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Die Nebel wollten sich nicht lichten. Sie umhüllten ihn und gaben ihr Geheimnis nicht preis. Er hörte die Stimmen der Geister, wie sie flüsterten und wisperten. Es kicherte und gluckste um ihn herum, als hätte er zu ihrer Erheiterung beigetragen. Wenn sie in seine Nähe kamen, spürte er ihre schweren Tritte. Sie ließen den Boden unter ihm erzittern und schwanken, die Bohlen knarren und knacken, während die Geisterfinger tief in seinen Kopf eindrangen und sein Hirn marterten.
»Er kommt zu sich«, verkündete eines jener seltsamen Wesen, und aus den Nebeln löste sich plötzlich ein schwammiges rotes Gesicht, dessen Kinn von einem gestutzten weißen Bart eingefangen wurde. Schütteres Haar fiel in die hohe Stirn. Das Gesicht schwebte und drehte sich im Nebeldunst, losgelöst vom Körper, den er zu riechen vermochte. Es war ein unangenehmer Geruch, der gleichwohl Erinnerungen in ihm wachrief. »Der Herr meint es gnädig mit ihm.«
Das war kein Geist! Er schloss die Augen, um einige Male tief durchzuatmen, und öffnete sie wieder, als seine Hände festes Holz ertasteten. Das Gesicht war verschwunden, aber die Stimmen drangen nun deutlicher zu ihm. Seltsam vertraut kamen sie ihm vor. Er weitete die Augen und versuchte, das wallende Etwas um sich herum mit seinen Blicken zu durchdringen. Als es ihm nicht gelang, legte er die Hände an das Gesicht, und dabei bemerkte er, dass die Augen noch geschlossen waren. Es passte nicht zusammen. Er war sicher, dass er die Augen geöffnet hatte, doch seine Hände bedeuteten ihm etwas anderes. Stöhnend hob er die Lider, und die Nebel lichteten sich.
Das breite schwammige Gesicht lauerte, halb verborgen, hinter einem Bierkrug. Durchdringend blickten ihn die wässrigen Augen an, sezierten ihn geradezu. Daneben ein anderes Gesicht. Kühl, beherrscht, wie aus Stein gehauen. Schlohweißes Haar und ein ebensolcher Oberlippenbart unterstrichen die Blässe, die blauen, kalten Augen schienen in einem tiefen Brunnen zu versinken, nur schwach beleuchtet vom flackernden Licht zweier dicker Kerzen und vom Kaminfeuer im Hintergrund.
Erschöpft, aber getragen von einem unwirklichen Gefühl der Leichtigkeit und des Schwindels ließ Hinrik die Augen zufallen, um sie erst nach geraumer Zeit wieder zu öffnen. Die Nebel verschwanden, die bohrenden Schmerzen in seinem Schädel blieben. Er spürte seinen Magen, der sich zu drehen und zu winden schien. Allmählich begriff er, mit wem er es zu tun hatte.
Das schwammige Gesicht gehörte Bruder Albrecht, der demselben Schoß entstammte wie der neben ihm sitzende Ratsherr und Handelskaufmann Wilham von Cronen. Nicht weit davon Graf Gerhard Pflupfennig, dem das Alter den Rücken krümmte, und Hans Barg, Arzt und Apotheker aus Itzehoe, der sich eigenartig grinsend im Hintergrund hielt. Er war ein Mann, der nur die heitere Seite des Lebens zu kennen schien.
Bier tropfte von der Tischplatte auf seine Hosen herab. Ein Krug war umgestürzt, und es hatte sich eine Lache gebildet. Spielkarten schwammen darin. Niemand hielt es für nötig, sie aufzunehmen und zu trocknen. Bruder Albrecht trank nervös aus einem Krug, der so schwer war, dass er ihn mit beiden Händen halten musste. Dann rülpste er kräftig, drehte das Hinterteil zur Seite und entlastete sich mit einem gewaltigen Furz.
Hinrik richtete sich ächzend auf. Vergeblich fragte er sich, warum es ihm so schlecht ging. Sein Magen gab keine Ruhe, und sein Kopf schien platzen zu wollen. Während sich sein Blick mehr und mehr klärte, wurde ihm immerhin bewusst, dass er es mit wirklichen Menschen zu tun hatte. Es gab keine Nebel, sondern nur verklebte Augen, die nun allmählich frei wurden.
»Was ist los?«, fragte er mühsam.
»Das solltet Ihr uns beantworten«, erwiderte Bruder Albrecht und nahm noch einen kräftigen Schluck Bier aus dem Krug. »Ihr seid plötzlich umgekippt. Wir haben Euch für trinkfest gehalten. Was für ein Irrtum! Ihr könnt nicht mithalten in einer Männerrunde.«
Hinrik brauchte einige Zeit, bis er das Gehörte begriff. Sein Zustand sollte darauf zurückzuführen sein, dass er zu viel getrunken hatte. Das konnte nicht sein! Noch nie in seinem Leben hatte er zu viel getrunken. Er hatte sich immer beherrscht, wenn es um Bier und Wein ging.
