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Georg Steins
Der lange Reigen der Lesungen legt aus, welcher Gott so Großes an Jesus Christus getan hat. Nur wer die Bibel von Anfang an abschreitet, kann Gottes österliches Handeln erfassen. Man muss auf der ersten Seite der Bibel beginnen und sich Lesung um Lesung immer wieder an den Gott erinnern, der rettet und neu schafft - bis hin zur Lesung aus dem Römerbrief ("Wandelt in der Wirklichkeit des neuen Lebens!", vgl. Röm 6,4) und den Ostergeschichten der Evangelien.
Warum sind es gerade diese Texte, die für die Osternacht ausgewählt wurden? Eigneten sich nicht auch andere "große" Texte des Alten Testaments für diesen Gottesdienst? Müssen gerade Texte vorgetragen werden, die für immer mehr Mitfeiernde aufgrund ihrer unverstellten Gewaltdimension problematisch sind - so vor allem die Erzählungen von der Opferung Isaaks (Gen 22) und von der Rettung Israels am Meer (Ex 14)?
Welchem Prinzip folgt die Auswahl? Warum wurden bei der Liturgiereform 1970 gerade diese Bibeltexte ausgesucht? In älteren Ordnungen kam noch die Sintflutgeschichte vor, ebenso das Jonabuch mit seinem Motiv des dreitägigen Aufenthalts im Bauch des Fisches, also der Unterwelt. Als die neue Leseordnung vor nun schon 50 Jahren eingeführt wurde, hat man versäumt, die Logik der Auswahl zu verdeutlichen. Wer sich auf die Suche nach dieser Logik begibt, kann Erstaunliches entdecken - und Ostern besser verstehen.
Die Abfolge der sieben Lesungen (Gen 1 - Gen 22 - Ex 14 - vier prophetische Verheißungen aus Jesaja, Baruch und Ezechiel) lehnt sich an eine sehr alte jüdische Interpretation der Pessachfeier an. Das Alter dieser Tradition ist nicht genau zu bestimmen; sie reicht möglicherweise bis in vorchristliche Zeiten zurück.
Diese Pessach-Interpretation ist aufbewahrt in einem Text, der um 1960 in Rom herausgegeben wurde und offensichtlich seinerzeit die Liturgiereformer inspiriert hat. Es handelt sich um den sogenannten Codex Neofiti. In einer aramäischen Wiedergabe von Ex 12, der Pessacherzählung (die in der christlichen Liturgie am Gründonnerstag gelesen wird), findet der Vers 42 besondere Aufmerksamkeit.
In der Einheitsübersetzung lautet der Vers:
"Eine Nacht des Wachens war es für den HERRN,
als er sie aus dem Land Ägypten herausführte.
Als eine Nacht des Wachens für den HERRN
gilt sie den Israeliten in allen Generationen."
Die übliche Übersetzung "Nacht des Wachens" ist zu eng und lässt nur an den nächtlichen Aufbruch und die Flucht der Israeliten denken. Es geht aber um mehr: um Gottes Achtsamkeit für die Israeliten, die sich in der Bewahrung durch einen wachen, einen gewärtigen Gott auswirkt. Daran sollen sich die Israeliten in der Feier des Pessach Jahr für Jahr erinnern; das ist geradezu ein religiöses Pflichtprogramm. Diese erstaunliche Fülle an Bedeutungen und Nuancierungen (hier durch die Kursivierungen angezeigt) steckt in dem hebräischen Wort für "Wache". Eine so stark mit Bedeutung aufgeladene Bibelstelle musste geradezu die Interpretationskünste der jüdischen Ausleger auf den Plan rufen.
Zu Vers 42 trägt der erwähnte aramäische Codex eine ausführliche und theologisch ausgreifende Interpretation vor, die in voller Länge zitiert zu werden verdient:
"Eine Nacht der Wache" (Ex 12,42): Bestimmt ist sie zur Auslösung durch den Namen des Herrn zur Zeit des Auszugs der Kinder Israels, die ausgelöst wurden aus dem Land Ägypten. Allein vier Nächte sind es, die aufgeschrieben sind im Buch der Erinnerungen.
Uranfängliche Nacht, als der Herr sich offenbarte über die Welt, indem er sie schuf. Es war die Welt tohu wabohu und Finsternis ausgebreitet über der Oberfläche der Tiefe. Und sein - des Herrn - Wort, und es war Licht, und es war hell. Und er nannte sie uranfängliche Nacht (vgl. Gen 1,1-3.5).
