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Der Mann, der bis zehn zählte, sich aber entschied, dass bis fünfzehn auch in Ordnung wäre
Cheng betrat den Frühstücksraum und nahm Platz. Da bemerkte er den Blick der Frau. Wobei der Blick weniger ihm selbst galt, sondern dem Hund an seiner Seite. Der Hund, der zu seinen Füßen lag und sich wie eine schläfrige Schnecke zusammengerollt hatte.
Ein Hund freilich, der schon lange tot war.
Es geschah selten, aber es geschah, dass Menschen, wenn sie zu Cheng schauten, für einen Augenblick diesen Hund an seiner Seite wahrzunehmen schienen. Manche nur ganz kurz, andere etwas länger, um dann doch festzustellen, sich getäuscht zu haben. Dass also jenes Tier, von dem sie gerade noch meinten, es erblickt zu haben, gar nicht vorhanden war. Ein stämmiger Rüde mit sehr kurzen Beinen und langen, spitz zulaufenden Schlappohren sowie einer Schnauze, die wegen des dort weiß gewordenen Fells aussah, als rage ein Zuckerhut aus seinem Gesicht. Und in dessen trüben Augen die Blindheit von jemandem steckte, der wirklich schon alles einmal gesehen hatte und nicht fand, er müsse sich das ein zweites Mal antun. Genau so ein Hund war das.
Markus Cheng hatte ihn, der einst den Namen Lauscher getragen hatte und vor vielen Jahren hochbetagt entschlafen war, seit dessen Tod weder gesehen noch irgendwie gespürt. Und dennoch fiel ihm immer wieder auf, wie fremde Leute in einer Weise an ihm, Cheng, heruntersahen, die sich eben nur dadurch erklären ließ, dass diese Leute für einen Augenblick dachten, da befinde sich ein kleines Wesen zu seinen Füßen.
Klar, ein kleines Wesen war nicht automatisch ein Hund. Aber die Art der Blicke ließ eigentlich nur einen Hund zu. Hätte es sich um eine Schlange, einen Hasen oder ein Kind gehandelt, die Gesichter der Leute hätten einen anderen Ausdruck besessen. Wenn Menschen Hunde betrachteten, dann lag sofort ein tiefes Verständnis in ihrem Schauen. Ein Verständnis für die Gestalt und das Wesen dieser Kreatur. Als würden sie die Natur der Hunde besser durchschauen als die eigene. Erstaunlicherweise besitzt dieser Ausdruck tief gehenden Begreifens aber auch eine etwas trottelhafte Note. Wie man das wiederum von denen kennt, die frisch verliebt sind. Der menschliche Blick auf den Hund erscheint als eine Kombination aus Wissen und Liebe. Man könnte auch sagen: Bildung und Torheit.
Und genau einen solchen Blick bemerkte Markus Cheng, als er sich an einem Tisch im Frühstücksraum des Hotels niederließ. Die Frau drüben am Fensterplatz war der einzige andere Gast zu dieser noch frühen Morgenstunde.
Das war so eine neue Unart in seinem nun fünfeinhalb Jahrzehnte währenden Leben, nämlich viel zu zeitig aufzuwachen und dann trotz aller Müdigkeit und dem Gefühl des von der bisherigen Nachtruhe völlig Erschlagenen einfach nicht mehr zurück in den Schlaf zu finden. Um fünf Uhr spätestens war alles vorbei und jegliche Rückkehr eine Illusion. Eher um vier oder davor. Eine Weile hatte er dagegen angekämpft, hatte auf eine geradezu wütende Weise versucht, zurück in seinen Schlaf zu finden, wie einer, der gegen die Türe trommelt und Einlass fordert. Dann aber hatte er eingesehen, dass es wohl am besten war, einfach aufzustehen und die Schönheit und den Schrecken dieser frühen Stunde in aufrechter Haltung zu erleben. Die »Stunde des Wolfs«, wie sie bei Ingmar Bergman heißt und in der angeblich die meisten Menschen sterben und die meisten geboren werden, was einen eigentümlichen Widerspruch ergibt, weil in dieser Zeit die Welt geradezu stillzustehen scheint und rein gar nichts geschieht.
Cheng kam es so vor, als höre er in all der Stille den Planeten, auf dem er stand, an den Leitplanken des Weltraums entlangschrammen. Und er begann nun den viel zu frühen Tag damit, Gymnastik zu treiben. Einarmige Gymnastik, denn Markus Cheng hatte in den Neunzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts seinen linken Arm verloren. Und einige andere Verletzungen davongetragen. Im Zuge eines schweren Sturzes war der heruntergerissene Teil seiner Gliedmaße in eine Gletscherspalte geraten und nicht wieder aufgetaucht. Somit war es theoretisch sogar möglich, dass man Cheng irgendwann mitteilen würde, man hätte seinen im Eis gut konservierten Arm gefunden.
