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Antonia war der Name auf ihrer Geburtsurkunde und der Name in ihrem Pass. Antonia Schreiber. Aber da war niemand, der sie mit der vollständigen Form ihres Vornamens angesprochen hätte. Von Anfang an hatte sich die Kurzform Tonia durchgesetzt. Und das war sicher ein guter Name, um durchs Leben zu marschieren. Oder zu segeln. Dieser Name hatte etwas von dem schnellen, kräftigen Wind, der unter ein Segelleinen fährt, es aufbläht und eine Bewegung verursacht.
Tonia wurde auf einem Schiff geboren, einer Segelyacht, die sich im Augenblick ihrer Geburt - an einem Februartag des Jahres 1974 - zwar auf dem Weg zu einem Hafen und dem dort auf festem Grund stehenden Krankenhaus befand, aber halt nur auf dem Weg. Denn als sie zur Welt kam, war die Küste noch weit entfernt und rundherum allein die pure, glatte See. Somit gehörte Tonia zu den wenigen Menschen, deren Geburtsort auf eine Stelle auf dem Meer verwies, einen Punkt im südlichen Pazifik, etwa auf Höhe der chilenischen Insel Chiloé, deren Hauptstadt Castro rechtzeitig anzulaufen der Plan gewesen war.
Obgleich also überpünktlich und obgleich allein ihr Vater als Geburtshelfer fungierte - mehr in der Art eines guten Zuhörers -, wurde es eine einfache Geburt, ähnlich glatt wie die See an diesem Tag. Die Körpergröße und das Gewicht des Kindes befanden sich in einem Bereich, den man den grünen nennt, wie der Vater feststellte, der ein Maßband ansetzte und das Neugeborene sorgsam auf die bordeigene kleine Waage legte.
Der Meeresabschnitt, wo dies geschah, war allgemein bekannt als Chilenische Schwelle, wobei Tonia bald anfing, von einem Rücken zu sprechen. Ja, anstatt auf die Frage nach ihrem Geburtsort die ungefähren Koordinaten zu nennen, erklärte sie gerne, oberhalb eines Meeresrückens das Licht der Welt erblickt zu haben. Was sie hingegen so gar nicht sagen konnte, war, von wo aus ihre Eltern eigentlich losgesegelt waren. Denn wenn man sich diesen Teil des Ozeans auf einer Landkarte ansah, zeigte sich eine ausgesprochen große Fläche von keinerlei Land gebremsten Wassers.
Was waren das für Leute, die nicht darauf achteten, dann an Land und in der Zivilisation zu sein, wenn ihr Kind zur Welt kam?
Die Antwort: zwei Botaniker.
Aber das taugt natürlich nicht als Erklärung, wie es vielleicht eine gewesen wäre, wären sie Meeresbiologen gewesen. Waren sie aber nicht, sondern mit Landpflanzen beschäftigt. Beide mit einem Abschluss der Universität Wien, er ein gebürtiger Berliner, sie aus Salzburg stammend, die unabhängig voneinander Ende der 1960er-Jahre in die österreichische Bundeshauptstadt gezogen waren. In eine Stadt, die damals zwischen Vergangenheit und Zukunft schwankte und sich darum für einen Moment tatsächlich in der Gegenwart aufhielt, weil man ja irgendwo stehen muss und das Schwanken allein noch nicht als Stehen gilt.
In diesem Moment ersatzweiser Gegenwärtigkeit hatten die zwei sich kennengelernt. Zwar an der Uni, jedoch nicht bei einer Vorlesung zur Pflanzenkunde, sondern bei der später in die Kunstgeschichte eingegangenen sogenannten Uni-Ferkelei. Jener Kunstaktion, bei der Protagonisten des Wiener Aktionismus unter dem Titel Kunst und Revolution versuchten, sich richtiggehend zum Berühmt- und Berüchtigtsein »hochzuscheißen«, indem sie auf der universitären Bühne ihre Notdurft verrichteten. Und so ziemlich alles taten, was anerkannterweise den Markenartikeln von Obszönität, Blasphemie und Nestbeschmutzung entsprach, optisch gesehen aber den Reiz einer Tortenschlacht besaß.
Tonias künftige Eltern waren beide von Freunden zu dieser Veranstaltung »mitgeschleppt« worden, um dann im allgemeinen Gedränge aneinanderzugeraten wie Tiere in einem Schwarm. Sie blieben einer am anderen hängen. Und vielleicht waren es wirklich ihre Augen, beziehungsweise ihre Blicke, die praktisch ineinanderfielen, als könnte man sagen, ein See »köpfelt« in den anderen.
Es war übrigens das erste und auch einzige Mal, dass die beiden in Bezug auf eine Sache absolut einer Meinung waren. Nämlich betreffs der Performance, die da vor ihren so rasch verliebten Augen stattfand. Weder fanden sie große Freude an der bürgerlichen Provokation noch an der bürgerlichen Erregung, sondern konstatierten eine gewisse Kindlichkeit der Avantgarde. Dieses Begehren nach Aufmerksamkeit. Dieser ungestüme Ruf nach Liebe.
Zudem waren sie in dieser Situation beide - und das sollte sich dann noch sehr ändern - vollkommen nüchtern. Alkoholfrei.