Zweite Nacht, als sich Gott über Abraham offenbarte, als er hundert, seine Frau, als sie neunzig Jahre alt war, damit aufgerichtet werde, was die Schrift sagt: Siehe, Abraham war hundert Jahre alt, als er zeugte, und Sara, seine Frau, war neunzig, als sie gebar (vgl. Gen 17,17; 21,5). Und Isaak war 37 Jahre alt, als er geopfert wurde auf dem Altar (vgl. Gen 22,1-9; 23,1). Die Himmel erniedrigten sich und stiegen herab, und es sah Isaak ihre Vollendung, und es wurden trübe seine Augen wegen ihrer Vollendungen. Und er nannte sie zweite Nacht.
Dritte Nacht, als sich der Herr offenbarte über den Ägyptern in der Mitte der Nacht; es war seine Hand tötend ihre - der Ägypter - Erstgeborenen, und seine Rechte war ein Schild über den Erstgeborenen Israels (vgl. Ex 12,12-13), damit aufgerichtet werde, was die Schrift sagt: Mein erstgeborener Sohn ist Israel (vgl. Ex 4,22). Und er nannte sie dritte Nacht.
Vierte Nacht, wenn er die Welt - ihr Ende - vollenden wird; damit ausgelöst werde, werden die Joche aus Eisen zerbrochen werden, und das Geschlecht der Frevler, sie werden vertilgt werden. Und Mose wird aufsteigen aus dem Inneren der Wüste und der König, der Messias, aus dem Inneren der Höhe/des Himmels (vgl. Dan 7,13). So führt dieser an der Spitze der Herde, und jener führt an der Spitze der Herde, und SEIN Wort ist führend zwischen ihnen beiden, und ich und sie sind führend zusammen.
Dies ist die Nacht des Pascha für den Namen des Herrn, "eine Nacht des Wachens", und bestimmt ist sie zur Auslösung Israels "für alle Generationen" (Ex 12,42).
(Übersetzung aus: R. Meßner, Einführung in die Liturgiewissenschaft, UTB 2173, Paderborn 2001, 301)
Die Pessachnacht wird in diesem "Gedicht der vier Nächte" im Zusammenhang mit anderen Nächten gesehen, in denen Gott seinem Volk hilfreich nahekommt. Israels Rettung aus Ägypten ist in dieser Sicht kein isoliertes Ereignis, vielmehr zeigt Gott hier einmal mehr, wer er ist und sein will: der Retter. In dieser einen Tat Gottes sind das vergangene wie das künftige Tun Gottes gegenwärtig. Das Gedicht rückt die Rettung aus Ägypten in den weiten Horizont von Schöpfung und Vollendung: Die erste heilige Nacht ist die der Schöpfung (Gen 1), die zweite ist die der Erfüllung der Abrahamverheißung (Gen 15; 17; 22); in der dritten Nacht wird Israel befreit (Ex 12-15), die vierte Nacht ist die der Vollendung der Welt im Kommen des Messias, wie sie in den Schriften der Propheten bedacht wird.
Eine Gegenüberstellung der vier heiligen Nächte und der Osternachtlesungen zeigt die genauen Entsprechungen:
"Gedicht der vier Nächte": Jüdische Auslegung zu Ex 12,42 als Deutung des Pessachfestes
Die sieben alttestamentlichen Lesungen der katholischen Osternachtfeier
1. Nacht: Schöpfung
1. Lesung: Gen 1: Schöpfung
2. Nacht: Gottes Bund mit Abraham und Bewährung des Bundes
2. Lesung: Gen 22: Abrahams Opfer
3. Nacht: Rettung aus Ägypten
3. Lesung: Ex 14: Rettung Israels am Meer
4. Nacht: Kommen des Messias und Vollendung der Welt
4. bis 7. Lesung: Jes 54: Gottes Treue Jes 55: Gottes Bund Bar 3-4: Gottes Lebensweisung Ez 36: Neuschöpfung des Gottesvolkes
Das also ist der bibeltheologische und liturgische Rahmen der Osterbotschaft, der von den sieben alttestamentlichen Lesungen der Osternacht aufgespannt wird - ein Rahmen, der umfassender nicht gedacht werden könnte.
Die Leseordnung der Osternachtfeier ist alles andere als eine zufällige Auswahl großer Bibeltexte. Sie enthält ein umfassendes Programm der Rettung der Menschheit aus Sünde und Tod durch Gott, der von Anfang an nur das eine will: die Freiheit und das Leben.
Dazu bietet die Liturgie gewissermaßen die ganze Bibel auf, sie holt Sinnschichten von Ostern hervor, die überhaupt erst den Glanz und die Größe dieses Ereignisses erahnen lassen: die Schöpfung ebenso wie die Neuschöpfung und Vollendung; den Aufbau einer Gemeinschaft, die diese Rettung erfahren hat...
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