich am 6. März meinen mobilen 50-Kilo-Haushalt zum Erkneraner Rathaus schiebe. Freude, Angst, Stolz, Unsicherheit und ganze Teller voller Klöße im Hals begleiten mich durch diesen Samstagmorgen. Jan scheint es nicht wesentlich besser zu gehen. Gut, es war uns schon klar, dass wir am Rathaus mit unseren Familien und einigen guten Freunden nicht ganz allein sein würden. Presse, Funk und Fernsehen hatten in letzter Zeit reichlich dafür gesorgt, dass wir schon kleine Helden waren, bevor wir überhaupt einen einzigen Meter gefahren sind. Aber was sich dann in der nächsten Dreiviertelstunde abspielen sollte, erlebt man sicher nicht allzu oft im Leben.
Schätzungsweise 150, uns zum Teil völlig unbekannte Menschen blockieren den Gehweg vor der ehemaligen Bechstein-Villa, und am Straßenrand hat sich irgendjemand mit einem weißen Lieferwagen, Zapfanlage, ein paar Partytischen und Sonnenschirm aufgebaut und lädt zum Freibier. Wie wir später erfahren, handelt es sich bei dem edlen Spender um Jürgen Tripler, dem Wirt »Zur Alten Liebe« aus dem Nachbarort Spreeau. Dieser hatte vor einigen Tagen über die Medien Wind von der Sache bekommen, umgehend bei der Redaktion angerufen und versprochen: »Wenn die beiden das wirklich machen, hau ich ein Fass rein.« Zu alledem spielt auch noch der Posaunenchor. Ne-ben Eltern und Geschwistern wer-de ich »meine« Bläser und das Mu-sizieren wohl am meisten vermissen. Jan meinte ja noch vor ein paar Tagen, dass ein bisschen Rummel vielleicht gar nicht so schlecht wäre, da-mit der Abschied nicht zu rührselig würde. Wenig spä-ter geht sein Wunsch in Erfüllung und wir stecken mitten drin in einem volksfestähnlichen Trubel. Umringt von Dutzenden Händeschüttlern, Schulterklopfern, Fotomachern und Glückwünschern.
Doch nach Feiern ist uns eher weniger zumute. Schließlich heißt es nun endgültig Abschied nehmen. Zwei ältere Damen, die von den Plänen ihrer Söhne bis zum heutigen Tag noch nicht so richtig begeistert sind, warnen alle fünf Minuten: »Passt bloß auf euch auf, Jungs!« Meine Schwester heult wie ein Schlosshund, und auch mir treibt nicht unbedingt nur der kühle Märzwind, der durch die Friedrichstraße weht, das Wasser in die Augen. Den hymnischen Worten Erkneraner Würdenträger kann ich kaum folgen und auch die Bläser klingen mir zunehmend wie die Kapelle auf der Titanic. Hilfe suchend halte ich nach Jan Ausschau. Doch der ist immer noch umringt von einer Abordnung kleiner Kakaotrinker aus dem Friedrichshagener Kindergarten, in dem er noch bis vor kurzem arbeitete. Offensichtlich hat er es wohl auch nicht gerade leicht damit den Zwergen zu erklären, dass Onkel Jan bis auf weiteres beim Fußballspielen fehlen wird.
Als ich dann auch langsam nicht mehr weiß, was ich den Reportern noch Aufregendes ins Mikro stottern soll und eigentlich nur noch weg will, beschließe ich kurzerhand mir mein Rad zu schnappen, den Bike-Computer auf Null zu stellen und rufe: »Prinzi, los, lass uns endlich abhauen; sonst wird das nie was mit der Weltreise!« Auch ihm scheint dieser Vorstoß nicht ungelegen zu kommen und so stehen wir kurz darauf in Startposition. Noch ein Küsschen hier, ein paar Tränchen da und um 10.24 Uhr geht es endlich los.
Nun noch zusätzlich mit jeder Menge Fähnchen, Luftballons, Talismane, Maskottchen, Glückspfennigen und Packtaschen voller guter Wünsche, ausreichend für mindestens zwei derartiger Unternehmungen beladen, kreuzen wir die Hauptstraße und biegen in die gegenüberliegende Einbahnstraße ein. Natürlich entgegen der Fahrtrichtung. Macht aber nichts, denn der Verkehr ist unterdessen sowieso beinahe zum Erliegen gekommen.
Zum Glück sind wir auf den ersten Metern hinaus in die große weite Welt nicht allein. Ein paar Freunde haben sich spontan zu einer Eskorte zusammengefunden. Die ersten klinken sich allerdings schon nach kaum einem Drittel der geplanten Tagesetappe aus. In ein paar Jahren können sie aber immerhin ihren Kindern erzählen, einmal auf einer Weltreise dabei gewesen zu sein. Nur Freund Rainer und Cousin Gerd halten die volle Distanz von 44 Kilometern bis nach Bad Saarow durch. Unterwegs begegnen wir immer wieder Menschen, die uns aus vorbeifahrenden Autos zuwinken. Am Ortseingangsschild des Kurortes scheint ein junger Mann auf die kleine Karawane aus Erkner zu warten. »Hey Jungs, alles Gute und eine schöne Reise!«, ruft er uns quer über die Straße hinweg zu, setzt sich wieder in sein Auto und fährt davon. Seine Identität sollen wir erst sehr viel später erfahren.
