Schweitzer Fachinformationen
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2 Die Studierstube Dr. Pauls war weit weniger gemütlich, als der Name dies hätte vermuten lassen. Vielmehr handelte es sich um einen der üblichen Sezierräume, nicht ganz neu, nicht ganz alt. Die Fensterreihen waren von pastellfarbenen Jalousien verdeckt. Von der Decke strömte Bürolicht. Drei metallene Flächen thronten auf quadratischen Sockeln. Man konnte darauf, so Dr. Paul, liegen wie auf schwebenden Betten. Traumhaft, weit besser als auf Zahnarztstühlen oder auf jenen Operationstischen, die einem möglichen Überleben gewidmet waren.
Es sei so typisch wie traurig, erklärte der Arzt weiter, daß es sich ausgerechnet auf einer solchen, dem Zerschneiden von toten Körpern zugeeigneten Liegefläche besonders gut ausruhen lasse. Er könne das beschwören, habe den einen oder anderen Mittagsschlaf darauf verbracht, im bekleideten Zustand, versteht sich, und mit einer Decke als Unterlage. Weniger der Bequemlichkeit wegen. Mehr als eine Geste, um den Unterschied zum eigentlichen Zweck dieser Konstruktion zu bekunden.
Als nun Lukastik nachmittags den Raum betrat, war allein der mittlere der drei Tische belegt. Darauf lag der um ein Bein und eine Hand verminderte Körper jenes unbekannten Toten. Dr. Paul saß hinter seinem Schreibtisch, hatte sich zurückgelehnt und rauchte. Er rauchte in der Art wie jemand, der beim Ausblasen Ringe erzeugt, nur daß er eben nicht wirklich welche hervorbrachte, sondern sozusagen Variationen zum Thema »Ringe«. Der Begriff der Variation ließ auch noch das kümmerlichste Gebilde als Ring durchgehen. Jedenfalls wirkte Dr. Paul entspannt. Die Ecke, in der er saß, war so gestaltet, daß der Begriff der »Studierstube« doch noch eine Entsprechung fand, indem nämlich zwei überlebensgroße hölzerne Regale den Rücken des Mediziners abdeckten, Regale, in denen abgegriffene und an vielen Stellen weit in den Raum stehende Folianten den Eindruck unbedingten Studierwillens dokumentierten. Keine zehn Computer hätten eine solche Wirkung vollbracht. Es bleibt dabei: Allein Bücher - am besten, wenn ihre Umschläge blaß anmuten wie blutarme Prinzessinnen - sind dazu imstande, die Intelligenz und Bildung eines Menschen optisch und exemplarisch zur Schau zu stellen.
Auf dem Tisch lagen ein paar bemalte Knochen, Geschenke von Dr. Pauls Kindern aus erster Ehe. Ein Diktiergerät stand aufrecht wie ein Bergkreuz auf einem hohen Stoß von Büchern. Zwei Bildschirme waren auf einem abseits positionierten Tischchen untergebracht, als stelle ihre Benutzung nicht die Regel dar, sondern sei bloß Folge eines Notfalls.
Dr. Paul wies Lukastik mit einer Armbewegung einen freien Stuhl zu, während er mit der anderen Hand hinüber auf die Leiche zeigte und sagte: »Kein Zweifel mehr. Der Mann wurde von einem Hai getötet.«
Auf der Schreibfläche vor Dr. Paul, auf einer mit Papier unterlegten Glasplatte aufgereiht, befanden sich mehrere kleine Splitter. Eins dieser Fragmente hob er mit einer Pinzette in die Höhe, hielt es gegen das Licht und erklärte, daß es sich dabei um das Bruchstück eines Haizahns handle.
»Und sehen Sie das hier«, sagte Dr. Paul und präsentierte ein winziges, kieselsteinartiges Gebilde, das einen metallischen Schimmer besaß. »Ein typischer Hautzahn.«
»Hautzahn?«
»Ich hatte selbst keine Ahnung und mußte schnell einmal im Internet nachschlagen. Mir ist das immer ein bißchen peinlich.«
»Was ist Ihnen peinlich? Ins Internet gehen?«
»Ja«, bestätigte Dr. Paul. »Es hat etwas von einer Schummelei an sich. Als beziehe man sein Wissen aus einer verbotenen Zone. Als wildere man im Revier der Ungebildeten und Unsportlichen, die sich quasi auf Tastendruck bedienen wie in einem Supermarkt.«
»Und in diesem Supermarkt sind Sie also auf Hautzähne gestoßen«, folgerte Lukastik.
»Plakoidschuppen«, präzisierte Dr. Paul, »auf denen schöne, ungemein harte Emailzähnchen aufsitzen. Eine wirklich praktische Einrichtung: vermindert die Reibung und schützt wie ein Kettenhemd. Denn auch so ein Hai besteht ja aus einer einzigen fleischlichen Verletzbarkeit. Man vergißt das gerne, wenn man die Viecher sieht. Haie sind keine Insekten, nicht wirklich robust, eher sensibel, scheu und träge. Melancholisch. Die meisten gehören zu den Lebendgebärern, noch dazu mit langer Tragezeit. Das erzwingt geradezu die Melancholie.«
»Das ist jetzt aber nicht mehr sehr wissenschaftlich«, stellte der Kriminalist fest.
