Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1
Gibt es Perfektion in der Welt?
Am wahrscheinlichsten dort, wo Symbiosen stattfinden. Wo Lebewesen sich ergänzen, Algen und Pilze, Clownfische und Seeanemonen, Ameisen und Blattläuse, manchmal Hund und Mensch, eher selten Mann und Frau. Sehr wohl aber - und das ist in keiner Weise spaßig gemeint - die Verbindung zwischen einem Kneipenwirt und seinem Gast. Diese Paarung hat etwas von der scharfen Logik der Herr-Knecht-Beziehung, ist aber konfliktfreier, weil die Position des Beherrschten und des Beherrschenden, beziehungsweise das Vertauschen der Positionen, weniger stark wahrgenommen wird. Dazu kommt, daß im Falle von Herr und Knecht eine latente, ungemütliche Sexualität besteht. Niemals aber zwischen Wirt und Gast. Wenn denn Erotik, dann funktioniert sie nicht direkt, sondern nur mittels des Objekts, das die Verbindung besiegelt. Man könnte das gewagterweise eine unbefleckte Empfängnis nennen, nämlich das Glas Wein, das Glas Bier et cetera, das von einem zum anderen wandert.
Um es aber gleich von Anfang an klar auszusprechen, die »unbefleckte Empfängnis« soll hier nicht im Zentrum stehen. Das Thema ist vielmehr die Beziehung zwischen einem Wirt und seinem Gast, die perfekte Beziehung. Der Alkohol, der dabei ins Spiel kommt, ist weder Teufelszeug noch Medizin. Und selbst wenn er dem Körper des einen, des Gastes, Schaden zufügt, ist auch dies nicht der Punkt. Denn der Schaden wird durch so manches aufgehoben. Ja, der Alkohol, den der Wirt dem Gast serviert, nutzt dem einen wie dem anderen. Sonst wäre es ja auch keine Symbiose im strengen Sinn, also ein für beide Personen nützliches Zusammengehen.
Das Lokal, das den Namen POW! trug, befand sich im Vorbau eines zweistöckigen Hotels. Das Hotel hieß nach dem Ort, an dessen östlicher Einfahrt es lag, Hotel Hiltroff. Früher hatte das Restaurant ebenfalls diesen Namen geführt, war dann aber im Zuge einer Renovierung umbenannt worden. Beziehungsweise hatte es seine Funktion als Eßlokal eingebüßt und war zum reinen Trinklokal mutiert. Manche sagten dazu Bar, andere Kneipe, und es war wohl beides, je nachdem, wer das POW! betrat. Auch das ist so eine Wahrheit in der Welt, daß nämlich die Dinge die reinsten Chamäleons sind und sich vollkommen nach ihren Benutzern richten. Wenn der Benutzer ein Mensch mit Würde ist, wird ein jeder Gegenstand, dessen er sich bedient, diese Würde annehmen. In der Hand von Drecksäuen wiederum gewinnt alles und jedes eine drecksäuische Note. So einfach ist das.
Das POW! war nicht gerade eine Goldgrube. Es kamen wenige Leute aus der Ortschaft hierher. Zudem ging das Hotel schlecht, sodaß auch die Fremden fehlten. Obwohl es die durchaus gab. Trotz exponierter Lage des Ortes. Beziehungsweise genau darum. Hiltroff lag hoch oben in einer stark verkarsteten Gegend, in der es häufig regnete und sich ständig der Nebel verfing, ein hellgrauer Nebel, durch den die Lichtstrahlen wie Suchscheinwerfer fielen. Als sei eine fremde Intelligenz auf der Suche nach Leben. Um dann wieder einmal zu erklären, der betreffende Planet sei deprimierend ungastlich, selbst Mikroben dort undenkbar.
