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1945. Als die Russen vor den Toren Breslaus stehen, flieht die junge Ruth mit ihrer Familie nach Freiburg - mit falschen Pässen, um ihre jüdische Herkunft zu verheimlichen. Ihre große Liebe Ilan muss Ruth schweren Herzens zurücklassen. Vier Jahre später heiratet Ruth in eine bekannte Freiburger Juwelierfamilie ein. Dort begegnet man ihr abweisend und kühl, die Ehe ist unglücklich. Doch Ruth behauptet sich. Sie entdeckt ihr Talent für die Goldschmiedekunst, ihre originellen Entwürfe sind in der Freiburger Gesellschaft heißbegehrt. Als bekannt wird, dass das Geschäft durch arisierten Besitz erworben wurde, muss Ruth sich entscheiden. Setzt sie alles aufs Spiel, was sie sich hart erkämpft hat?
Es gab Tage, von denen erwartete Ruth nichts, keine Heiterkeit, keine freundliche Geste, doch jener 11. Januar war an Tristesse nicht zu überbieten. Allem Vorangegangenen wusste er in seinem Verlauf noch eine Schippe Gräuliches hinzuzufügen.
Bereits in der Früh war der Wecker nicht angesprungen, sodass Ruth viel zu spät aufgestanden war. Mit nackten Füßen und noch traumtrunken war sie in Windeseile über das kalte Parkett ins Badezimmer geeilt. Eine schnelle Katzenwäsche hatte reichen müssen. Für den beinahe pelzig sich auf der Zunge ausbreitenden, aber immerhin wärmenden Muckefuck und die ungebutterte dünne Scheibe Brot, die Mutter ihr hergerichtet hatte, war keine Zeit mehr geblieben. Auch der Arbeitstag, den Ruth seit geraumer Zeit in der Munitionsfabrik zubringen musste, hatte keinen noch so kleinen Lichtblick für sie bereitgehalten. Fräulein Gerda, die immer gern unterhaltsame Anekdoten aus besseren Tagen zum Besten gab, war nicht aufgetaucht; genau wie ihre beste Freundin Marga, die normalerweise neben ihr arbeitete. Beim Schwatzen mit ihr verging das Einerlei der immer gleichen Abläufe und Handgriffe sonst viel geschwinder.
Auf dem Nachhauseweg hatte sich die Wintersonne durch die dichte Wolkendecke gekämpft, und Ruth hatte eine zarte Hoffnung geschöpft: Vielleicht würde der Krieg schneller enden als vermutet. Es war nichts weiter als eine wahnwitzige Träumerei, aber die gestattete sie sich ausnahmsweise. Dem Tag war eben nichts abzugewinnen, außer vielleicht, dass er ein Donnerstag war und dass damit das Wochenende in greifbare Nähe rückte. Dann endlich würde sie Ilan wiedersehen.
Als sie daheim und aus dem Mantel geschlüpft war, rasch die verschwitzte Arbeitskleidung gegen ihren weitschwingenden dunkelblauen Rock und die cremeweiße taillierte Bluse getauscht hatte, da bemerkte sie den ernsten Ausdruck auf Papis Gesicht. Was wunderte es Ruth, dass er sie kurz darauf bat, zu ihnen zu kommen, Mutter und er hätten unaufschiebbare Neuigkeiten.
