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Vor La Pineta standen an diesem kühlen Juniabend die Gäste Schlange. Der einzige Italiener in Kochel am See war beliebt. Zudem hatte ein Platzregen Scharen von Ausflüglern herbeigetrieben. Unter den Wartenden herrschte eine Stimmung wie auf dem Steg zur Arche Noah.
Eine junge, klatschnasse Mutter mit quengelndem Kind auf dem Arm sagte zu ihrem ebenso begossenen Mann: »Und wenn wir zwei Stunden anstehen - ich will jetzt da rein!« Sie hatte Glück. Gerade wurde der Nebenraum, die Enoteca, geöffnet. Ein schlanker, lustiger Kellner erschien und winkte eifrig die ganze Schlange herein.
Auch Swantje Siel zählte zu den Erlösten. Rasch folgte sie samt ihrem roten Rollkoffer und hörte im Vorübergehen aus einem Trupp bereits gesättigter Gäste den verheißungsvollen Satz: »Also ich könnte sofort noch einmal mit den Antipasti beginnen!«
Dann fand sie sich in der wunderbar dämmerigen Enoteca wieder, zwischen dunklen Holzregalen mit hunderten Weinflaschen.
Sie durfte Platz nehmen an einem der kleinen Zweiertische. Die tropfende Jacke hängte sie über die Stuhllehne. Vor ihr flackerte eine Kerze. Sie atmete tief durch. Geschafft!
Als sie die Speisekarte aufschlug, wurde sie durch ein Foto belehrt, dass der Kellner in Wahrheit der Wirt war und Mimmo hieß. Er war wohl einmal Radrennfahrer gewesen. Dafür sprach nicht nur sein sportlicher Körperbau. Oben auf den Weinregalen standen ringsum Rennräder von Bianchi und Basso. Die Reifen so dünn wie Frauenfinger. Und an den Wänden hingen überall Schwarz-Weiß-Fotos des Giro d' Italia, die in diesem Kontext das Motto suggerierten: Mit Wein zum Sieg!
Swantje bemerkte irritiert, dass sie in ihrer Ecke als Einzige solo inmitten von filmreifen Liebespaaren saß, alle halb so alt wie sie. Zwei Verliebte am Nebentisch fütterten einander mit Löffeln - Probier mal mein Tiramisu! Und du meine Pannacotta! -, was Swantje albern fand - sie teilte nie ihr Essen, und säße ihr Romeo persönlich gegenüber. Ihr war klar: Auch wenn sie für ihre Jahre flott aussah - in den Augen dieser Kinder wirkte sie mit ihrem grauen kurzen Strubbelhaar und den beiden nicht versteckten Hörgeräten wohl wie eine ältliche Archivarin, die die Hoffnung auf einen Mann im Leben endgültig aufgesteckt hatte.
Und dabei erwartete sie gerade einen Mann, sogar einen deutlich jüngeren, der allerdings in seinem Erscheinen nicht berechenbar war.
Unvorsichtigerweise hatte sie zu Mimmo gesagt: »Es kommt noch jemand! Bitte nur einen Prosecco!« Jetzt, da der zweite Prosecco zur Neige ging, bedauerte sie das zutiefst. Einen dritten konnte sie unmöglich bestellen, ohne als überzeugte Aktivistin des Alkoholismus zu gelten.
Also bestellte sie die kleinen, nein, mittelgroßen - oder, was soll's, großen Antipasti. Und ach ja, (mit halblaut hastiger Stimme) einen Rosso. Warum nicht? Wer weiß, was Benedikt sich diesmal leisten würde.
Benedikt. Ja, Benedikt Bileam würde auf jeden Fall mit seinem Auftritt für erstauntes Verstummen der Kinoliebespaare sorgen! Er war eine Erscheinung! Mit seiner blonden zurückgekämmten Mähne, der ranken schlanken Zwei-Meter-Statur, dem schallendsubversiven Kinderlachen, bei dem wildfremde Menschen unwillkürlich mitlachten.
Benedikt war ihr Lieblingsneffe - zugegeben, auch ihr einziger Neffe. Zwischen ihnen beiden gab es ein tiefes Band, seit sie ihm als Fünfjährigen anhand eines blauen Plastikkreisels die Unendlichkeit erklärt hatte - oder zumindest das, was sie als Fachanwältin für Mietrecht darüber wusste.
Benedikt, mittlerweile selbst schon an die Dreißig, war ein Sonderfall. In jeder Hinsicht. Er war der sprunghafteste, in seinen Einfällen unberechenbarste Mensch, den es geben konnte.
Alles, was er tat, tat er aus Begeisterung - oder gar nicht. Mit neun Jahren hatte er eine Comic-Gestalt erfunden: Gerold unterm Tisch. Das war ein Junge, der unter dem Wohnzimmertisch lebte und die Gespräche der Erwachsenen von unten kommentierte. Als seine Eltern die Blätter gefunden hatten, waren sie bleich geworden, so treffend waren die Kommentare. Swantje glaubte noch heute, das war die Initialzündung für die Scheidung der beiden gewesen. Der Vater, Unternehmensberater, war ausgezogen. Ohne Erklärung. Vermutlich, da er sich einem Kommentar von Gerold unterm Tisch nicht gewachsen fühlte. Benedikt lebte von da an allein mit seiner Mutter, die im Sekretariat des Münchener Literaturhauses arbeitete. Benedikts Schulzeit war für alle Beteiligten die Hölle. In der sechsten Klasse legte er seinem Mathematiklehrer einen dreißigseitigen Beweis vor, dass der Satz des Pythagoras falsch sei und die gesamte Mathematik widerlegen würde. Der Lehrer hatte eine schlaflose Nacht mit den komplexen Darlegungen verbracht, zwischendurch zweifelnd, ob er einen kleinen Pascal oder einen Vollidioten in der Klasse hatte, und Benedikt am Morgen gesagt, dass er sich geirrt habe. Benedikt fühlte sich missverstanden und rührte von da an kein Mathematikbuch mehr an. Die meisten Lehrer hassten ihn. Eine Deutschlehrerin sagte zur Mutter, Benedikt sei zweifellos eine Art von Genie - nur ein Genie, das zu absolut gar nichts nützlich wäre.