Oberhalb von Hiltroff, zwischen Hügeln aus rissigem Kalkstein, befand sich ein mittelgroßer Bergsee. Sein Wasser war schwarz. Niemand hatte je so schwarzes Wasser gesehen, obgleich dieses Schwarz nicht teerig wirkte, sondern die Durchsichtigkeit einer glasklaren Flüssigkeit besaß - komprimiertes Wasser, dicht gedrängt, ein geschrumpfter Ozean. Manche im Ort sagten dazu »intelligentes Wasser«, ohne das aber näher zu erklären. Andere wiederum fanden, daß sich in diesem See nicht der Himmel, sondern - durch den Nebel hindurch - das Weltall spiegele, ein im Prinzip leeres Weltall. Über die Tiefe dieses Gewässers, des Mariensees, gab es sehr widersprüchliche Angaben. Die letzten Tauchgänge lagen lange zurück. Es hieß, der See sei tot, wie es heißt, das Essen sei verbrannt. Und tatsächlich waren an den wenigen Stellen, die seicht genug waren, den Grund zu sehen, weder Pflanzen noch Fische zu erkennen. Aber es war ein schöner toter See, an dessen felsigem Ufer die Leute von außerhalb gerne saßen. Bei diesen Leuten von außerhalb handelte es sich zumeist um Teilnehmer an Symposien. Auf halbem Weg zwischen dem See und der Ortschaft war ein auf kurzen Stelen aufgesetzter, nach drei Seiten fensterloser Kubus errichtet worden, dessen Oberfläche aus schneeweiß glasierten Backsteinen bestand. Allerdings wirkte die weiße Fläche kunststoffartig, beinahe transparent, wie gewässerte Milch. Milch für Katzen und Igel, damit sie keinen Durchfall bekamen. So sah es aus. Aber wie gesagt, der Backstein war lückenlos. Nur die eine Seite, die in eine kleine Schlucht hinunterwies, an deren Rand der Kubus aufragte wie ein strammstehender Junge auf einem Sprungbrett, verfügte über eine durchgehende, getönte Glasfront, deren Farbe mit den Lichtverhältnissen wechselte, ganz in der Art einer modernen Sonnenbrille. Im Inneren waren drei Etagen untergebracht, die maximal fünfzig Leuten großzügig Raum boten. Es waren schon ausgesprochen elitäre Veranstaltungen, die hier stattfanden, keine von den Apothekerkongressen. Eher. Die Hiltroffer Bürger vermuteten Physikalisches, Experimentalphysikalisches, Mathematisches, also Religiöses. Allerdings wurde im Dorf selten wirklich bekannt, welche Themen im Kubus jeweils für ein Wochenende oder eine Woche behandelt wurden. Unter den Einheimischen sprach man vom Kubus immer nur als vom Götz, denn der Mann, der diese »Hütte für gescheite Leute« hatte errichten lassen, war ein Sohn des Ortes. Und sein Vorname war eben Götz. Er hatte lange Zeit im Ausland zugebracht, ohne daß darüber viel durchgedrungen wäre. Dann war er vierzigjährig zurückgekehrt, hatte das Haus seiner verstorbenen Eltern bezogen und alsbald den Kubus errichten lassen. Wie er zu einer Baugenehmigung an solch exponierter Stelle gekommen war, blieb ein Rätsel. Aber Rätsel waren nun mal ein fester Bestandteil der Ortsgeschichte. Und man kann ja sagen, einer jeden Ortsgeschichte. Um so kleiner ein Ort, um so größer seine Rätselanfälligkeit. In den Metropolen aber löst sich das Rätsel auf, es fehlt ihm die Basis, der Humus, es fehlt ihm die Lust.
