Schweitzer Fachinformationen
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Wie viele Augen braucht der Mensch?
Reisiger betrachtete die Flocken von Asche, die den Boden bedeckten. Er umging sie und warf die Zigarette in den Kamin, der mit seiner mächtigen, barocken Gestalt, mit seinen Löwenfratzen und Gazellenköpfen und seinen marmornen Wülsten mehr wie die Pforte zu einem repräsentativen Gebäude aussah. Man hätte einen Baum in diesem Monstrum verbrennen müssen, um es gemütlich zu haben.
Nun, Reisiger war nicht hier wegen der Gemütlichkeit, sondern aus beruflichen Gründen. Wobei es eigentlich seiner Art widersprach, in Grandhotels wie diesem abzusteigen. Räume, die eine Höhe von drei Metern weit überstiegen, empfand Reisiger gewissermaßen als nach oben hin offen. Und er pflegte nun mal nicht im Freien zu übernachten.
Im vorliegenden Fall aber hatte er sich fügen müssen, da es der ausdrückliche Wunsch seines Geschäftspartners gewesen war, Reisiger in diesem Hotel einzuquartieren, so daß er also die Nacht, wenn schon nicht neben einem riesigen Feuer, so doch in einem riesigen Bett verbracht hatte, in dem es allerdings trotz hochgeschraubter Zentralheizung nie so richtig warm geworden war. Als dürfe es in solchen Betten gar nicht warm werden, als seien warme Betten ein Privileg der unteren Klassen. Das war wohl ein Unterschied wie zwischen Sarg und Gruft.
Im Moment aber wußte Reisiger die Kälte zu schätzen, die durch die offenen Flügeltüren eindrang. Es war ein bitterkalter Tag. Der See vor dem Hotel gefroren. Der ganze Ort gefroren. Die Promenade, der Himmel, der Mond, die Berge. In Reisigers Kopf aber breitete sich die notwendige Klarheit aus, um zu tun, was zu tun war. Er trat an den schwarzen, langen Schreibtisch, der im Dunkel gleich einer Planke zu schwimmen schien. Reisiger griff nach den beiden Papieren, die einsam auf der weiten Fläche lagen, und hielt sie in die Höhe: einen Lottoschein, ausgefüllt, samt jener nur halb so großen, maschinell ausgestellten Quittung.
Gewissermaßen war es so, daß ein ganzes Land auf der Suche nach diesem Lottoschein war. Beziehungsweise nach seinem Besitzer. Auf das übliche Lotto-Fieber war ein unübliches Nach- und Spätfieber gefolgt, eine posttraumatische Erregung. Immerhin handelte es sich um den zweithöchsten Betrag in der Geschichte dieses Spiels und dieses Landes. Bloß, daß bereits mehr als vier Wochen vergangen waren, in denen sich der Gewinner nicht gemeldet hatte. Was diesen zweithöchsten Gewinn für Medien und Publikum weit interessanter machte, als jener höchste es gewesen war, den im Jahr zuvor eine uncharismatische Wettgemeinschaft kassiert hatte. Wettgemeinschaften waren auch für Reisiger so ziemlich das letzte, wofür sich Menschen hergeben durften. Solchen Leuten fehlte jeglicher Stolz, jegliche Einsicht in das Spiel als Herausforderung und Prüfung. Im Falle dieser Kollektive verwirklichte sich sodann das Bild jener mickerigen, winselnden, unterprivilegierten Gestalten, denen es allein ums Geld ging und die sich als Gewinner wie als Verlierer genau so verhielten, wie nichtspielende Gebildete sich das vorstellten.
Dieser höchste Gewinn war also nicht wirklich ein Thema gewesen, da sich seine Umstände und Folgen als undramatisch erwiesen hatten. Geld, das aufgeteilt wurde, war sozusagen kein Geld mehr, sondern eben bloß noch ein Rest von Geld, vergleichbar einem Ferrari, von dem man nicht mehr als die Räder besaß oder auch nur das Lenkrad oder bloß irgendeine Düse. Nicht verwunderlich also, daß man die Mitglieder dieser Wettgemeinschaft - so hoch ihre Anteile de facto auch gewesen waren - in der Öffentlichkeit bemitleidet hatte. Und tatsächlich wurde auch keiner von ihnen so richtig glücklich. Bald war die Rede von den »traurigen Millionären«. Selbst die Lottogesellschaft hatte darauf verzichtet, diesen höchsten Gewinn merklich herauszustellen. Um so erfreulicher war es nun, daß man bei dem Gewinner jener zweithöchsten Summe ganz eindeutig eine Einzelperson annehmen durfte. Anders war ein solches Schweigen nicht zu erklären. Kollektive schwiegen nicht. Nicht so lange.
Spekulationen machten die Runde, etwa über den Tod jener Person, deren Körper nun in irgendeiner stickigen, kleinen Wohnung seit Wochen vor sich hinfaulte. An anderer Stelle entwickelte man die Vorstellung einer vertuschten, hochkomplizierten Familientragödie, dann wieder davon, daß der Wettschein und die eigentlich maßgebliche Quittung verlorengegangen waren, am besten irgendwo im öffentlichen Raum, auf das ein ganzes Volk animiert wurde, die Augen endlich einmal offenzuhalten. Anonyme Briefe erschienen in den Zeitungen, von Leuten, die sich als Gewinner ausgaben und irgendwelche verrückten Dinge behaupteten. Eine kleine Hysterie hatte sich über das Land gelegt, nicht weiter schlimm, nichts, was diesem Land wirklich geschadet hätte. Daß aber der unbekannte Gewinner sich schlichtweg auf einer längeren Urlaubsreise befand, wollte niemand glauben. Denn soviel wußte man, daß es sich um keinen Systemwettschein handelte, so wenig wie eine mehrwöchige Laufzeit quittiert worden war. Vielmehr war die Wette allein für diese eine Spielrunde vorgenommen worden. Dies widersprach ganz eindeutig der Vorstellung eines urlaubenden Spielers.
