Schweitzer Fachinformationen
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Ihre Beine waren zu dick.
Jetzt, da die ständigen Auseinandersetzungen mit Barbara ein unerträgliches Ausmaß erreicht hatten, war er geradezu wütend ob ihrer dicken Beine. Die man sich freilich nicht dick vorzustellen hat. Dick sind Beine, wenn sie nicht exakt den Vorgaben der Bekleidungsindustrie entsprechen, während kein Mensch wirklich dicke Beine als dick bezeichnet, liegen doch wirklich dicke Beine außerhalb einer geordneten Sprachregelung; wirklich dicken Beinen glaubt man nur noch mit Verbalinjurien begegnen zu können, weshalb höfliche Menschen angesichts von wirklich dicken Beinen in eine Sprachlosigkeit zurücksinken, welche nichts ändert an der peinlichen Berührung, die der Anblick dicker Beine in ihren inhaftierten Hirnen auslöst.
Da nützte auch nichts, daß Barbara alles Erdenkliche unternahm, um ihre Beine, und nicht nur diese, dem anzunähern, was einen Menschen - entsprechend der allgemeinen Lesart - von einem Unglücksfall unterscheidet.
Nie hätte Ran gewagt, sich offen über ihre Beine zu mokieren, aber sie spürte seinen Ekel, der ihr nur zu vertraut war, spürte sie ihn doch gegen sich selbst. Natürlich bezog dieser Ekel seine ungeheure Intensität auch aus ganz anderen Problemen, etwa Barbaras ungeliebter Pflicht, ihre streitsüchtige Mutter zu pflegen, die dank einer angeblich todbringenden Krankheit noch kräftiger und anmaßender geworden war, oder Rans diversen Allergien, die ihm jede Nahrungsaufnahme zur Tortur machten. Es blieb unklar, gegen was er eigentlich allergisch war, so daß die Bedrohung sich ungehemmt aufblähen konnte.
»Findest du nicht auch, daß ich zu dicke Beine habe?« Und dabei sah sie ihn haßerfüllt an, weil sie ja die Antwort kannte und gleichzeitig wußte, daß er diese Antwort niemals wagen würde auszusprechen, was sie als jämmerliche Verlogenheit empfand, während ihr aber auch klar war, daß sie durchdrehen würde, wollte er die Möglichkeit einer solchen Antwort auch nur andeuten.
»Ach Schatz, hör doch auf. Deine Beine sind völlig in Ordnung.«
Und dabei vermied er es, ihre Beine anzusehen, die sie demonstrativ zur Schau stellte, wie ein zynischer Krüppel, der seinen entstellten Körper einem voyeuristischen Publikum entgegenstreckt, welches hinter angeblichem Gleichmut seine Abscheu verbirgt.
»Du hättest sehen sollen, wie mir der Klaghofer gestern auf die Beine gesehen hat, mit Augen, als hätte er die Basedowsche Krankheit. Ich hab' das Schwein richtig hören können, mit seinem blöden ts, ts: na, unsere hübsche Babsi, so ein schöner Arsch, und die Titten kriegen auch einen Preis, aber um Himmels willen, diese Oberschenkel, wie von einem russischen Gewichtheber.«
Ran lachte gekünstelt, ängstlich bemüht, die Sache als Altherrenfrivolität abzutun. »Aber Schatz, der Klagi ist doch ein alter Trottel. Wie kann dich so einer kümmern.«
»Interessant. Du gibst seiner Sichtweise also recht. Dich stört nur, daß er nicht verschämt wegschaut. Die alte Sau ist wenigstens ehrlich, während du dir denkst, Gott im Himmel, die Babsi hat ja Elefantiasis. Aber sagst natürlich kein Wort.«
»Du bist verrückt, völlig verrückt. Was willst du mir da anhängen? Elefantiasis - du bist Biologin und weißt nicht einmal, wie eine Elefantiasis aussieht.«
»Ich hab' nicht gesagt, daß ich Elefantiasis habe, sondern daß du es denkst.«
Natürlich war das nicht die Art Gespräch, die einen gemütlichen Abend einleitet.
Um dem hier angesprochenen Professor Klaghofer, einem wahrlich harmlosen Spezialisten für Parasitismus, zu seinem Recht zu verhelfen, sei erwähnt, daß er zwar tatsächlich Barbara angestiert hatte, aber hätte er um den Verdacht gewußt, etwas an ihr bemängelt zu haben, er wäre geradezu erschüttert gewesen. Schließlich empfand er die junge Frau als überaus anziehend, und da der Zeitgeist in seiner ungewöhnlich immunen Seele nur selten wütete, war ihm das Problem dicker Beine nicht vertraut (weshalb viele ihn für einen Idioten oder ein Genie hielten, was er beides nicht war).
Ran überlegte, ob er den Hörer abnehmen sollte. Für ihn war die Sache erledigt. Barbara und er konnten eben nicht miteinander. Da nützte es nichts, daß sie hin und wieder im Bett Spaß miteinander hatten (und nicht einmal das war sicher, denn Barbaras leidenschaftliches Getue schien ihm ziemlich dick aufgetragen, geradezu verzweifelt). Es gab wenig, worüber sie einer Meinung waren, und so gut wie nichts, worüber nicht ausufernde Diskussionen stattfanden, und der Reiz widersprüchlicher Positionen war bald der Frustration gewichen, die aus den täglichen ermüdenden Kleinkriegen resultierte.