Neben den Leuten, die im Götz einquartiert waren und dort einen hochintimen Meinungsaustausch pflegten, gab es natürlich auch die Gruppe diverser Naturfreunde, die nach Hiltroff kamen, teils einer endemischen Flechte wegen, teils um von hier aus Wanderungen über die von Trichtern und Höhlen durchlöcherte Karstlandschaft zu unternehmen. Die eigentliche Attraktion aber blieb der Mariensee, der auf Grund seiner Farbe auch als Schwarzsee, Schwarze Maria oder Mariaschwarz bezeichnet wurde. Seine Fläche hatte die Form zweier sich überschneidender Ellipsen in der Größe von Fußballfeldern. Aus der Höhe sah es nach Mengenlehre aus.
Im See zu schwimmen oder zu tauchen war verboten. Aus Gründen des Naturschutzes. Woran sich sogar die Dorfjugend hielt. Das Wasser erschien ihnen wohl zu schwarz. Es war ein See zum Anschauen, nicht zum Angreifen.
Leider - leider für das Hotel Hiltroff und das POW! - hatte der Mann, der den Namen Götz trug, auch das alte Rathaus gekauft und es in ein Hotel umbauen lassen. Ein komfortables Hotel mit einem kleinen, aber sehr edlen Restaurant, in welchem ein pensionierter Haubenkoch sein Alterswerk vollbrachte und noch so manchen Gourmet nach Hiltroff lockte. Hotel und Restaurant trugen den einheimischen Namen des örtlichen Sees: Mariaschwarz. Die Zimmer waren so gut wie immer ausgebucht, und um im Restaurant einen Tisch zu ergattern, mußte man lange vorbestellen oder mit dem Mann, der sich von allen nur mit »Herr Götz« ansprechen ließ, befreundet sein. Dabei trat Herr Götz nicht etwa wie ein Machtmensch auf. Zumindest nicht in der polternden oder arroganten Weise. Auch nicht geschleckt, wie man das sonst von Hotels kannte. Er gab sich nicht einmal volkstümlich. Nein, seine Haltung war eine sachliche. Er behandelte jedermann mit einer schlichten Freundlichkeit und schien in erster Linie Erfüllung darin zu finden, seinen Weinkeller zu pflegen. Es hieß, er sei in Berlin verheiratet. Was sich anhörte, als verdächtige man Herrn Götz einer bizarren Schweinerei. Welche man ihm aber gerne nachsah, weil er die mit Abstand höchsten Abgaben im Ort bezahlte.
Dem Erfolg von Hotel und Restaurant Mariaschwarz stand der Mißerfolg des Hotel Hiltroff und des POW! gegenüber, wobei niemals eine echte Konkurrenz bestanden hatte. Das Faktum von Erfolg und Mißerfolg wurde von beiden Seiten wie etwas Naturgegebenes hingenommen. Nicht, daß man miteinander verkehrte, aber keiner der Betreiber oder auch nur deren Mitarbeiter hatte sich je zu einem häßlichen oder abfälligen Wort gegen die andere Seite hinreißen lassen.
Das Hotel Hiltroff und seine Bar gehörten einem Ehepaar namens Grong, Job und Lisbeth Grong. Zwei ungemein beherrschte Leute. Daß sie über Emotionen verfügten, blieb der Phantasie ihrer Gesprächspartner überlassen. Auch ihr Alter war unklar, da sie nie ihre Geburtstage feierten. Zumindest nicht mit Freunden oder Bekannten. Sie gingen wohl beide auf die Siebzig zu, arbeitende Pensionäre, gut in Schuß, schlank, großgewachsen, jedoch nicht riesig. Sie lächelten zu keiner Zeit, waren aber zuvorkommende Menschen, wobei sie selten jemand die Hand reichten, sondern durch eine angedeutete Verbeugung oder ein Nicken und einen klar ausgesprochenen Gruß eine höfliche Distanz schufen. Einen warmen Block zwischen sich und die anderen stellten. Warm, aber massiv. Die Grongs vermieden Mißverständnisse. Wenn nötig, konnten sie auch deutlich werden. Deutlich und scharf. Doch der Schärfe fehlte das übliche Zittern. Fehlte die Nervosität, der Anschein von Bluthochdruck. Die...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.