Und was dann? Hätte er den Arm beerdigen oder ihn in irgendeiner Weise präparieren lassen sollen? Gab es überhaupt Verordnungen für Körperteile, die nach so langer Zeit zu denen zurückkehrten, an denen sie ursprünglich festgewachsen waren? Das war lächerlich. Wenn es nach Cheng ging, durfte der Arm für immer verschwunden bleiben. Er hatte sich an den Zustand der Einarmigkeit bestens gewöhnt und bezweifelte, dass selbst eine wundersame Heilung ihn glücklich gemacht hätte. Darum war für ihn auch nie eine Prothese infrage gekommen. Eine Prothese wäre ihm im Wege gewesen, während der leere Raum, der durch das Fehlen von Unterarm, Ellbogen und einem kleinen Stück des Oberarms entstanden war, zu einem wesentlichen Teil seiner selbst wurde. Ein kleines Reich, ein kleiner Himmel am senkrecht stehenden Horizont seiner linken Flanke. Weshalb er auch stets darauf achtete, dass der lose Ärmel eines Jacketts oder eines langärmeligen Hemds in eleganter Weise nach oben gefaltet und befestigt war. Im Grunde wie ein angehobener Vorhang, der den Blick auf »Chengs Himmel« freigab, diese sphärisch gefüllte Leerstelle seines Körpers. Sie bildete zudem einen bedeutenden Aspekt seiner Noblesse. Es gab wenige Männer, die einen Anzug so gut zu tragen verstanden wie Cheng. Wofür der fehlende Arm und der in der Folge hinzugekommene Himmel von großer Bedeutung waren. Es war der entscheidende Punkt in Chengs Leben, erst im Zuge verschiedener Verluste und Einschränkungen das Gefühl entwickelt zu haben, komplett zu sein.
Wenn Cheng sich mitunter dachte, die Katastrophen seiner mittleren Jahre, die ihn einen Arm gekostet und ihm einen Himmel beschert hatten, wären einer Art von schriftstellerischer Intervention zu verdanken gewesen - vor allem ein Jahre zurückliegender Fall, bei dem er im wirklich allerletzten Moment aus einem Hohlraum unterhalb eines mit Wasser gefüllten Bassins gerettet worden war -, so galt das für sein aktuelles Leben rein gar nicht. Man könnte sagen: Er war fertiggeschrieben worden. Wer oder was auch immer einst daran Interesse gehabt hatte, einzuwirken, schien das Interesse verloren zu haben. Was nichts daran änderte, dass Cheng weiterhin im doch sehr literarisch angehauchten Detektivgeschäft arbeitete. Aber was hätte er auch sonst tun sollen? Die Detektivarbeit entsprach am besten seiner Persönlichkeit. Es widerstrebte ihm, innovativ zu sein, unternehmerisch. Er bevorzugte es, etwas bereits Stattgefundenem auf den Grund zu gehen. Natürlich, manche Geschichten waren an Banalität kaum zu überbieten, aber das gehörte dazu: der Ehebruch, der Erbstreit, böse Nachbarn, böse Kinder, der Schrecken des Alltags mit seinen Lügen und Heimlichkeiten und immer wieder dem Blick aufs Geld.
Was Cheng ebenfalls deutlich spürte, war, dass sein eigenes Leben langsam zu Ende ging. Aber eben nicht im Zuge einer schweren Krankheit oder eines Unfalls, bei dem sich noch etwas mehr von seinem Körper abgetrennt hätte als lediglich ein Unterarm. Nein, es bestand keinerlei Vorahnung, die das exakte Wesen seines Abschieds von der Welt beschrieben hätte. Cheng erkannte einfach das Ende der Straße, auf welcher er sich bewegte. Er konnte es deutlich sehen. Wobei es gar nichts genutzt hätte, auf ein und derselben Stelle herumzuzappeln oder mittels rückwärtigem Salto zu versuchen, hinter die eigene Position zu gelangen und ein paar Zentimeter zu schinden. Für Saltos fehlte ihm die Sprungkraft, und ein Herumgezappel hätte nur dazu geführt, dass das Ende der Straße gezwungen gewesen wäre, sich seinerseits auf ihn zuzubewegen. Doch eine Straße zwingen, sich zu bewegen, war schlichtweg unwürdig. Nein, er sah keine andere Möglichkeit, als ohne Zuversicht, aber mit einiger Gelassenheit gerade Schritte in Richtung auf jenes sichtbare Ende der Straße zu machen, auch wenn er dabei ganz leicht hinkte, ebenfalls die Folge eines einstigen Unfalls. Doch sein Hinken war wiederum ein Äquivalent zum Himmel an seiner Hüfte, nämlich eine in seinen Gang integrierte kleine Welle.
Gymnastik um vier also. Während die sich drehende Erde ein wenig knirschte. Ein langer Morgen. Gymnastik, dann Fernsehen, dann Dusche, dann auf dem Balkon stehen und dem Tag zusehen, wie er auf die Beine kommt.
Drei Stunden später betrat Cheng den Frühstücksraum, überblickte das Ambiente mit den vielen leeren Tischen, den weißen Tischtüchern, den spitz in die Höhe gefalteten Servietten und dem lang gestreckten Buffet, an dem soeben eine Servierkraft letzte Hand anlegte. Den anderen Gast, die Frau am Fenster, bemerkte er erst, als er selbst in der Mitte des Raums Platz genommen hatte. Es war dies die einzige Stelle, die im Schatten lag - ein schmaler Sektor -, während die übrigen Bereiche von den Strahlen der tief stehenden Morgensonne geradezu lackiert schienen. Cheng war kein Freund direkter Sonneneinstrahlung. Er bevorzugte das Halbdunkel.
Und in einem solchen bevorzugten Halbdunkel saß er nun und nahm den Blick der Frau wahr. Sie schaute in diesem Moment von der Stelle, an der sich Chengs Himmel befand, abwärts zu den Beinen, dorthin, wo es sich der Hund Lauscher wohl gemütlich gemacht hätte. Wäre seine Anwesenheit im Hotel überhaupt erlaubt gewesen. Was nicht der Fall war. Tiere waren in diesem Fünf-Sterne-Palast nicht zugelassen. Doch gegen unsichtbare Tiere bestand natürlich keinerlei Handhabe.
Der Blick der Frau war nicht ungebührlich. Sie hatte bloß das Tier bemerkt. Und bald darauf begriffen, sich...
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