Nach und nach kam die Erinnerung zurück. Er war zum Hof des Grafen gegangen, weil es Differenzen gegeben hatte wegen des Viehs. Der Graf und er hatten sich schnell geeinigt. Er hatte einen Pfennig gezahlt - mehr eine symbolische Geste als ein Schadenersatz -, und damit war die Sache aus der Welt. Danach hatte er Bier aus einem Krug getrunken. An mehr konnte er sich nicht erinnern, aber er wusste genau, dass er mit dem Grafen allein gewesen war. Die anderen mussten später hinzugekommen sein.
Auf dem Tisch lag ein Schriftstück. Der Graf nahm es mit spitzen Fingern auf, bevor es gänzlich vom Bier durchnässt war, und hielt es hoch, so dass Hinrik es sehen konnte. Die Brauen mit ihren langen weißen Haaren verdeckten einen Teil der Augen wie schlaff herabhängende, vom Alter zerzauste Gardinen.
Hinrik fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Was ist das?«
Wilham von Cronen, der Ratsherr, erhob sich und trat um den Tisch. Er nahm dem Grafen das Blatt ab und hielt es Hinrik vors Gesicht. Feiner Schweiß stand auf der wuchtigen Stirn. Er kaute einige Sekunden lang auf den Barthaaren, die ihm in den Mund hingen, bevor er kalt, beinahe verächtlich sagte: »Das könnt Ihr unmöglich vergessen haben. So betrunken wart Ihr nicht. Ihr habt unterzeichnet und das Datum hinzugeschrieben. 2. April 1396.«
In der Tat. Unter dem Schriftstück stand in fein geschnörkelten und sauber gezirkelten Buchstaben sein Name.
Hinrik vom Diek, Ritter zu Heiligenstätten.
Es war genau die ein wenig umständliche Art, in der er zu unterzeichnen pflegte. Er war stolz darauf, lesen und schreiben zu können. Während seiner Jahre im Kloster in der nahegelegenen Stadt Itzehoe hatten ihm die Mönche Unterricht erteilt. Doch das war nicht seine Schrift. Sie sah ihr ähnlich, aber sie war es nicht. Es gab zu viele Abweichungen.
»Ihr wolltet unbedingt mit uns Karten spielen. Und dabei habt Ihr alles eingesetzt, was Ihr besitzt. Euren Hof, Euer Vieh, Eure Ländereien - einfach alles.«
»Und Ihr habt alles verloren«, fügte der Geistliche hinzu. Über sein rotes schwammiges Gesicht zog sich ein Lächeln, das er als geradezu diabolisch empfand. Er mochte Bruder Albrecht nicht. Hatte ihn nie gemocht, weil er scheinheilig und devot die Botschaft der Liebe aus den Klostermauern heraustrug zu den Menschen in der Stadt und auf dem Land, sich bei ihnen beliebt machte und ihnen das Bild eines zutiefst demütigen Gottesgläubigen zu vermitteln wusste, während er verborgen hinter den Mauern von hemmungsloser Begierde getrieben Kinderseelen zerstörte. »Ich habe gewonnen. Nein, nicht ich. Die Kirche unseres Allmächtigen. Was Ihr besessen und aufgebaut habt, gehört jetzt ihr. Zum Wohle der Gemeinde und zur Ehre unseres Herrn.«
»Nein!« Hinrik wuchtete sich mühsam hoch, sank jedoch sogleich wieder auf den Stuhl zurück. Seine Schädeldecke schien sich vom Kopf abzulösen. Die Schmerzen waren so groß, dass sich sein Blick trübte und der Schwindel ihn schier zu Boden warf. »Niemals würde ich mein gesamtes Hab und Gut aufs Spiel setzen. Niemals. Die Unterschrift ist nicht von mir. Sie ist gefälscht worden. Eindeutig.«
Das Lächeln in dem roten Gesicht erlosch, und die weichen Lippen wurden schmal und hart. »Wollt Ihr mich, einen Mann unserer heiligen Kirche, der Lüge bezichtigen? Ihr, ausgerechnet Ihr, der bei uns gelernt hat, das Wort Gottes zu lesen und zu schreiben? Wer das Wort verachtet, der verdirbt sich selbst. Wer aber das Gebot fürchtet, dem wird's vergolten werden.«
Hinrik richtete sich auf. Die vier Männer standen um ihn herum. Ratsherr Wilham von Cronen aus der Stadt Hamburg, kalt, abschätzend, arrogant und unnahbar, der Arzt Hans Barg, klein, unscheinbar und wie so oft mit einem Grinsen im Gesicht, hinter dem sich möglicherweise Unsicherheit verbarg, Graf Gerhard Pflupfennig, in einen Pelz gehüllt, obwohl es wahrlich nicht kalt im Haus war und das Feuer im Kamin genügend Wärme verbreitete. Er litt unter der Gicht und schien ständig zu frieren. Und Albrecht, der Bruder des Grafen, groß, aufgedunsen vom Alkohol und übergewichtig von allzu fettem und reichlichem Essen, gezeichnet von seinen Lüsten und Begierden, die so gar nicht zu den frommen Sprüchen passen wollten, die er ständig auf den Lippen trug.
»Es geht nicht nur um mich«, entgegnete Hinrik, während er sich flüchtig...
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