Schweitzer Fachinformationen
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Elke will auf den Markt. Oder will Katja auf den Markt, weil sie denkt, dass Elke auf den Markt will?
Wer hat eigentlich vorgeschlagen, ausgerechnet auf den Markt am Kollwitzplatz zu gehen, wo doch alle erwachsenen Kinder vom Prenzlauer Berg mit ihren Eltern, die übers Wochenende zu Besuch sind, auf den Markt am Kollwitzplatz gehen?
Die Bürgersteige entlang der Wörther Straße sind voll von gut gekleideten, jung gebliebenen Sechzigjährigen, die hinter ihren weniger gut gekleideten, aber kreativen Kindern und Schwiegerkindern herschlendern; wenn sie Glück haben, dürfen sie auch schon einen Kinderwagen schieben oder das Laufrad unterm Arm tragen - Katja vergräbt die Hände in den Hosentaschen und versucht, nicht auf die Ritzen zwischen den Steinplatten zu treten.
Es gibt Schlimmeres, als an einem sonnigen Samstagvormittag das Gleiche zu tun, was alle anderen auch tun, und der Markt am Kollwitzplatz ist wirklich schön, dort gibt es Kürbisse und Biopute und eine Gulaschkanone und Crêpes, dort gibt es sogar einen Stand mit handgemachten Maultaschen, die schmecken wie frisch aus dem Schwabenländle. Und Sonnenblumen, eimerweise Sonnenblumen.
Elke ist begeistert, aber Norbert bleibt neben der Gulaschkanone stehen und will nicht ins Gedränge. Er hat diesen angestrengten Blick, den er immer bekommt bei Menschenansammlungen, und Katja wird unsicher, wessen Laune wichtiger ist für den weiteren Verlauf des Vormittags - Elkes oder Norberts. Zum Glück bleibt Lars bei Norbert zurück und bietet ihm eine Zigarette an, und Norbert nimmt sie, obwohl er normalerweise im Stehen nicht raucht, nur beim Kaffeetrinken, im Sitzen, an einem schattigen Plätzchen im Café.
Gleich.
Sobald Elke alles fürs Abendessen besorgt hat, darf Norbert ins Café, und bis dahin bleibt Lars bei ihm stehen und gibt sich männersolidarisch. Apropos Solidarität - war es nicht Lars' Idee gewesen, mit den Schwiegereltern auf den Markt am Kollwitzplatz zu gehen?
Katja eilt hinter Elke her, die vor dem Blumenstand stehengeblieben ist.
Wunder-, wunderschöne Blumen. Hortensien in allen Schattierungen von Rosa, Weiß und Blau.
»Mensch, die will ich euch schenken, die machen sich bestimmt prächtig auf eurem Balkon.«
Norbert will ins Café. Oder will Katja ins Café, weil sie denkt, dass Norbert ins Café will? Will Norbert nicht eigentlich lieber allein ins Café statt mit Elke und Katja und Lars und zehn Plastikbeuteln mit Biorind und Bohnen und Maultaschen darin, und zwei riesigen Hortensien, die der Bedienung den Durchgang verstellen? Die Bedienung ist keine, wie Norbert sie mag, keine mit Schürzchen und schwarzen Strumpfhosen, sondern eine wie Katja, im T-Shirt und mit fahrigem Blick, weil sie es niemals allen wird recht machen können. Elke rührt begeistert in ihrer Latte macchiato.
»So was fehlt uns halt in Stuttgart.«
Norbert zündet sich eine von seinen teuren, orientalischen Zigaretten an und sortiert seine Beine zwischen den Plastikbeuteln.
Lars sitzt da und schweigt. Katja macht sich Sorgen, denn Elke will reden, Elke will ununterbrochen reden, schließlich fahren sie morgen früh schon wieder los, und bis dahin muss alles beredet sein, muss sich ein umfassendes Gefühl von Verständnis und Einverständnis und intensiver Begegnung hergestellt haben, ein Gefühl, mit dem Elke traurig, aber beseelt wieder nach Hause fahren kann. Mensch, schade, dass es schon wieder vorbei ist. So schön war's bei euch.
Katja hat alles bereitgestellt, was notwendig ist: Markt, Café, Lars - den perfekten Schwiegersohn, der sowohl mit Elke redet als auch mit Norbert schweigt.
Jetzt schweigt er, und Katja fällt ebenfalls nichts mehr ein, was sie sagen könnte. Elke betrachtet die Kinderwagen, schweigt. Noch hält sie sich zurück, aber spätestens heute Abend beim großen Essen, wo traditionsgemäß auch die großen Themen auf den Tisch kommen - zusammen mit dem Rinderfilet und den frischen grünen Bohnen -, wird Elke eine Bemerkung machen. Wird scheinbar unschuldig irgendeine Klassenkameradin von Katja erwähnen, die bereits ihr Zweites kriegt. Norbert wird Mousse au Chocolat beisteuern, und weiß Lars eigentlich, dass es die ausgiebig zu bewundern gilt? Na klar, Lars weiß alles. Lars wird irgendeinen seltsamen, selbstgebrannten Zwetschgenschnaps hervorzaubern und ihn Norbert servieren, Lars wird sich interessiert anhören, wie viel Prozent Kakao die Schokolade haben muss, die Norbert für seine Mousse au Chocolat verwendet: Achtzig Prozent? Na, das ist ja ein Ding.
Apropos, Schokolade. Schokolade müssen sie noch kaufen.
Norbert drückt seine Zigarette aus und sticht skeptisch in die Schwarzwälder Kirschtorte.