Vom ersten Moment an waren sich Tonias Eltern in einer großen Ausschließlichkeit verbunden. Ohne darum in reiner Liebe und reinem Frieden aufzugehen, wahrlich nicht, eher erwiesen sich die zwei als streitbare Geister, aber sie waren eben auch im Streit selig verknotet und schienen wenig Gefallen daran zu finden, mit anderen, fremden Leuten zu streiten. Sie studierten zusammen und hatten später den gleichen Doktorvater, welcher erklärte: »Ich habe noch nie zwei so unterschiedliche Arbeiten gelesen. Sie, Philippa, chaotisch, aber genial, macht aus einer Arbeit über Alpinpflanzen - scheinbar mit links, scheinbar Hokuspokus - eine Abhandlung über das Weltganze und das Versagen der Menschheit; er, Max, diszipliniert, präzise, makellos, liefert einen Text, picobello, den man, zu Pulver zerrieben, als Beruhigungsmittel verkaufen könnte. Mögen sie auf ergänzende Weise glücklich werden.«
Max wurde Millionär. Das Geld kam über Nacht. Fast so, dass Max den Eindruck gewann, es sei Geld aus einem Traum, einem Traum, aus dem er nicht wieder aufgewacht war. Aber nicht, weil der Traum so schön war, sondern so stur. Faktum war, dass Max ein Vermögen erbte, und zwar aus dem simplen Grund, eine Katze gerettet zu haben. Eine alte Katze, die ohnehin nicht mehr allzu lange zu leben gehabt hätte. Aber das konnte er nicht wissen, als das Tier von der obersten Etage eines sechsstöckigen Hauses in der Wiener Porzellangasse fiel.
Max wohnte um die Ecke. Zusammen mit Philippa in einer kleinen Wohnung, die mit Pflanzen vollgestopft war. Der reinste Dschungel, wo ständig etwas vom Grün starb, aber dann halt rasch durch lebendes Grün ersetzt wurde. Diese ganze Wohnung lebte. Ein Horrorkabinett eigentlich. Jedenfalls war Max soeben zur Straßenbahn unterwegs, als diese Katze von hoch oben aus dem Fenster fiel. Es handelte sich um einen fetten, alten, von Krebsgeschwüren geplagten Kater, der kurz zuvor auf einer Blumenkiste gehockt war und möglicherweise in einem Anfall von Wahnsinn versucht hatte, den letzten Vogel seines Lebens zu erwischen. Was auch immer, Max war in diesem Moment vorbeigekommen und hatte instinktiv nach oben gesehen. Das Schicksal bot ihm genau zwei Möglichkeiten an: schnell zur Seite zu treten, um nicht etwa von dem herabfallenden Objekt erschlagen zu werden, oder aber es aufzufangen. Ein Objekt, von dem Max bei aller Plötzlichkeit und Rasanz nicht hätte sagen können, ob es sich um ein Mauerstück, den Teil einer Regenrinne oder ein kleines Kind handelte. Oder um eine Katze.
Max schob seine Arme nach vorn und formte Hände und Unterarme zu einem Korb, in dem sich - entgegen der bekannten Zeitlupenaufnahmen, die man von geschickt fallenden Katzen kannte - der mit dem Rücken voran stürzende Kater verfing. Um sich erst dort, in diesem Korb, in der üblichen Katzenmanier um 180 Grad zu drehen und an der Brust seines Retters festzukrallen.
Es war Sommer, Max trug ein T-Shirt und konnte am gleichen Abend seiner jungen Ehefrau die von verkrustetem Blut markierten Kratzspuren zeigen, die der Kater hinterlassen hatte. Immerhin auch davon berichten, wie glückselig die Besitzerin des Tiers dank der Rettung gewesen war. Eines Tiers, das nur wenige Wochen später eingeschläfert werden musste. Und dem die alte Frau kurz darauf in den Tod folgte. Doch davon erfuhr Max erst, als er der Einladung eines Notars folgte, der den Letzten Willen der Verstorbenen umzusetzen hatte.
Dem Notar gegenüber erwähnte Max verwundert, der alten Dame ja nicht einmal seinen Namen genannt zu haben.
»Wollen Sie das Geld etwa nicht?«, fragte der Notar. Sichtlich unzufrieden mit der Erfüllung seiner Pflicht.
»Von welchem Geld sprechen Sie?«, fragte Max. Er war ja immerhin in der Wohnung der alten Frau gewesen und hatte nicht den geringsten Hinweis auf einen sonderlichen Reichtum festgestellt.
»Frau Schuch«, erklärte der Verwalter des Nachlasses, »hat ursprünglich bestimmt, ihr Vermögen hälftig der Österreichischen Volkspartei sowie dem Wiener Tierschutzverein zu vermachen. Doch nach dieser Episode mit ihrer Katze hat sie eine Testamentsänderung vornehmen lassen und - wenn ich mich so ausdrücken darf - die Partei hinausgeworfen und Sie hineingenommen.«
Max grinste und meinte: »Na, ich werde mir von dem Geld kaum ein Haus leisten können.«
Darauf der Notar: »Ich weiß ja nicht, an welche Art von Haus Sie denken, aber wenn Sie eine Villa in bester Lage meinen, oder eher zwei Villen, dann könnte es sich gut ausgehen.«
Und wirklich handelte es sich um etwas über zehn Millionen. Zehn Millionen Schillinge, wie damals die Währung hieß und was zu dieser Zeit eine Menge Geld darstellte. Ohne dass aber der Notar in irgendeiner Weise die Herkunft des Vermögens beschrieb. Immerhin musste er bestätigen, dass die Testamentsänderung in einer Situation erfolgt war, in der die Erblasserin sich bei klarem Verstand befunden habe. So ungewöhnlich der Wechsel von einer konservativen Volkspartei zu einem privaten Katzenretter auch sei, verstoße selbiger - juristisch gesehen - in keiner Weise gegen die...
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