Gefürchtet waren seine Wortmeldungen, die immer begannen mit der Wendung: »Meine Gegenfrage .« Selbst wohlgesonnene Lehrer riefen ihn bald nicht mehr auf.
Eines Tages entdeckte Benedikt eine Zeitungsnotiz über einen Mann, der versucht hatte, sich nach Einnahme einer Riesendosis Schmerztabletten den Blinddarm selbst mittels eines Schweizer Taschenmessers zu entfernen.
Die Mutter war durch sein beharrliches Interesse an diesem Thema und akribische medizinische Recherchen des Sohns so alarmiert, dass sie ihn zum ersten Mal in ihrem Leben anschrie: »Du bist krank!« Worauf er nur mit den Achseln zuckte: »Meine Güte! Wenn das so einen Aufstand gibt, dann eben nicht!« Benedikt verfügte bei aller Leidenschaft über weit mehr Selbsterkenntnis und Selbstironie, als man ihm zutraute.
Der Vater hatte sich in Benedikts Erziehung ein letztes Mal engagiert, kurz nachdem der Sohn das Abitur (durch welches Wunder auch immer) absolviert hatte.
Bei einem der allmonatlichen Pflicht-Treffen hatte Benedikt plötzlich Interesse an einer Analyse der Finanzkrise gezeigt, was im Vater die trügerische Hoffnung auf ein BWL-Studium des Sohns geweckt hatte. Er organisierte für ihn ein Praktikum im Betrieb eines Freunds.
Benedikt hatte allerdings eine Finanzkrise im alten Ägypten gemeint, für deren Studium er mit glühendem Eifer in der Staatsbibliothek Hieroglyphen entzifferte. Er schrieb dem Vater eine Dankeskarte, meinte aber, er sehe keinen Ansatz, wie ihm ein Praktikum in einem Kugellagerbetrieb für die Erforschung der wirtschaftlichen Strukturen unter Ramses dem Dritten hilfreich sein könnte. Der Vater gab es auf. Er fand sich damit ab, dass sein Sohn nicht zu retten war.
Swantje war der einzige Mensch, der nach wie vor an Benedikt glaubte. Vielleicht, weil er ihr genaues Gegenteil war. Sie zielstrebig, er planlos. Sie Vernunft, er Begeisterung. Sie Fachanwältin für Mietrecht, die als Hobby Straftäter verteidigte, er - was auch immer . Zusammen ergänzten sie sich wunderbar. Trotz der räumlichen Trennung - sie in ihrer Kanzlei in Bremen, er mit seiner Mutter in München - war das enge Band nie abgerissen.
In dem Moment servierte Mimmo die »großen Antipasti«, und Swantje blieb erst einmal die Spucke weg - »Familienportion« wäre treffender gewesen. Es war wie in einem Comic: Sie allein und verloren vor diesem Mount Everest von mariniertem Gemüse und duftendem Meeresgetier. Dazu noch der bestellte Rosso - »Salute!« Alle Gäste starrten sie an. Warum musste sie auch so gierig sein!
»Benedikt, komm!«, flehte sie still. »Komm sofort! Vertilge den Berg mit deiner ganzen Begeisterung und deinem Wolfshunger, für den du so berühmt bist!«
Sie faltete in Zeitlupe die Serviette auf. Eigentlich wirklich sehr romantisch hier. Wenn nur Benedikt endlich käme! Sie merkte erst jetzt, wie sehr sie ihn vermisste.
Sie hatte ihn ein, nein, fast zwei Jahre nicht mehr gesehen. Die ganze Sache mit ihrer Scheidung. Aber das Tal der Tränen lag hinter ihr. Sie konnte ihre Höhle wieder verlassen. Wie es Benedikt wohl ging? Die Nachrichten waren spärlich gewesen. Im Gegensatz zu ihr, die eine passionierte Briefeschreiberin war, gab es von Benedikt allenfalls kryptische Blitzlichter. Spät nachts einmal eine Mail von ihm. Ein Caravaggio-Gemälde, auf dem er eine Gestalt mit einem Pfeil markiert hatte. Über die Bedeutung rätselte sie noch immer. Benedikt kam mittlerweile in die Jahre. Fast dreißig. Kein Kind mehr. Die Tatsache, dass er das Architekturstudium nun auch geschmissen hatte (vermutlich, weil er keine Pyramiden bauen durfte), beunruhigte sie doch etwas. Sie führte das Rotweinglas zum Mund - exzellenter Primitivo! -und sah wie durch eine Hellseherkugel eine verschwommene Gestalt vor sich auftauchen. Sie setzte rasch ab und verschluckte sich beim Anblick.
Benedikt! Ihr kleiner Neffe Benedikt! Mit schlohweißem Haar!
Während sie hustete,...