Nicht zuletzt hatte die Presse dank einer dieser undichten Stellen den Namen jenes Mannes in Erfahrung gebracht, welcher in seinem Tabakladen den Schein entgegengenommen hatte. Was dazu führte, daß dieser Mann geradezu belagert wurde. Er selbst schwieg beharrlich. Nicht ohne Stolz, nicht ohne Pathos. Somit im Bewußtsein der historisch gefärbten Situation, zu der er einen wesentlichen Teil beizutragen meinte. Freilich hieß es, der Mann sei berühmt für seine Vergeßlichkeit, so daß ihm gar nichts anders übrigbleibe, als sich in eine dramatische Verschwiegenheit zu hüllen und mit großer Geste vor allem jene Kundschaft zu bedienen, die den Ort mit der Tat verwechselte und seinen Laden mit Bergen von Lottoscheinen stürmte.
Das Irrationale bestimmt die Welt. Und nicht ein paar Rädchen, die ständig geölt werden müssen.
Reisiger trat an die offene Flügeltüre und hob mit einer Hand die beiden Scheine ins Licht, die er gegeneinander verschob, so daß sich eine Lücke bildete und genau in der Bucht des spitzen Winkels die Gestalt des Mondes sichtbar wurde. Gleichzeitig ergab es sich, daß im Licht der seitlich einfallenden Sonne die gläserne Tiefe der über die Zahlen gelegten und mit Kugelschreibertinte aufgezeichneten Schrägkreuze deutlicher hervortrat. Wie eingebrannt in ein Papier, das an diesen Stellen eine Tiefe von vielen hundert Metern zu besitzen schien. Ozeanisches Papier.
So gesehen fand eine optische Verbindung der beiden Leidenschaften statt, denen Leo Reisiger anhing. Ein Mond, der zwischen Lottoschein und Quittung wie in einer Schaukel oder Wiege hing. Es war ein schöner, würdevoller Moment. Reisiger verbat es sich, auch nur einen Seufzer zu tun. Sodann trat er zurück ins Zimmer und begab sich zu jenem voluminösen Kamin, auf dessen Sims er die beiden Scheine ablegte. Er öffnete seine linke Faust, in der sich noch immer die Streichholzschachtel befand, und setzte eines der Hölzer in Brand. Erneut griff er nach den Scheinen, und ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten, führte er die Flamme an die beiden Papiere heran, welche rasch und heftig Feuer fingen. Reisiger ließ sie los, ein wenig wie man die Hand der Geliebten losläßt, die über dem Abgrund baumelt. Lodernd segelten Spielschein und Quittung auf die feuerfeste Bodenplatte, wo sie zur Gänze verbrannten.
Wenn es denn so etwas wie eine telepathische Verbindung zwischen Menschen und Dingen gab, so mußten in diesem Moment eine Unmenge von Leuten einen tiefen Schmerz verspürt haben. Eine Explosion im Magen, ein Stechen in der Brust, ein Bersten im Kopf. Einem ganzen Land mußte für einen Moment ziemlich übel geworden sein.
Bei aller Ruhe und Beherrschtheit, zu der sich Leo Reisiger gezwungen hatte, war natürlich auch ihm der Fraß der Flammen qualvoll in die Glieder gefahren und ins Herz gedrungen. Gut möglich, daß er in diesem kurzen Augenblick ganze Millimeter geschrumpft war. Es ging ja nicht nur um das Vermögen, die Abermillionen, um die er sich selbst soeben gebracht hatte, es ging um den Wettschein als solchen, um die beiden Papiere, die Reisigers Triumph hätten dokumentieren können und die jetzt nichts anderes waren als Ruß auf einer steinernen Fläche.
Aber es versteht sich, daß Reisiger gar nicht anders hatte handeln können. Und wie um sich selbst zu bestätigen, das einzig Richtige getan zu haben, nickte er fortgesetzt in den Raum hinein, gleichmäßig wie ein Tier, das ein Loch gräbt. Ja, es war ein Loch, welches Reisiger nickenderweise in die kalte Luft bohrte. Und es war nun auch dieses Loch, durch das er gleichsam entkam.
Er nahm seine Brille ab und deponierte sie in einem schwarzen Etui, das er in der Innentasche seines Jacketts neben seinem Kugelschreiber unterbrachte. Daß er unter Weitsichtigkeit litt, erschien ihm wie eine symbolische Gabe, wenn man bedachte, wieviel Zeit er investierte, einen weit entfernten Körper im Auge zu behalten. Um freilich Lottoscheine auszufüllen oder sie auch nur zu betrachten, bevor sie in Flammen aufgingen, bedurfte es der ausgleichenden Kraft seiner Augengläser. Nun, damit war es jetzt vorbei.
Reisiger schlüpfte in einen schweren, dunklen Mantel und warf sich einen Schal um, der ihm - überrascht von der Kälte, die vor Ort herrschte - von der Rezeption zur Verfügung gestellt worden war. Ein wenig empfand er den Schal als Schlinge. Als eine bequeme Schlinge, das schon.
Er trat an die Schwelle zum Vorzimmer und blickte noch einmal zurück in den hohen Raum, um eigentlich so gut wie nichts zu erkennen, am ehesten die aufgetürmte Bettwäsche. Keinesfalls aber das noch...
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