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1 | Der Fisch im Bett
Vier Uhr am Morgen.
Dann, wenn man nicht mehr schlafen kann, aber zu müde für einen Tag ist, der ja noch gar nicht begonnen hat. Vier Uhr morgens, das klingt nach: Zum Abnehmen zu spät, zum Fettwerden zu früh. Oder wie wenn jemand sagt: Kinder, ich würde gerne auswandern, nur leider kann ich meine Schuhe nicht finden. Man könnte somit meinen, das sei eine schlechte Zeit. Gleichwohl ist es eine gute Zeit. In der sich nämlich über die Dinge nachdenken läßt, ohne bereits mit einem Fuß und einem Magen und einem Hirn im neuen Tag zu stehen. Oder noch im alten festzustecken. Es ist mitunter besser, seine Schuhe nicht zu finden und also nicht auszuwandern und sich statt dessen dem zu stellen, was ist.
Genau das tat Lorenz. Während er in seinem Bett wie ein kranker Schwertfisch dahintrieb, sagte er sich: »Ich habe das alles unendlich satt.«
Und wie er es satt hatte, sich sein Leben mit.nun, man muß es so häßlich sagen: sich sein Leben mit Ficken zu verdienen, allerdings mit einem fiktiven Ficken, auch wenn Lorenz dabei seinen faktischen Körper zum Einsatz brachte. Aber halt bloß im Film. Als Schauspieler seinen Körper und sein Geschlecht und seine Potenz zur Schau stellend. Lorenz gehörte folglich zu denen, die einen sexuellen Akt vorspiegelten und ihn gleichzeitig erhöhten. Und dabei eine vereinfachte Form von Leben präsentierten. Denn das war es ja eigentlich, was die Pornographie so attraktiv machte, gar nicht so sehr die Verbildlichung eines an sich intimen Vorgangs, sondern die unkomplizierten Rahmenbedingungen. - Worüber so gerne gelacht wird, wie da ein Mann an irgendeine Tür klopft, sich als Versicherungsmakler vorstellt, die Zentralheizung repariert, die Post überreicht, so was in der Art eben, um nur wenig später einer entblößten Frau die Seele aus dem Leib.und so weiter.
Die Aufgeklärten und Emanzipierten mögen diese Rasanz der Entwicklung als grotesk empfinden, das ist sie sicher auch, aber wieviel besser erscheint sie im Vergleich zum umständlichen Theater der Wirklichkeit. Denn das, was im realen Leben geschieht, ist ja kein respektvolles und charmantes Werben, kein elegantes Vorspiel, kein kommunikatives Schaulaufen, sondern ein lächerlicher Eiertanz. Ein Eiertanz, der zur Folge hat, daß, wenn dann endlich etwas Konkretes geschieht, die ganze Kraft bereits verpufft ist. Eigentlich auch die Lust. Der sexuelle Akt verkümmert zur bloßen Pflichterfüllung. Er geschieht nur darum noch, um besagten Eiertanz zu rechtfertigen: das neue Kleid, die teure Unterwäsche, den Restaurantbesuch, die ganze aufwendige Angeberei, die Lügen, die Fettabsaugung, die seit Wochen umsonst mitgeschleppten Präservative, den Sport, die Vitamine, nicht zuletzt die aus der Pornographie bezogenen Illusionen. Denn allein die Pornographie schafft es, uns solche Illusionen zu vermitteln, Illusionen vom gelungenen Sex. Die Psychologie hingegen läßt keinen Zweifel darüber, daß die Sache zum Scheitern verurteilt ist, daß der Zweck der Sexualität sicher nicht darin besteht, daß alle ihren Spaß haben. Ganz im Gegenteil. Der Sinn der »echten« Sexualität reflektiert die Verhältnisse der Welt, den irdischen Hang zum Gefälle, zum Nord-Süd, zum Groß-Klein, zum Gescheit-Blöd, Arm-Reich, Glücklich-Unglücklich, Giftig-Ungiftig.
Lorenz Mohn war gewissermaßen ein Märchenonkel der Sexualität, indem er in den Filmen, in denen er auftrat, nicht nur ungewöhnlich ausdauernd und erfolgreich agierte, sondern die Sache eben ohne die bekannten Umständlichkeiten einfädelte. Seine gespielte Ausdauer, seine gespielte Potenz ergaben sich folgerichtig aus der Schnelligkeit der Anbahnung - so blieb nämlich genug Zeit für das Wesentliche -, während im wirklichen Leben die erschöpfende Länge solcher Anbahnungen wie auch die ewige Diskutiererei darüber, wer was wie möchte, für den eigentlichen Akt kaum noch Zeit und Kraft lassen. Der Mensch ermattet in der Diskussion. Man kann also nicht immer sagen, daß die Erfindung der Sprache ein großes Glück darstellt. Es besteht ein deprimierendes Ungleichgewicht. Während etwa im Krieg zuwenig gesprochen wird, wird im Sex zuviel gesprochen.
Er war jetzt beinahe vierzig. Ein im Grunde hohes Alter für einen Pornodarsteller. Allerdings war er körperlich gesehen topfit. Das gehörte dazu. Seit Jahr und Tag praktizierte er ein gelenkschonendes Krafttraining, ging zum Joggen und Schwimmen, hüllte sich in Schlammpackungen, duschte kalt, ließ sich maniküren, achtete auf seine Zähne, mied fettige Speisen, betrachtete Alkohol mit Mißtrauen und erkannte den Wert der einen oder anderen Zigarette in ihrer appetitmindernden Wirkung. An ihm war kein einziges Fettpölsterchen, die Haut glatt, das dunkelbraune Haar voll, die Augen frei von Ringen. Natürlich werden viele sagen, daß es in Pornos nicht auf die Augen ankommt. Aber so einfach war das nicht. Lorenz sah sich als Ganzes, auch im Film.
