Schweitzer Fachinformationen
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Bruce Chatwin
Ich bitte dich, leg meinen linken Jungen über den rechten.
Der andere tat es behutsam.
Ich muß wieder auf Reisen gehen. Reisen, gehen, gehen, verstehst du?
Ich werde mit dir gehen.
Aber mein Rucksack ist so schwer.
Ich werde ihn dir tragen.
Er lag in einem dunklen Zimmer zu ebener Erde, er nannte es sein „Mönchszimmer“. Draußen kreiste keine van Gogh’sche Sonne um ihre Himmel, es war kühl, denn es war Januar.
Ich werde nie wieder gehen.
Ich weiß.
Werner, ich sterbe.
Ja, das weiß ich.
Bruce Chatwin konnte sich nicht mehr bewegen. Sein Gesicht war ein kleines Dreieck des Schmerzes. Er hatte Aids und einen seltenen Pilz, der das Knochenmark zerstörte und weiter den ganzen Körper. „Seine Jungen“ nannte er seine Beine, sie waren lahm, und er wußte, daß es sein Ende war. Daß er nie wieder gehen konnte in den braunen, hohen Wanderstiefeln, die ihn Tausende Kilometer durch Afrika getragen hatten, durch Afghanistan, Indien und Yunnan, durch Sibirien, Patagonien und die Wüsten Australiens. Auf der Suche nach dem immer Neuen, den Ursprüngen, dem Geheimnis des Lebens. Nach den Songlines seiner selbst.
Er lag in seinem Zimmer in Seillans bei Nizza, im Haus einer Freundin, der Mutter seiner letzten großen Leidenschaft, des 22jährigen Jasper Conran, der sich weigerte, ihn zu besuchen. Lag da und träumte von Aufbruch. Er hatte Werner Herzog, den Regisseur, der auch seinen Roman Der Vizekönig von Ouidah verfilmte und mit dem ihn die Passion für das Gehen und die Nomaden verband, herbeigerufen. Er traute ihm Heilkräfte zu. Hoffnungssplitter schwindender Sinne. Chatwins Frau Elisabeth, spät im Elend wiedergefunden, nahm den Sterbenden in ihre Arme, wiegte ihn aus der Zeit.
Chatwin starb am 18. Januar 1989. Zwei Tage später wurde er in Nizza eingeäschert, zwei Wochen darauf fand in der Kathedrale Saint Sophia in Bayswater ein griechisch-orthodoxer Gedenkgottesdienst statt. Salman Rushdie, Freund und Reisegefährte in Australien, war dabei. Als Rushdie die Kirche verließ, wurde ihm von einer amerikanischen Journalistin berichtet, daß Ayatollah Khomeini ihn auf die Todesliste gesetzt hatte.
Ein Rußkörnchen dreht sich in der Mittelvertiefung eines schwarzverschmierten Plastiktisches. Dreht sich langsam im Rhythmus der schaukelnden Bewegung des Schiffes, die kaum spürbar, aber in diesem Kreisen sichtbar wird. Wir sind auf einer Fähre der Minoan Lines, auf dem Weg nach Patras an der griechischen Westküste. Venedig liegt hinter uns. W. und ich sind im Heck des Schiffes gesessen, es war früher Abend. Mestre stand im Orange, kerzengerade Rauchfähnchen als Muster darin gezeichnet. Im Gleiten durch den Guidecca-Kanal öffnete sich Venedig wie das Schauspiel fernen Glücks, Palazzo um Palazzo zog vorüber, Campanile um Campanile, alles klein unter uns, die Menschen winzig, Glockengeläut von irgendwo, dann die Pfähle der Schiffahrtswege, der Lido, das schwindende Land, der schwindende Tag. Nachtlichter der Inseln und der Küste, Blinken der ersten Sterne.
Ich beobachte das Rußkörnchen und lese Bruce Chatwin. Wir haben viel Zeit. Zwei Nächte und einen Tag. Das Wummern der Maschinen dröhnt leise im Kopf. Hämmert die Stunden ins Gleiche. Diese Gegensätzlichkeit der Bücher! In Patagonien, Der Vizekönig von Ouidah und Auf dem schwarzen Berg, Traumpfade und Utz und die Sammlungen der Geschichten, Reportagen und Reiseskizzen. Ich arbeite mich durch Nicholas Shakespeares monumentale Biographie. Die verwirrenden Szenen dieses abenteuerlichen, glamourösen wie tragischen Lebens versinken im fast geräuschlosen Schäumen der Bugwellen.
Dieses Leben. Mit knapp über zwanzig bereits Leiter der Impressionisten-Abteilung bei Sotheby’s in London. Mann mit dem besonderen, dem unfehlbaren Auge. Mit fünfundzwanzig bereits Direktor und als einer der Chairmen im Gespräch. Kündigt, weil er zu erblinden glaubt und ihm die Kunst zuwider wird. Geht nach Edinburgh, um Archäologie zu studieren. Bricht ab, bricht auf in die Welt. Beginnt zu schreiben, zunächst für die Sunday Times. Wird später mit In Patagonien zum Kult- und mit den Traumpfaden zum Bestsellerautor. Eine ganze Generation von jungen Menschen pilgert mit den zerfledderten Exemplaren der beiden Bücher in die unwirtlichen Landschaften Südargentiniens, macht sich auf die Suche nach den Aborigines in Australien. Chatwins Lebensstil wird zum Idol, rastlos wie die Zeit. Lebenshungrig, wißbegierig, extrem. Egomanisch und vorurteilsfrei, ein perfekter Selbstinszenator. Nimbus des Ewig-Jungen.