Um den großen Mahagonitisch im Wohnzimmer hatte sich die Familie bereits versammelt; sie hatten offenbar auf sie gewartet. Ruth schob sich auf den freien Platz zwischen Papi und Gili. Ihre jüngere Schwester wippte mit den Füßen und dem Oberkörper, sie schien einem imaginären Lied zu lauschen, zu dem ihre rotblonden Locken, die sonst niemand in der Familie hatte, im Takt schaukelten. Gili lächelte in die Runde, als ginge es im Folgenden einzig und allein um sie. Ihr Bruder Jo hingegen starrte auf den Boden. Aus seinen dunklen Augen sprach ein Ernst, der selbst Ruth immer wieder überraschte. Für seine bald vierzehn Jahre war er bereits hochgewachsen. Wann war aus ihrem verspielt-verträumten Bruder ein beinahe störrischer junger Mann geworden, der nur darauf wartete, mit einem klugen Spruch seine Kritik an allem und jedem geltend zu machen? Mutter, die Ruth gegenübersaß, war nicht anzusehen, was von dieser Versammlung zu erwarten war. Sie blickte konzentriert auf ihre Näharbeiten, ihre Miene zeigte keinerlei Regung. Vater erhob sich und schob dabei den knarzenden Stuhl zur Seite. Er holte noch einmal Luft, vielleicht um Mut zu fassen, doch Ruth sprang auf und unterbrach ihn, bevor er etwas sagen konnte. »Sollten wir nicht, wenn es eine wichtige Familiensache ist, Omi dazuholen? Ich laufe rasch rüber und klopfe an ihrer Zimmertür.«
Vater hieß sie, sich wieder zu setzen. »Omi weiß es schon und ruht sich nun ein wenig aus.« Er seufzte leise. Jetzt erst fiel Ruths Blick auf die Mitte des Wohnzimmertisches, wo drei Pässe lagen.
»Ich sage es geradeheraus, in Breslau könnt ihr nicht länger bleiben.« Vater mühte sich mit seinem ganzen Wesen darum, Sicherheit auszustrahlen. Aber seine gefalteten Hände kneteten in einem fort, und während er sprach, machte er ständig kleine künstliche Pausen, die es nicht gebraucht hätte, um Atem zu holen. Er hatte eine hohe Position bei der Reichsbahn inne und bekam daher einiges mit, was der gewöhnlichen Bevölkerung verborgen blieb. Wenn er jetzt so ein Gesicht machte, musste es ernst sein. Vater schluckte. »Die Russen kommen! Gauleiter Hanke will bis zum Letzten gehen . Ich weiß aus geheimer Quelle, dass Breslau in Kürze evakuiert werden soll. Dann wird Chaos ausbrechen, aber bis dahin seid ihr raus aus der Stadt.« Vater sprach sie alle an, bedachte aber nur ihren Bruder mit einem strengen Blick. »Stellt keine Fragen, fürs Diskutieren ist jetzt keine Zeit. Ihr habt neue Namen und andere Geburtsdaten bekommen. Die müsst ihr bis morgen verinnerlichen. Unter keinen Umständen dürft ihr einen Fehler machen.«
Gili beugte sich vornüber, fischte nach einem der Pässe, blätterte darin, schob ihn Jo zu und griff dann nach dem nächsten, wo sie offenbar fündig wurde. »Das bin also ich: Marie-Luise Kiefer, geboren am vierzehnten Januar neunzehnhundertsiebenundzwanzig.« Sie deklamierte die Daten, als lese sie aus einem Textbuch vor und müsse sich auf einer Bühne zum ersten Mal beweisen. »Ich bin eine junge Dame, immerhin zwei Jahre älter als in Wirklichkeit, das gefällt mir. Und bald ist der Geburtstag meines neuen Ichs. Da werde ich wohl eine kleine Feier ausrichten müssen.« Sie zwinkerte Jo zu, der aber verdrehte die Augen und zeigte ihr einen Vogel. »Du hast sie ja nicht mehr alle. Wir müssen Omi zurücklassen, und sogar das schert dich nicht .«
Ruth stand auf und ging ans Fenster. »Wir werden Omi nicht hierlassen, nicht wahr, Papi, und du begleitest uns?« Vielleicht hatte Vater das Ausweispapier Omi bereits gegeben, und sein eigenes sowie das ihrer Mutter trug er sicher bei sich. Ruth hatte ihre Worte nicht als Frage, vielmehr als Aussage formulieren wollen, und doch hingen diese nun als ebensolche im Raum. Sie kam sich unbeholfener vor als ihre Geschwister. Beide bewiesen Haltung, und Jo zeigte allen klar, was er dachte. Gili war mit einem angeborenen schauspielerischen Talent gesegnet, das ihr Rückenwind bot. Ruth selbst besaß nichts von alldem. Zwar war sie zu Hause die Älteste in der Geschwisterreihe, seit Harry von der Wehrmacht eingezogen worden war, aber das war auch schon alles; es zeichnete sie höchstens aus, dass sie einen Sinn für Ästhetik hatte und ihr kleine Details ins Auge sprangen, die anderen entgingen. Als junges Mädchen hatte sie Vater dazu gedrängt, mit ihr ins Schlesische Museum zu gehen. Wieder und wieder hatte sie dieses eine Gemälde von Lovis Corinth betrachten wollen. Das Mädchen darauf machte Ruth Angst und faszinierte sie gleichermaßen. Wie versunken das Kind wirkte, wie konzentriert es in ein fernes Nichts starrte. Etwas an ihm erinnerte Ruth an sich selbst. Später hatte Ruth den Titel des Bildes erfahren, von dem sie nicht genug hatte bekommen können: Anna Schaumberg mit einer Puppe.