Die Frauen, mit denen er zusammenarbeitete, mochten ihn. Es war Verlaß auf ihn. Er war pünktlich, nie ungewaschen, selten launisch. Und er war kein Besserwisser, der seinen Kolleginnen mit Uraltgeschichten auf die Nerven ging. Während ja so mancher in die Jahre gekommene Akteur meinte, daß vor zwanzig Jahren alles besser gewesen sei, als Pornos noch von echten Künstlern gedreht worden waren. Lorenz Mohn konnte auf einen solchen Schmonzes verzichten. Er blieb sachlich und ruhig und konzentrierte sich auf seine Arbeit, die lange nicht so vergnüglich war, wie Laien sich das vorstellen. Selbstverständlich wurde auch hier, wie bei jedem anderen Filmgenre, mit vielen Unterbrechungen gearbeitet, wurden Pausen eingelegt, Tränen gestillt, Sensibilitäten gepflegt, aber es ging nun mal nicht an, ewig herumzujammern. Vor allem die männlichen Darsteller waren aus naheliegenden Gründen gezwungen, bei der Sache zu bleiben und einen Zustand wenigstens körperlicher Erregung zu erreichen. Ganz gleich, wie gelangweilt die Frauen schienen oder wie deppisch sich das Drehteam aufführte. Von der Häßlichkeit der Kulissen ganz zu schweigen.
Daß ein Mann wie Lorenz in seinem bisherigen Leben genügend Sex gehabt hatte, versteht sich. Und dabei ist nicht nur sein Beruf gemeint, sondern auch sein Privatleben. Einerseits. Andererseits war es ihm verwehrt geblieben, eine Frau fürs Leben zu finden. Gerade das Faktum seiner filmischen Tätigkeit - und er ließ dies nie unerwähnt, denn Täuschungen waren ihm zuwider - schien viele Frauen, vor allem die bürgerlichen, in höchstem Maße anzuziehen. Offensichtlich stellten sie sich Lorenz als einen Sexmeister vor, einen Zauberer, einen Fingerkünstler, wenigstens einen Trickkünstler. Falsche Magie war immer noch besser als das, was diese Frauen gewohnt waren, nämlich gar keine Magie. In einer Welt des Mangels entstanden Luftschlösser.
Doch ganz gleich, ob selbige Frauen nun genau das erlebten, was sie sich von diesem Spezialisten erhofft hatten, oder auch nicht, sie wären nie und nimmer auf die Idee gekommen, mit einem solchen Mann zusammenleben zu wollen. Selbst dann nicht, wenn er bereit gewesen wäre, seine Profession gänzlich aufzugeben. Nicht zuletzt jene Damen, die ständig die Toleranz im Munde führten und vor lauter Aufgeschlossenheit sogar überlegten, ob sie nicht zur Abwechslung einen kleinen Neonazi adoptieren sollten, waren überaus kurz angebunden, wenn Lorenz sich nach einer ersten Nacht um ein Wiedersehen bemühte und dabei Dinge wie einen Theaterbesuch oder eine gemeinsame Bergwanderung ins Spiel brachte. Man wich ihm aus, als hätte er eine Krankheit, die immer erst beim zweiten Mal übertragen wird. (Auf die Idee werden die Viren auch noch kommen.) So lief das ab. Und die Möglichkeit, sich vielleicht mit einer seiner Filmpartnerinnen zu liieren, schloß Lorenz sowieso aus. Das wäre unsinnig gewesen. Seine Kolleginnen waren gefallene Prinzessinnen, die davon träumten, eines Tages in einem Ferrari aufzuwachen. Einem Ferrari, den sie dann selbst bezahlt hatten, aus so einer Art wachgeküßtem Prinzessinnenbankkonto.
Der Umstand, ohne echte Partnerin zu sein, hatte Lorenz über viele Jahre mit Wehmut erfüllt. Er empfand dies als eine Ungerechtigkeit. Als wollte man ihn dafür strafen, sich im Alter von zwanzig Jahren für das Pornogeschäft und gegen die Physik entschieden zu haben. Wobei er anfangs gemeint hatte, er könnte beides vereinen, sich zur Hauptsache seinem Studium widmen und ein wenig nebenher pornographieren. Doch er war mit seinem jungen, damals sehr viel weniger athletischen, sondern auf eine anmutige Weise magersüchtig wirkenden Körper gut angekommen bei den Produzenten (was das Publikum von seiner Erscheinung und seinen Leistungen hielt, blieb natürlich stets ein Geheimnis; er war ein Mann, er würde es nie zu einem Pornostar bringen, zumindest nicht in der heterosexuellen Sphäre, die zu verlassen er in keinem Moment bereit gewesen war). Er bekam mehr Aufträge, als er brauchte. Und nahm sie alle an. In Augenblicken leichter Berauschtheit kam es ihm vor, als könnte ihm die Pornographie helfen, die Welt zu begreifen. Und zwar sehr viel besser als die Physik. Das war ein Irrtum gewesen. Nun, vielleicht hätte es sich ebenso als Irrtum herausgestellt, auf die Physik zu setzen. Aber eines wäre ihm dank ihrer wohl eher gelungen, nämlich eine Partnerin fürs Leben zu finden, die üblichen Kinder zu zeugen und das übliche Haus in die Landschaft zu stellen. Statt dessen: ein kranker Schwertfisch, der um vier morgens durch sein Bett treibt und sich darüber klar wird, es endgültig satt zu haben.
»Ich werde aufhören«, sagte Lorenz. Und weil er das so vollkommen ernst meinte, konnte er sich zur Seite drehen und in einen Schlaf zurückfallen, der...
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