Bruce Chatwin starb mit 48 Jahren. Seine Asche wurde seinem Wunsch gemäß beim Kirchlein von Chora, das dem Aghios Nikolaos geweiht ist, in der Erde vergraben. Es liegt in der Äußeren Mani auf dem Peloponnes, in den Berghängen über Kardamyli. Wir sind unterwegs dorthin. Ein Land, das wir lieben seit Jahren.
In der Antike verglich man den Peloponnes mit einem fünfspitzigen Ahornblatt. Heute ist das Bild einer Hand vertraut, deren mittlerer Finger die Mani genannt wird. Die Äußere beginnt südöstlich von Kalamata, ist berühmt für ihre Oliven, deren Geschmack durch Sonne, Stein und die Kargheit des Bodens geprägt ist. Südlich von Areopolis, dem Städtchen, das den Kriegsgott Ares im Namen trägt, liegt die Innere Mani. Steiniges Land, dunkle Menschen, Wohntürme in aufragenden Dörfern, zur Fehde und Blutrache gebaut. Felsenbuchten, blaues Meer und im Frühling die Blütenteppiche des Cap Matapan, das Odysseus den Weg wies und später den Römern, Kreuzrittern, Händlern, Seeräubern und Invasoren aller Jahrhunderte.
In der Mitte der Halbinsel beherrscht der langgezogene, bis zu 2400 Meter hohe Gebirgsstock des Taygetos das Land, trennt es in Ost und West und schneidet es von Sparta und den fruchtbaren Ebenen Lakoniens ab. Jahrtausendealte Übergänge verbanden Spartas Reich mit dem Messenischen Golf, mühsame Wege über kantigen Fels und endloses Geröll, im unteren Teil der Strecke oft den tief eingeschnittenen Schluchten folgend. Eine davon mündet in Kardamyli.
Kardamyli war mein erstes Griechenland, das mir W. schenkte.
Mittagshitze, gleißendes Meer. Schwimmen in der Felsbucht der Nymphen. Wenn ich die Augen schließe, bilden sich kleine Regenbogen unter den Lidern. Zypressen rahmen die Bucht, Seeschwalben nisten in den ockerfarbenen Abbrüchen. Türkis und himmelblau laufen die Wellen an die Ufer.
Eine eiserne Wendeltreppe führt von der Bucht auf ein halbkreisförmiges Plateau. Nur vom Meer oder von der Küstenstraße ist die Villa zu sehen, die hier steht. Geht man an den Grenzen ihres Parks entlang, ist sie hinter einer hohen Mauer verborgen. Hier lebt Patrick Leigh Fermor, über neunzig und einer der gebildetsten Reiseschriftsteller Englands. Als junger Soldat war er auf Kreta stationiert gewesen, hatte engen Kontakt zu den Partisanen und wurde berühmt durch die Entführung des nationalsozialistischen Befehlshabers Heinrich Kreipe. Fermor blieb in Griechenland und wurde zum großen Apologeten der Mani.
Für Bruce Chatwin war er Anreger, Gesprächspartner und Vaterfigur, der dem Getriebenen immer wieder Asyl gab. Im Haus der Fermors und im nahen Hotel Kalamitsi entstand der Großteil von Chatwins berühmtestem Buch, den Songlines. Sie wurden zum Testament dieses horizontsüchtigen Suchers, der ein Leben lang dem nomadisierenden Hang des Menschen nachging, so auch im
… Labyrinth unsichtbarer Wege, die sich durch ganz Australien schlängeln und die Europäern als „Traumpfade“ oder „Songlines“ und den Aborigines als „Fußspuren der Ahnen“ oder „Wege des Gesetzes“ bekannt sind. Schöpfungsmythen der Aborigines berichten von den legendären totemistischen Wesen, die einst in der Traumzeit über den Kontinent wanderten und singend alles benannten, was ihre Wege kreuzte – Vögel, Tiere, Pflanzen, Felsen, Wasserlöcher –, und so die Welt ins Dasein sangen.1
Die Niederschrift der Traumpfade, die 1987 erschienen, war im letzten Drittel ein Wettlauf mit der Zeit. Die Krankheit verschlimmerte sich und wurde schließlich, damals noch ohne große Erfahrungswerte, als HIV positiv diagnostiziert. Niemand in Chatwins Umgebung durfte das Wort „Aids“ aussprechen. Er flüchtete sich in die Zusatzdiagnose des rätselhaften Penicillium marneffei, eines Pilzes, der nur an einem gestrandeten Wal, im Höhlenkot von Fledermäusen und bei sieben oder acht Bauern aus Yunnan festgestellt worden war: alles Ansteckungsmöglichkeiten für den Globetrotter. Das Exotische daran war ihm recht, lenkte von der Grausamkeit der Fakten und der Tabuisierung der Homosexualität im puritanischen England ab.
Von Chatwins Zeit in Kardamyli gibt es...
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