»Keine Sorge«, sagt Katja, »die können sie hier.«
»Gehen wir noch bei der Synagoge vorbei?«, fragt Elke. »Ich hab gelesen, da darf man jetzt wieder rein.«
»Ohne mich«, sagt Norbert.
»Synagoge, Papa, keine Kirche.«
»Gotteshaus«, sagt Norbert, »ich hab meine Kippa nicht dabei.«
Er nimmt die rote Papierserviette, in die seine Kuchengabel eingewickelt war, und legt sie sich auf den Kopf.
Lars lacht.
Elke seufzt und sieht zur Seite.
Schon wieder ein Kinderwagen.
Wenn Elke erst den Wagen mit dem Enkelkind darin schieben darf, wird es keine Gesprächspause mehr geben, aber noch ist es nicht so weit, noch muss Katja sich ein anderes Thema einfallen lassen und selbst für Unterhaltung sorgen.
»Habt ihr eigentlich nie das Gefühl«, sagt sie, »dass ihr was falsch gemacht habt mit eurer Erziehung?«
Elke hebt die Augenbrauen. »Nein, wieso?«
»Normale Menschen finden es seltsam, dass die Bewohner dieses Viertels den ganzen Tag nur im Café rumhängen.«
»Ich nicht«, sagt Elke. »Ich find das gut, was ihr tut. Dass Karriere bei euch nicht so wichtig ist.«
»Ist sie aber. Alle im Café tun so, als ob sie wahnsinnig wichtig wären und ganz dringende Projekte verfolgen. Dabei lassen sie sich in Wahrheit nur von ihren Eltern aushalten.«
»Wir halten dich doch gar nicht aus.«
»Ach nein? Und wer hat das Rinderfilet bezahlt und die Hortensien?«
»Lass mir doch den Spaß. Ich hätte so gern so eine Wohnung wie ihr.«
Die Wohnung. Die Wohnung ist Elkes Traum. Drei Zimmer, abgezogene Dielen und Stuck, im Erdgeschoß italienische Feinkost und vom Balkon ein Blick bis hinunter zum Alex. Ab heute nicht mehr, ab heute sind die Hortensien im Weg.
»Wenn ich daran denke, wie wir angefangen haben -«
Elke hatte immer Geschmack, aber nie genug Geld, um ihn auch auszudrücken, Elke ist das Siebte von acht Kindern, und Elke hat kein Abitur - was ihr aber niemand mehr anmerkt.
»Dann ist ja gut«, sagt Katja, »dass wir jetzt euer Leben leben. Wie damals in der Bretagne: Hortensienüberschäumte Gehwege, Café Crème und Croissants. Guten Appetit auch.«
Elke lehnt sich stirnrunzelnd zurück, verschränkt die Arme, freut sich, dass es endlich intensiv wird.
»Wie hättest du es denn gerne?«, fragt sie.
»Keine Ahnung. Ich weiß nicht, was ich selber schön finde.«
»Du übertreibst. Ich hab doch ganz vieles erst von dir gelernt.«
»Und was bitte?«
»Ich hab immer bewundert, wie gut ihr in euch hineinhorchen könnt. Dass ihr euch selbst zum Maßstab nehmt und nicht das, was sich angeblich gehört.«
»Kann schon sein. Bloß blöd, dass das auch eure Idee war - dass es gut sein soll, in sich hineinzuhorchen.«
Norbert hat aufgegessen und sieht mit verdrießlichem Blick vor sich hin.
»Okay«, sagt Katja. »Lasst uns über das Wetter reden. Heiß heute, nicht wahr?«
»Ja, heiß«, sagt Norbert. »Und am Klimawandel sind wir auch schuld.«
Er grinst zu Lars hinüber, der freundlich zurückgrinst.
Elke wartet, was Katja wohl erwidert; Elke kriegt nie genug von solcherlei Gesprächen, und Katja tut ihr den Gefallen und macht weiter.
»Nein nein, ihr seid bestimmt nicht schuld. Ihr habt ja eure Kinder, die wissen, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen. Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Wir sind Kinder einer Erde, die genug für alle hat -«
Norbert hebt abwehrend die Hände. Elke lutscht am Löffel ihrer leergetrunkenen Latte macchiato. »Stimmt«, sagt sie leise. »Das hab ich mir so ja noch nie überlegt.«
Liebe Elke,
stell Dir vor, dass ich unglücklich bin, und Du kannst nichts dafür. Du hast alles richtig gemacht, hast mir alles gegeben, was ich im Leben brauche, ich hab alles, was Du Dir immer gewünscht hast, aber es bedeutet mir nichts. Was ich stattdessen will, weiß ich auch nicht. >Man kann nicht alles haben<, hast Du mich gelehrt, und ich komme immer wieder zurück zu diesem Spruch, dieser Erkenntnis, die durch nichts zu widerlegen ist.
Du hast recht.
Alles, was Du mich gelehrt hast, halte ich für absolut zutreffend, ich bewundere, wie Du Dein Leben meisterst, ich will sein wie Du, ich BIN wie Du, aber ich halte es nicht aus. >Was tun?<, könnte ich Dich fragen, und dann würde eines unserer langen Gespräche folgen, und bestimmt hättest Du wieder recht, Du hast immer recht, ich denke wie Du, ich bin wie Du, und deshalb nützt es auch nichts, Dich zu fragen, was ich tun soll. Denn ich weiß es schon längst, ich bin klug. Ich bin so klug, dass ich kotzen könnte.
Katja steht hinter den Hortensien und sieht dem Auto nach, mit dem Elke und Norbert davon fahren.
»Magst du noch einen Kaffee?«, fragt Lars aus der Küche.
Katja geht hinein und betrachtet Lars, dessen Haare über...
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