Sie schüttelte den Kopf über sich selbst: Empfänglich zu sein für die Atmosphäre von Kunstwerken war keine Eigenschaft, die von Nutzen war, erst recht nicht im Krieg.
»Ihr reist vor, und ich komme nach, sobald ich kann. Omi ist nach Opas Tod schwach auf der Brust. Sie weigert sich, die Erinnerungen und ihre Heimat zurückzulassen.« Vater sprach andächtig, beinahe flüsternd.
»Wer's glaubt.« Jo war jäh von seinem Stuhl aufgesprungen und fuchtelte wild mit den Armen in der Luft. »Du konntest nur vier Pässe organisieren, und Omi würde uns immer den Vortritt lassen. Wenn wir gemeinsam reisten und sie ihre eigenen Papiere mit sich führen müsste, könnten wir leicht auffliegen. Omi weiß das. Steht doch nicht umsonst nirgends Tolle, ihr Nachname, auf unserem Klingelschild. Du lässt deine Kontakte spielen, wo immer es geht, Papi. Aber auch du kannst sie nicht alle bestechen, nicht alle Unterlagen verschwinden lassen. Deshalb hast du auch Harry der verschissenen Wehrmacht geopfert, habe ich recht?«
Ruth kannte ihren Vater als gutmütigen Mann, der sich zu vielem erweichen ließ und niemandem etwas nachtrug. Für seine Familie tat er, was in seiner Macht stand, damit es ihnen allen gut erging. Nun aber zitterte Papis Unterlippe bedenklich. Mit gezielter Vehemenz ging seine Faust auf den Tisch nieder, sodass dieser ordentlich wackelte. Augenblicklich herrschte Ruhe. Vater bettete sein Gesicht in beide Hände, und Jo machte schon wieder Anstalten, seine Anklage fortzusetzen. Ruth eilte auf ihn zu. Den Zeigefinger hielt sie sich vor die Lippen, ein klares Signal an ihren Bruder, er möge nun bitte, bitte schweigen. Tatsächlich hielt er kurz die Luft an, ließ beim Ausatmen die Schultern fallen und seufzte, anstatt weiterzusprechen.
»Der Bub weiß doch gar nicht, was er da sagt, Eugen.« Mutter stand hinter Vater, schlang ihre Arme um ihn und küsste ihn auf das schütter gewordene Haar. Jo wollte schon wieder zur Gegenrede ausholen, doch bevor ein weiteres Wort fallen konnte, zog Ruth ihn mit sich ins Schwesternschlafzimmer und schloss, nachdem sie Gili, die ihnen gefolgt war, noch hineingelassen hatte, leise die Tür hinter sich.
»Ich könnt platzen.« Jo hämmerte mit der Faust gegen die Wand, derweil Gili ihn mit halb offenem Mund anstarrte. Ausnahmsweise sagte sie nichts.
»Jo.« Ruth bemühte sich, einen besänftigenden Ton in ihre Stimme zu legen und dabei nicht selbst in Tränen auszubrechen. Sie musste stark sein, solange Harry nicht bei ihnen war. Auch wenn ihr gerade nichts einfiel, was in dieser Situation helfen könnte.
Die Pendeluhr im Wohnzimmer schlug zur vollen Stunde. Früher hätte die Kirchturmglocke geläutet, mittlerweile aber waren die meisten zu Rüstungszwecken eingeschmolzen worden. Nach dem, was Vater ihnen eben eröffnet hatte,...
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