»Stimmt. Ich vergesse mich. - Also! Ich habe im Körper des Toten Fragmente von Gebißzähnen und Hautzähnen eines Hais entdeckt. Die Größe und Art der Verletzungen sowie der Umstand, daß unserem Toten nicht bloß eine Hand, sondern auch gleich ein ganzes Bein abgerissen wurde, setzt eine gewisse Größe des Fisches voraus. Gleichzeitig brauchen wir schon angesichts der geringen Wassertiefe des Beckens keine von den filmreifen Sechsmeterphantasien zu entwickeln.«
»Angesichts eines Beckens mit gechlortem Süßwasser sollten wir eigentlich gar keine Phantasien entwickeln können.«
»Ich bin Ihrer Meinung. Der Mann wurde anderswo getötet. Und natürlich müssen wir davon ausgehen, daß ihm die markanten Verletzungen auf künstlichem Wege beigebracht wurden. Daß jemand fein und säuberlich und fachkundig - hoffentlich nicht zu fachkundig - einen Angriff durch einen Hai vorgetäuscht hat, Bein und Hand in Haimanier abgetrennt und Segmente eines Haikörpers dem Toten appliziert hat.«
»Und das viele Blut?«
»Viel? Ich würde sagen viel zu wenig. Wäre der Mann in diesem Bassin auf diese Weise getötet worden, hätten wir ihn aus einer roten Suppe ziehen müssen und nicht aus einem leicht verfärbten Wässerchen. Einer hellen Brühe. Nein, von viel Blut kann wirklich nicht die Rede sein. Eher davon, daß es sich so ziemlich ausgeblutet hatte, als man den Toten umquartierte. Trotzdem war die Leiche . nun, man kann sagen, sie war frisch.«
»Und das heißt?«
»Daß der Mann in derselben Nacht, wahrscheinlich sogar während der zweiten Nachthälfte zu Tode kam. Es muß alles sehr schnell gegangen sein, die Präparation in Richtung auf einen Haiangriff und die Beförderung an den neuen Ort. Zwischen zwei und vier in der Frühe, schätze ich.«
»Prämortale Verletzungen? Eigentlicher Todesgrund?«
»Schwer zu sagen. Am ehesten ist der Mann während seines Todeskampfes ertrunken. Jedenfalls deutet nichts darauf hin, daß er die längste Zeit tot oder zumindest betäubt gewesen war, als die vermeintliche Haiattacke erfolgte.«
»Ertrunken?«
»Vielleicht wurde er anfänglich untergetaucht und erstickt und erst daraufhin die Amputation und die Zufügung simulierter Bißverletzungen vorgenommen. Vielleicht geschah alles gleichzeitig. Nicht auszuschließen, daß der Täter auch den Todeskampf eins zu eins nachgestellt hat.«
»Wie denn? Etwa als Weißer Hai kostümiert?«
»So weit würde ich nicht gehen. Wenngleich im Bereich der Rollenspiele einiges denkbar ist.«
»Hinweise auf Sex?«
»Der Bereich des Anus ist unbeschadet, wenn es das ist, was Sie hören möchten. Auch sonst keine Verletzungen, die über das Wirken eines Hais hinausgehen würden. Keine veralteten Hämatome, keine Einstiche, die Genitalien unauffällig, die Mundhöhle unversehrt. Ich spreche von einer ersten Untersuchung. Wir werden da noch ins Detail gehen müssen. Ich glaube aber nicht, daß wir auf eine sexuelle Komponente stoßen werden. Beziehungsweise hoffe ich das. Ehrlich gesagt, nervt mich alles Sexuelle. Und vor allem das Sexuelle im Verbrechen.«
»Wir können uns das nicht aussuchen.«
»Man kann einiges übersehen, wenn man will«, erklärte Dr. Paul und schien diese Bemerkung durchaus ernst zu meinen. Tatsächlich war er der Ansicht, daß es besser wäre, so manches Verbrechen unter den Teppich zu kehren. Vieles mußte bestraft, vieles verhindert werden. Gar keine Frage. Aber nach seinem Dafürhalten hätte es höchster kriminalistischer Reife entsprochen, all das zu vertuschen, was im Zuge lückenloser Aufklärung voraussichtlich zu noch größerem Schaden führte. Manche Dinge heilten, indem man sie einfach unberührt ließ. Dies galt für eine ganze Reihe von Themen. Es wurde keineswegs zuviel, sondern - im Gegenteil - viel zu wenig vertuscht. Dabei von einer gläsernen Gesellschaft zu sprechen empfand Dr. Paul als ausgesprochen verharmlosend. Er selbst bevorzugte den Begriff einer nackten, einer entblößten Gesellschaft. Das Bedürfnis nach Aufklärung und Offenlegung hatte vielerorts einen Zustand der Schamlosigkeit erreicht. Die Nacktheit oder, noch schlimmer, die freie Sicht, die sich mittels gehobener Röcke und heruntergelassener Hosen ergab, galt sonderbarerweise als Indiz für eine gelebte Demokratie.
Und genau daran mußte Dr. Paul jetzt denken. Es war wie ein Anfall, der ihn schlagartig packte, als er jetzt, ohne wirklichen Anlaß, ausrief: »Eine schöne Demokratie ist das!«
»Nicht doch«, bat Lukastik, der Dr. Pauls plötzliche Ausbrüche zur Genüge kannte.
Aber der Arzt war in diesem Moment unerbittlich. Lautstark beschwerte er sich, es würden immer wieder die persönlichen Verfehlungen gewisser Politiker über deren politische Konzepte gestellt werden.
»Ich frage mich«, sagte Dr. Paul, »was nützt uns ein idiotischer Ehrenmann? Dann doch lieber ein Schweinepriester, der gute Ideen verbreitet. Man würde ja auch nicht auf die Idee kommen, die Qualität etwa eines Philosophen nach seinen Eßgewohnheiten, seiner Verdauung oder an seinem Drogenkonsum zu beurteilen. Nehmen Sie Wittgenstein. Ich habe vor kurzem gelesen, er und sein Freund David Pinsent hätten 1913 in...
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