Inzwischen fand er sie nicht einmal mehr attraktiv, bemerkte die kleinste Abweichung von jenen Mustern, die man den Konsumenten wie Gußbeton ins Bewußtsein spritzt. Ihre sogenannten dicken Beine, ihre Fettzellenparanoia, ihr Orangenhautdebakel war da nur der Höhepunkt (dabei keine Spur von Zellulitis, in Wirklichkeit hatte sie ausgesprochen schlanke Beine). Übrigens verfügte sie über ein ausgeprägtes emanzipatorisches Bewußtsein, welches zwar nützlich war, was den politischen und philosophischen Diskurs betraf (und tatsächlich war sie so gut darin, daß sich Männer in ihrer Gegenwart gerne in eine traditionelle Unsachlichkeit flüchteten), aber wenig hilfreich angesichts makelloser Designerbeine, Bilder, die aus Hochglanzmagazinen auf das Leben der Untermenschen spuckten oder wie Reißzwecken in den Hirnen beider Geschlechter steckenblieben.
Nach dem siebenten Läuten fluchte Ranulph Field und hob den Hörer ab. Sein »Ja« war böse und endgültig - okay, wenn sie es unbedingt wollte, dann würde er ihr sagen, daß sie tatsächlich dicke Beine habe oder vielleicht auch nur zu kurze, zumindest wenn sie flache Schuhe anhatte, egal, er würde zugeben, daß er es unerträglich fand, wenn sie ewig in ihrem Essen herumstocherte, sie, die unter keiner einzigen Allergie litt, so, als würden vom Herumstochern die Beine dünner.
Aber die Stimme in der Leitung war nicht die von Barbara.
»Herr Field?«
Sein zweites »Ja« kam leer und erschöpft. Wahrscheinlich würde er nie wieder den Mumm besitzen auszusprechen, wie sehr ihm der Anblick ihrer Beine Übelkeit verursachte (worum es geht, das ist die Zellulitis in unseren Köpfen).
»Hören Sie mich?« fragte die Stimme.
»Ja, ich höre Sie. Was ist denn los? Wer sind Sie überhaupt?«
Er vernahm ein Lachen, das ihn verrückt anmutete. Ran stöhnte.
»Okay, gute Frau, wie Sie auch heißen mögen. Hier ist nicht die Telefonseelsorge. Genug gelacht für heute.«
Was immer ihn davon abhielt aufzulegen, es hielt ihn ab.
»Also, was wollen Sie?« fragte Ran.
»Ich will sehen, wie Ihnen die Angst den Hintern hochkriecht.«
»Oho.« Ran fühlte sich gleich viel besser, geradezu belustigt. Das war wohl so eine Art obszöner Anruf. Auf jeden Fall eine Inszenierung. Und weil niemand da war, der linksliberale Devotion einforderte, erlaubte er sich das Vergnügen und markierte den harten Mann. »Unbefriedigt, Kleine, was? Kannst ja vorbeikommen. Ich werde dir zeigen, wo Gott wohnt.«
»Und ob ich vorbeikommen werde. Immer wieder. Aber es wird anders sein, als du dir jetzt denkst.«
Sie hatte aufgelegt. Ran war unzufrieden. Er war kaum dazugekommen, den Tiger aus seinem Herzen zu lassen. Erneut überlegte er, wie das wäre, Barbara anzurufen und nach all den Jahren seine Verachtung herauszubrüllen, diesen ganzen Dicke-Beine-Salat, der in der alten Marinade wie Seetang trieb. Aber natürlich würde er das am nächsten Tag schrecklich bereuen, denn ganz gleich, ob sie sich wieder versöhnten oder endgültig trennten, sie arbeiteten am selben Institut, und er würde sich ewig anhören müssen, was für ein primitiver Kerl er sei. Und jede verdammte Freundin Barbaras, jede sogenannte Freundin, würde ihn schneiden, nur um dieses unbedingte Solidaritätstheater aufrechtzuerhalten.
Nein, er mußte darauf warten, daß sie als erste ausfällig wurde. Es war wie das Spiel, bei dem der gewinnt, der dem anderen, ohne zu lachen, länger in die Augen sehen kann.
Bevor es dunkel wurde, ging er noch in einen nahegelegenen Park joggen (was ihm immer weniger Freude machte, dieses Den-eigenen-Körper-Spüren, denn was er da spürte, erinnerte ihn an faules Obst oder an diese Aufläufe, die in viel zuviel Sauce schwammen). Danach duschte er, schob eine halbe Pizza Richtung Verdauung und legte sich mit Zigaretten, Wein und Wertheimers Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegungen aufs Bett. Sein Kater Batman (eitel, selbstherrlich, dominant und unwiderstehlich wie alle Katzen) hatte sich zwischen seine Beine gerollt.
Ran war eingeschlafen. Gegen zwei in der Nacht schrak er auf.
Aus dem Nebenzimmer, in dessen fensterabgewandten Teil er durch eine offene Flügeltür sah, kam ein kurzes, metallisches Geräusch. Ran war kein ängstlicher Mensch, sondern Naturwissenschaftler und folglich um Sachlichkeit bemüht. Wahrscheinlich stand im Nebenzimmer die Balkontür offen. Und wie zur Beweisführung spürte er jetzt einen leichten Windzug, der bei dieser Sommerhitze allerdings wenig Erleichterung bot.
Er nahm wieder den Wertheimer zur Hand und zündete sich eine Zigarette an. Auch Batman war erwacht und starrte gebannt ins Nebenzimmer. Seine Augen folgten einer Bewegung, vielleicht der einer Fliege. Allerdings wäre er einer Fliege sofort nachgesprungen. Statt dessen ging er hinter Rans Unterschenkel in Deckung und fauchte, was Batman selten tat. Sein schwarzer Körper zuckte.
Ran, der über seinen Brillenrand und über den Buchrand auf Batman sah, hielt dessen Verhalten für eine Instinktbewegung, für ein Kampfspiel mit einem imaginären Gegner, den...
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