In Saarow angekommen, muss zwecks Übernachtung zum Glück nicht gleich das Zelt auf seine Wintertauglichkeit getestet werden. Hier warten bereits Peter, Anke und Josephine mit geheizter Wohnstube auf die Übernachtungsgäste aus dem fernen Erkner. Mein ehemaliger Kollege aus alten VEB Wärmegeräte- und Armaturenwerk »GAMAT«-Tagen und gelegentlicher Radelpartner hatte uns schon vor Monaten eingeladen und meinte, dass man es am ersten Tag mit dem Abenteuer ja nicht unbedingt übertreiben müsse. Seine Freundin hat deshalb ein erstklassiges Abendessen gezaubert und ihrer Tochter müssen wir versprechen, auf dem Rückweg wieder hier vorbeizukommen. Einen gewissen Hauch von Abenteuer gibt es dann am nächsten, dem ersten richtigen Weltreisetag. Am Morgen heißt es aber zunächst wieder Abschied nehmen üben. Da ich dabei aber wieder keine besonders glückliche Miene zu machen scheine, entschließen sich Rainer und Peter spontan noch bis in den Spreewald mitzukommen. »Die beiden werden noch lange genug allein rumradeln müssen«, so ihre mitleidsvollen Worte.
Erst vor wenigen Tagen fragte uns ein Zeitungsreporter, ob uns der Weg nach Süden denn auch durch die Leichardt-Gemeinde Trebatsch führen würde? »Wie jetzt? Leichardt, Trebatsch .?« Auf unsere fragenden Blicke hin wundert sich der Journalist: »Ihr wollt nach Australien und kennt Ludwig Leichardt nicht?« Tatsächlich hatten wir keine Ahnung, dass in diesem Ort am 23.10.1813 einer der bedeutendsten Australienforscher geboren wurde. Was lag also näher, als gleich zu Beginn auf Kultur zu machen und Trebatsch in die Route mit einzubauen. So steuert unser Quartett ohne Umwege das 700-Seelen-Dorf und sein Museum an. Leider vergebens, denn die bekannte Bildungsstätte ist ausgerechnet sonntags geschlossen.
Nicht so die Gaststätte nebenan; und da es ohnehin Mittagszeit ist, beschließen wir, wenn schon nichts für den Geist, wenigstens etwas für den Körper zu tun. Dem Wirt des »Schwielochsee« lässt es sich kaum verheimlichen, dass auch wir gewissermaßen auf dem Weg nach Australien sind. Die Wissenslücke in Sachen Leichardt stößt allerdings auch bei ihm auf pures Unverständnis: »Also doll ist das ja nicht, was ihr über den Ludwig wisst. Dort unten kennt ihn wirklich jedes Kind!« Fast entschuldigend heben wir die Schultern. Es folgt ein Kurzvortrag über dessen Leben und Werk sowie die Einladung: »Wenn ihr tatsächlich schafft, was ihr da vorhabt, und auf dem Rückweg rein zufällig wieder hier durchkommt, dann lad ich euch ein. Nur eine Karte müsst ihr mir von unterwegs unbedingt schreiben!«
In Lübben, am Rande des Spreewaldes, heißt es schließlich auch für den eisernen Rest unserer Eskorte den Rückweg anzutreten. Auf einmal sind wir allein. Nach all dem Trubel ein ungewohntes und beinahe beklemmendes Gefühl. Überdies haben wir uns in der Entfernung etwas verschätzt und absolvieren bei rapide schwindender Kondition den ersten außerplanmäßigen 100-Kilometer-Ritt.
Glücklicherweise müssen wir diese ungewohnten Zustände nur wenige Stunden ertragen, denn für die Nacht wurde wieder luxuriös gebucht. Diesmal bei ADFC-Dachgebern in Finsterwalde. Hierbei handelt es sich aber nicht etwa um den bekannten Sängerverein, einen ortsansässigen Fußballclub oder ein Bauunternehmen, sondern um eine geradezu geniale Einrichtung des Allgemeinen Deutschen Fahrrad Clubs. Jeder, der seinerseits bereit ist Radlern auf Tour eine kostenfreie Unterkunft zu gewähren, kann eine solche bei seinen eigenen Radreisen auch selbst in Anspruch nehmen. Ins Leben gerufen wurde die Initiative von einem meiner größten Vorbilder: Wolfgang Reiche. Ohne ihn wären wir zwei vielleicht nie auf den Gedanken gekommen, dass man mit dem Rad auch weiter als nur zur Arbeit oder an den Balaton fahren kann.
Der sympathische Wahlbremer radelte von 1981 bis 1985 mit seiner Partnerin Gudrun um die Erde. Auf ihrer Australienetappe erfuhren die beiden von der Möglichkeit im Bundesstaat New South Wales auf besagte Weise Unterschlupf zu finden. Zu Hause erzählte er bei seinen Diavorträgen davon und innerhalb von zwei Jahren fanden sich 213 »Urdachgeber«, die er für diese Idee begeisterte. Bald wurde daraus ein flächendeckendes Verzeichnis von heute ca. 4.000 Velojüngern. Es gibt in Deutschland kaum eine bessere Möglichkeit ein kostenloses Dach über Isomatte und Schlafsack zu finden und dazu noch nette und interessante Leute kennen zu lernen. Zu ihnen gehören ganz sicher auch Stefan und Sigrid, bei denen es zum Dach noch Spaghetti und Rotwein gibt. Einfach Klasse, das mit dem Dachgeber.
Eine bewegte Topografie und ein frischer Wind von achtern sind ja normalerweise keine ernstzunehmenden Gegner. Angesichts unseres noch miserablen Trainingszustandes sind die zunehmend hügeligen Landstraßen im südlichen Brandenburg jedoch ein ziemliches Stück Arbeit.
Keine Frage, zum Mittag muss ein üppiges Mahl her! In Hirschberg im Gasthaus »Zum Hirsch« ist selbiges schnell gefunden....